BGE 101 IV 318
 
74. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. September 1975 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft.
 
Regeste
Art. 27 Abs. 1, 36 Abs. 2 SVG.
 
Sachverhalt


BGE 101 IV 318 (318):

A.- Am 29. Juni 1973 um 7 Uhr fuhr B. mit seinem Personenwagen auf der Habshagstrasse in Reinach Richtung Baselstrasse, um in diese nach links einzubiegen. Wegen starkem Verkehr auf der vortrittsberechtigten Baselstrasse musste er zunächst einige Minuten auf dem parallel zu dieser verlaufenden

BGE 101 IV 318 (319):

Tramgleis warten. Als die den Fussgängerstreifen über die Baselstrasse sichernde Signalanlage nach seiner Meinung auf Rotlicht geschaltet hatte, begann er mit dem Einbiegen, wobei er sich auf den von Reinach kommenden Verkehr konzentrierte. Dadurch übersah er den Personenwagen des J., der von Basel her an der Signalanlage vorbei über den Fussgängerstreifen Richtung Reinach fuhr. Die beiden Fahrzeuge stiessen zusammen.
B.- Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft verurteilte B. am 24. Juni 1975 wegen Verletzung von Art. 27 Abs. 1 und 36 Abs. 2 SVG zu einer Busse von Fr. 30.--.
C.- B. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Aus den Erwägungen:
a) Damit verkennt die Vorinstanz die Bedeutung des Vortrittsrechts und der Signalanlagen. Art. 36 Abs. 2 SVG enthält die allgemeinen Regeln über das Vortrittsrecht. Art. 27 Abs. 1 Satz 2 SVG bestimmt, dass Signale und Markierungen den allgemeinen Regeln vorgehen, polizeiliche Weisungen überhaupt den Vorrang geniessen.
Auf nicht anders bezeichneten Strassenverzweigungen hat das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt. Das Vortrittsrecht kann durch Signal Nr. 116 aufgehoben werden. Auch durch die Signalisierung als Hauptstrasse (307 und 308) kann die normale Vortrittsregelung geändert werden. Voraussetzung ist jedoch in jedem Fall, dass überhaupt eine Fahrberechtigung auf beiden Strassen besteht. Wird auf einer Verzweigung der Verkehr durch Lichtsignale oder Verkehrspolizei abwechslungsweise für die verschiedenen Fahrströme freigegeben, so spielt das Vortrittsrecht nicht. Vor einem Rotlicht muss auch der an sich Vortrittsberechtigte anhalten und warten. Wer aus einer vortrittsbelasteten Strasse in die Verzweigung

BGE 101 IV 318 (320):

einfährt, verletzt kein Vortrittsrecht, falls er dabei Fahrzeuge unbeachtet lässt, welche vor Rotlicht anhalten müssen. Dabei ist es belanglos, ob es sich um eine gewöhnliche Verzweigung handelt, ob Haupt- und Nebenstrasse zusammentreffen oder ob eine Strasse mit dem Signal Nr. 116 gekennzeichnet ist. Letzteres kommt in Städten nicht selten auch bei mit Lichtsignalanlagen versehenen Kreuzungen vor, bei denen die Anlage nachts oder ausserhalb von Stosszeiten ausgeschaltet oder auf gelbes Blinklicht geschaltet ist. Zu diesen Zeiten ist der Vortritt gemäss Signal Nr. 116 zu wahren; zeigt die Signalanlage Rot/Grün, so sind nur diese Signale massgebend.
Wie bereits in BGE 98 IV 286 angedeutet wurde, ist es rechtlich bedeutungslos, ob das Rotlicht Teil einer Lichtsignalanlage für eine Kreuzung ist oder lediglich dem Schutz von Fussgängern auf einem Fussgängerstreifen dient oder an Engpässen, bei Baustellen usw. das gefahrlose Kreuzen sichert. Daher kann gegenüber Fahrzeugen, die vor dem Rotlicht anhalten müssen, auch kein Vortrittsrecht missachtet werden. Öfters sind Verkehrslichter zum Schutz von Fussgängerstreifen errichtet worden, dienen jedoch gleichzeitig aus Nebenstrassen kommenden Strassenbenützern zum gefahrlosen Einbiegen. Sieht der an sich wartepflichtige Fahrer, dass die Hauptstrasse durch Rotlicht gesperrt ist, so braucht er nicht auch noch danach Ausschau zu halten, ob das Signal tatsächlich beachtet wird.
b) Falls, wie der Beschwerdeführer geltend macht, J. "sein Vortrittsrecht" unter Missachtung des Rotlichts ausübte, fehlt es somit von vornherein am Tatbestand der Verletzung des Vortritts durch den Beschwerdeführer.
Die Vorinstanz hat diese Frage weder geprüft noch beantwortet. Sie begnügt sich mit dem Hinweis, der Beschwerdeführer sei der Meinung gewesen, das Signal stehe auf Rot. Im übrigen verweist die Vorinstanz auf das Polizeigericht. Dieses hat in seinem Urteil ausgeführt, der Beschwerdeführer habe den Personenwagen J. übersehen, "welcher den ca. 25 m entfernten Fussgängerstreifen entweder am Ende der Gelblicht- oder zu Beginn der Rotlichtphase überfahren hatte". Tatsächlich sind die Strafuntersuchungsbehörden zum Ergebnis gelangt, J. habe das Rotlicht überfahren, was für die Kollision kausal gewesen sei. J. wurde deswegen mit Fr. 120.-- gebüsst und hat die Busse angenommen.


BGE 101 IV 318 (321):

Bei dieser Sachlage ist zu Gunsten des Angeklagten anzunehmen, J. sei bei Rot durchgefahren. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zum Freispruch des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.