BGE 121 IV 145
 
25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Juni 1995 i.S. S. G. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft und X. Versicherung (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 5 Abs. 1 StGB; Verbrechen oder Vergehen im Ausland gegen einen Schweizer; schweizerische Gerichtsbarkeit, Begriff des "Schweizers", Nicht-Auslieferung an das Ausland.
Die schweizerische Gerichtsbarkeit aufgrund des passiven Personalitätsprinzips ist grundsätzlich erst dann zu bejahen, wenn bei einer möglichen Auslieferung des sich in der Schweiz befindenden Täters der ausländische Tatortstaat auf Anfrage hin auf eine Strafverfolgung ausdrücklich oder konkludent verzichtet hat (E. 2b/bb). Ausnahmen (E. 2b/cc).
 
Sachverhalt


BGE 121 IV 145 (146):

A.- Am 14. April 1994 verurteilte das Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft die slowakische Staatsangehörige S. G. unter anderem wegen Gehilfenschaft zur Veruntreuung zu 12 Monaten Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von 2 Jahren. Es verpflichtete sie in solidarischer Verbindlichkeit mit ihrem Schweizer Ehemann, der X. Versicherung Fr. 160'000.-- zu bezahlen.
B.- Am 6. Dezember 1994 wies das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft die dagegen erhobene Appellation von S. G. und die Anschlussappellation der Staatsanwaltschaft ab.
C.- S. G. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben. Die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese: (a) die Beschwerdeführerin von der Anklage der Gehilfenschaft zur Veruntreuung freispreche bzw. feststelle, dass die schweizerische Gerichtsbarkeit für diese Tat nicht gegeben sei, und somit das Verfahren in diesem Punkt einstelle; (b) die Freiheitsstrafe wesentlich herabsetze; (c) die Adhäsionsklage der X. Versicherung, soweit sie die Beschwerdeführerin betrifft, abweise.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
Mit der Nichtigkeitsbeschwerde wird ausschliesslich geltend gemacht, es liege eine Auslandtat einer Ausländerin vor, wofür die schweizerische

BGE 121 IV 145 (147):

Gerichtsbarkeit nicht gegeben sei. Die Vorinstanz verletze Bundesrecht, wenn sie in Anwendung des passiven Personalitätsprinzips gemäss Art. 5 StGB die schweizerische Gerichtsbarkeit bejahe. Art. 5 StGB schütze nur Schweizer Bürger, nicht auch juristische Personen. Ausserdem habe diese Bestimmung subsidiäre Funktion; die mögliche Auslieferung ans Ausland gehe vor.
a) aa) Ob als Schweizer im Sinne von Art. 5 StGB auch juristische Personen angesehen werden können, ist im Schrifttum umstritten (bejahend: TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Art. 5 N. 4; HAFTER, Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 60; verneinend: SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, 1. Band, 4. Aufl., S. 110; HURTADO POZO, Droit pénal, Partie générale 1, S. 139 f. N. 243). In kantonalen Entscheiden wird die Frage bejaht (SJZ 52/1956, S. 362 [Appellationsgericht Basel-Stadt]; SJZ 62/1966, S. 272 f. [Obergericht Zürich]; JdT 1963 IV, S. 158 f. (Tribunal du district de Lausanne). Ebenso nahm der Kassationshof in dem nicht veröffentlichten Urteil vom 3. April 1986 in Sachen B. und Mitbeteiligte gegen U. AG, wo es um die Verletzung des Fabrikations- und Geschäftsgeheimnisses im Ausland zum Nachteil einer schweizerischen Aktiengesellschaft ging, an, der Schutz von Art. 5 StGB erstrecke sich auch auf schweizerische juristische Personen (E. 1b). In seiner publizierten Rechtsprechung hat das Bundesgericht dazu bisher nicht ausdrücklich Stellung genommen.
bb) Die Frage braucht heute nicht abschliessend beurteilt zu werden. Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist die Gleichstellung der juristischen Person mit dem Schweizer Bürger jedenfalls gerechtfertigt. Denn bei der Miete eines Autos wie hier ist es in der Regel reiner Zufall, ob der Vermieter als Einzelfirma oder als juristische Person organisiert ist. Es wäre sachlich unbegründet, in derartigen Fällen den Schutz von Art. 5 StGB nur der Einzelfirma zu gewähren. Die Vorinstanz hat deshalb kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die Autovermietung B. AG als Schweizer im Sinne von Art. 5 StGB betrachtet hat.


