BGE 103 IV 107
 
31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Mai 1977 i.S. V. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
 
Regeste
Art. 26 Abs. 2 SVG, Art. 47 Abs. 5 VRV.
 
Sachverhalt


BGE 103 IV 107 (107):

A.- V. führte am Abend des 23. Januar 1976 gegen 19.30 Uhr, von Ennetbaden kommend, einen Personenwagen (NSU 1200) mit einer Geschwindigkeit von ca. 55 km/h auf

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der 7,5 m breiten, gerade verlaufenden und regennassen Hauptstrasse Richtung Obersiggenthal. Im Dorfteil Rieden stiess er mit einer 75jährigen Fussgängerin zusammen, welche die Strasse von links nach rechts überquerte und nach einem kurzen Halt in der Strassenmitte die rechte Fahrbahnhälfte erreicht hatte. Sie wurde weggeschleudert und erlitt tödliche Verletzungen.
B.- Das Obergericht des Kantons Aargau sprach V. am 17. Februar 1977 anstelle des Freispruchs des Bezirksgerichts Baden der fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von vierzehn Tagen.
C.- V. führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und seine Freisprechung, eventuell nur die Verurteilung zu einer Busse.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Der Beschwerdeführer bestreitet demgegenüber, Sorgfaltspflichten verletzt zu haben. Er habe nach dem Vertrauensgrundsatz annehmen dürfen, die Fussgängerin halte in der Strassenmitte an, um ihn als Vortrittsberechtigten vorbeifahren zu lassen. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Fussgängerin unrichtig verhalte, hätten keine bestanden. Auch habe nicht erkannt werden können, dass es sich bei der Verunfallten um eine alte und halbblinde Person gehandelt habe.
a) Die Fussgängerin überquerte die Fahrbahn unbestrittenermassen ausserhalb eines Fussgängerstreifens, so dass dem Beschwerdeführer das Vortrittsrecht zustand (Art. 47 Abs. 5 VRV). Pflichtwidrig unvorsichtig verhielt er sich darum

BGE 103 IV 107 (109):

nach der Rechtsprechung nur, wenn er trotz Anzeichen für eine Missachtung seines Vortrittsrechts entgegen Art. 26 Abs. 2 SVG nicht alles Zumutbare vorkehrte, um einen Unfall zu verhindern (BGE 97 IV 127 E. 4a).
Ein solches Anzeichen für verkehrswidriges Verhalten liegt nicht schon in der Tatsache, dass ein Fussgänger ausserhalb eines Fussgängerstreifens von links her die Strasse zu überschreiten beginnt. Es kommt häufig vor, dass Fussgänger die Strasse vorerst bis zur Mitte überqueren und dort anhalten, um abzuwarten, bis sie nach der Durchfahrt von Fahrzeugen den Weg gefahrlos fortsetzen können. Der Fahrzeugführer ist in solchen Fällen nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit herabzusetzen oder gar anzuhalten, wenn keine besonderen Anzeichen eines verkehrswidrigen Verhaltens zu erkennen sind (BGE 97 IV 127 E. 4a, BGE 94 IV 142 /143). Dass für den Beschwerdeführer erkennbar gewesen sei, bei der Fussgängerin handle es sich um eine alte und gebrechliche Frau, wird von der Vorinstanz nicht festgestellt. Es bestand daher unter diesem Gesichtspunkt kein Grund zu besonderer Vorsicht.
b) Aus den vorausgehenden Erwägungen folgt, dass in der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Unaufmerksamkeit nur dann eine schuldhafte Ursache des Todes der Fussgängerin gesehen werden könnte, wenn schon deren Verhalten vor dem kurzen Halt in der Strassenmitte darauf hätte schliessen lassen, sie werde dem Beschwerdeführer den Vortritt nicht gewähren. Dafür bietet das angefochtene Urteil keinerlei Anhaltspunkte. Es kann sich daher nur fragen, ob dem Beschwerdeführer vom Zeitpunkt an, in dem die Fussgängerin nach ihrem Halt sich zur Überquerung der rechten Strassenhälfte anschickte, eine Verletzung der Sorgfaltspflicht zur Last zu legen sei. Über diese zweite Phase des Geschehens enthält das angefochtene Urteil aber keine tatsächlichen Feststellungen. Insbesondere kann ihm nicht entnommen werden, ob der Beschwerdeführer den Beginn des verkehrswidrigen Verhaltens der Fussgängerin sofort oder verspätet wahrnahm, ob er darauf unverzüglich und zweckmässig reagierte oder nicht und ob er bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt den tödlichen Ausgang mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit hätte abwenden können (BGE 102 IV 100). Der angefochtene Entscheid ist somit gemäss Art. 277 BStP aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.


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c) Das Obergericht wird die Sache nach Abklärung der tatsächlichen Verhältnisse neu zu beurteilen haben, wobei auch zu prüfen ist, ob gestützt auf den ergänzten Sachverhalt eine Verurteilung des Beschwerdeführers wegen fahrlässiger Tötung nach kantonalem Verfahrensrecht überhaupt zulässig ist. Wäre dies nicht der Fall, müsste der Beschwerdeführer freigesprochen werden wie auch dann, wenn sich erweisen sollte, dass sich der Beschwerdeführer einer Verletzung der Sorgfaltspflicht nicht schuldig gemacht hat oder dass der eingetretene Erfolg auch bei sofortiger und zweckmässiger Reaktion des Beschwerdeführers nicht zu vermeiden gewesen wäre.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, soweit auf sie einzutreten ist, das Urteil des Obergerichts - 2. Strafkammer - des Kantons Aargau vom 17. Februar 1977 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.