BGE 121 IV 145 (148):

b) Die schweizerische Gerichtsbarkeit gemäss Art. 5 StGB setzt voraus, dass sich der Täter in der Schweiz befindet und nicht an das Ausland ausgeliefert wird, oder dass er der Eidgenossenschaft wegen der Tat ausgeliefert wird. Die Beschwerdeführerin ist der Schweiz offensichtlich nicht ausgeliefert worden. Da sie sich in der Schweiz befindet, stellt sich die Frage, ob die Voraussetzung der Nicht-Auslieferung an das Ausland gegeben ist.
aa) Art. 5 StGB hat subsidiäre Funktion (BGE 108 IV 145 E. 3). Im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, die mögliche Auslieferung ans Ausland gehe vor, sei es, dass ein Auslieferungsvertrag sie gebietet, sei es, dass das Schweizer Recht sie erlaubt (SCHULTZ, a.a.O., S. 110; SCHULTZ, Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils [...] des Schweizerischen Strafgesetzbuches, 1987, S. 14; vgl. auch TRECHSEL, a.a.O., Art. 5 N. 3). Werde den schweizerischen Behörden eine Auslandtat im Sinne von Art. 5 StGB eines in der Schweiz befindlichen Ausländers bekanntgegeben, sei zuerst abzuklären, ob der Täter wegen dieser Tat an den Staat des Tatortes oder an seine Heimat ausgeliefert werden könne. Die schweizerische Strafverfolgung dürfe bis zum Urteil erst durchgeführt werden, wenn die Auslieferung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich sei, insbesondere kein ausländischer Staat ein Auslieferungsgesuch stelle (SCHULTZ, Das schweizerische Auslieferungsrecht, Basel 1953, S. 49 f.).
bb) Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Das Territorialitätsprinzip - d.h. die Anknüpfung der Gerichtsbarkeit an den Begehungsort - bildet die primäre Grundlage des internationalen Strafrechts (BGE 108 IV 145 E. 3). Auch das schweizerische Strafgesetzbuch geht in Art. 3 von diesem Prinzip aus. Es dient der Gerechtigkeit im Einzelfall und der Prozessökonomie in der Regel am besten, da die Beweisaufnahme am Tatort die zuverlässigsten Ergebnisse verspricht (HANS-HEINRICH JESCHECK, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl., S. 149). Das spricht dafür, bei der Verfolgung einer im Ausland gegen einen Schweizer verübten Tat dem Staat des Begehungsorts den Vorrang einzuräumen. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die Verfolgung einer solchen Tat in der Schweiz ohne vorherige Abklärung, ob der Tatortstaat um Auslieferung ersuche, unter dem Gesichtspunkt der völkerrechtlichen Souveränität problematisch sein kann. Zudem besteht beim Verzicht auf eine entsprechende Abklärung beim Tatortstaat für den Täter das Risiko, nach einer Verurteilung in der Schweiz im Ausland erneut in ein Strafverfahren verwickelt zu werden. Die schweizerische Gerichtsbarkeit

BGE 121 IV 145 (149):

gemäss Art. 5 StGB ist deshalb grundsätzlich erst dann zu bejahen, wenn bei einer möglichen Auslieferung der ausländische Tatortstaat auf Anfrage hin auf eine Strafverfolgung ausdrücklich oder konkludent verzichtet hat.
cc) Von einer Anfrage beim Tatortstaat kann jedoch ausnahmsweise abgesehen werden. Das gilt namentlich da, wo konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Täter im Ausland keiner gerechten Strafe zugeführt wird und damit die Interessen des Schweizer Opfers nicht geschützt werden. Eine Ausnahme vom genannten Grundsatz rechtfertigt sich auch im vorliegenden Fall. Denn ein Bezug der Tat zur Schweiz besteht hier nicht nur deshalb, weil das Opfer Schweizer ist. Sowohl die Tat als auch die Täterin stehen vielmehr in einer engen Beziehung zur Schweiz: Das veruntreute Fahrzeug wurde in der Schweiz bei einer schweizerischen Gesellschaft gemietet. Der Schaden ist in der Schweiz eingetreten. Die Beschwerdeführerin wohnt in der Schweiz. Sie ist mit dem Haupttäter, der Schweizer Bürger ist und deshalb nach Art. 6 Ziff. 1 StGB für die Veruntreuung des Fahrzeugs gleichzeitig mit ihr zur Rechenschaft gezogen wurde, verheiratet. Sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihr Ehemann haben den Sachverhalt im übrigen eingestanden. Weitere Abklärungen dazu, die allenfalls an Ort und Stelle besser hätten vorgenommen werden können, erübrigten sich. Unter diesen besonderen Umständen ist es im Ergebnis vertretbar, wenn die kantonalen Behörden die schweizerische Gerichtsbarkeit bejaht haben, obwohl nicht abgeklärt worden ist, ob der Tatortstaat um Auslieferung ersuche. Im übrigen ist dieses Ergebnis aus der Sicht des Völkerrechtes nicht zu beanstanden, da es keine allgemeine Regel des Völkerrechtes gibt, die es den Staaten verbieten würde, die eigene Strafgewalt auf Auslandtaten von Ausländern zum Schutze von inländischen Individualrechtsgütern auszudehnen (vgl. JESCHECK, a.a.O., S. 151 f. mit Hinweisen). Eine Bundesrechtsverletzung ist daher auch in diesem Punkt zu verneinen.