BGE 90 IV 121
 
25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. Juni 1964 i. S. Glaser gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
 
Regeste
Auslieferungsrecht; Grundsatz der Spezialität. Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche; Notenaustausch betreffend Auslieferungsverfahren und Rechtshilfe in Verkehrsstrafsachen auf Grund des schweizerisch-deutschen Auslieferungsvertrages.
 
Sachverhalt


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A.- Das Strafamtsgericht Bern verurteilte Glaser am 2. März 1960 wegen wiederholten Betruges zu acht Monaten Gefängnis, abzüglich 119 Tage Untersuchungshaft; der Vollzug der Strafe wurde bei einer Probezeit von

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vier Jahren bedingt aufgeschoben. Während der Probezeit machte sich Glaser des Diebstahls, der Sachbeschädigung, des Hausfriedensbruchs, des fortgesetzten Betrugs und der Zechprellerei schuldig. Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte ihn daher am 17. November 1961 zu neun Monaten Gefängnis, getilgt durch die Untersuchungshaft.
Glaser begab sich in der Folge nach West-Berlin. Nachdem gegen ihn in Luzern erneut eine Strafuntersuchung wegen Betruges, Veruntreuung und Urkundenfälschung eröffnet worden war, ersuchte das Kriminalgericht des Kantons Luzern im Oktober 1962 die zuständigen deutschen Amtsstellen um Auslieferung Glasers. Durch Verfügung des Senators für Justiz von Berlin-Schöneberg vom 18. Dezember 1962 wurde dem Gesuch entsprochen, worauf Glaser am 17./23. April 1963 den Behörden des Kantons Luzern übergeben wurde.
B.- Wegen der am 17. November 1961 beurteilten strafbaren Handlungen beschloss das Obergericht des Kantons Bern am 13. Dezember 1963, den am 2. März 1960 vom Amtsgericht Bern gewährten bedingten Strafvollzug zu widerrufen. Der Begründung ist zu entnehmen: Beim Widerruf eines bedingten Strafvollzuges handle es sich weder um eine Verfolgungs- noch um eine Vollstreckungshandlung, sondern lediglich um die Aufhebung einer früher zugestandenen Rechtswohltat. Ein derartiger Entscheid bewirke die Vollstreckbarkeit der Strafe, nicht aber deren Vollzug. Das Widerrufsverfahren falle somit nicht unter die Handlungen, welche die zwischen Deutschland und der Schweiz gewechselte Note vom 6./23. März 1936 betreffend Auslieferungsverfahren und Rechtshilfe in Verkehrsstrafsachen erwwähne.
C.- Glaser führt gegen diesen Beschluss Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, vom Vollzug der Strafe abzusehen. Er macht geltend, seine Auslieferung durch den Senator für Justiz von Berlin-Schöneberg sei unzulässig. Nach dem Grundsatz der Spezialität seien die Behörden des Kantons Bern zudem nicht berechtigt, im Anschluss

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an die Auslieferung zugunsten der Luzerner Behörden ein Verfahren auf Widerruf des bedingten Strafaufschubes durchzuführen. Schliesslich bemängelt er das Strafverfahren in verschiedenen Punkten und fordert Schadenersatz wegen Freiheitsberaubung.
D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
2. a) Der Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche vom 24. Januar 1874 (BS 12 S. 85 ff.), der heute noch gilt (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil der Staatsrechtlichen Kammer vom 27. September 1950 i.S. Oskar Wolfbauer S. 6, 7), stellt den Grundsatz der Spezialität auf (Art. 4 Abs. 3). Dessen Tragweite wird im Notenaustausch vom 6./23. März 1936 betreffend Auslieferungsverfahren und Rechtshilfe in Verkehrsstrafsachen auf Grund des schweizerisch-deutschen Auslieferungsvertrages vom 24. Januar 1874 (BS 12 S. 92 f.) dahin umschrieben, dass der Ausgelieferte ohne Zustimmung des ersuchten Teils weder wegen einer vor der Auslieferung begangenen Tat, für welche die Auslieferung nicht bewilligt ist, zur Untersuchung gezogen, bestraft oder an einen dritten Staat weitergeliefert, noch aus einem sonstigen vor der Auslieferung eingetretenen Rechtsgrund in seiner persönlichen Freiheit beschränkt werden darf.


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Der Grundsatz der Spezialität bedeutet nicht, dass der ersuchende Staat von jeder Vorkehr absehen müsse, welche der Verfolgung oder Bestrafung wegen anderer als der von der Auslieferung erfassten Taten dient oder die Vollstreckung einer für solche ausgesprochenen Strafe bezweckt. Der ersuchende Staat soll in seinen Rechten nicht weiter beschränkt werden, als er es wäre, wenn keine Auslieferung stattgefunden hätte, der Verfolgte oder Verurteilte sich also noch ausser Landes befände. So kann der ersuchende Staat beispielsweise, wenn sein Prozessrecht dies zulässt, einen Ausgelieferten im Abwesenheitsverfahren verfolgen und aburteilen. Unzulässig sind hingegen Zwangsmassnahmen (wie Verhaftung, Vorführung, Abhörung als Angeschuldigter usw.), die nicht zur Anwendung kommen könnten, wenn der Verfolgte oder Verurteilte noch ausser Landes wäre (BGE 87 IV 61 /62). Die Frage, ob die Zustimmung des Ausgelieferten zu solchen Zwangsmassnahmen hieran etwas zu ändern vermöchte, kann im vorliegenden Fall offen bleiben.
b) Die Auslieferung Glasers durch den Senator für Justiz von Berlin-Schöneberg stützt sich auf den Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich vom 24. Januar 1874 und wurde den Behörden des Kantons Luzern zur Verfolgung wegen Betruges, Veruntreuung und Urkundenfälschung bewilligt. Die Auslieferungsbewilligung umfasste also nicht auch das Verfahren über den Widerruf des am 2. März 1960 bedingt gewährten Strafaufschubes. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern vom 13. Dezember 1963, durch welchen dieser bedingte Strafaufschub widerrufen wurde, verstösst daher gegen das im Auslieferungsverkehr mit Deutschland geltende Prinzip der Spezialität, sofern Glaser dadurch bestraft oder in seiner persönlichen Freiheit beschränkt wurde.
Durch den angefochtenen Entscheid wurde der frühere bedingte Strafaufschub widerrufen; das Obergericht hat darin also gegenüber dem ausgelieferten Beschwerdeführer

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keine Strafe ausgefällt. Es kann sich somit bloss noch fragen, ob der Beschwerdeführer durch den Entscheid oder das ihm vorausgegangene Verfahren im Sinne des Notenaustausches vom 6./23. März 1936 in Untersuchung gezogen oder sonstwie in seiner persönlichen Freiheit beschränkt wurde.
Im vorausgegangenen Verfahren wurde Glaser zur Verhandlung des Obergerichtes vorgeladen. Die Glaser am 13. November 1963 ins Zentralgefängnis Luzern zugestellte Vorladung war mit der Androhung verknüpft, dass der Beschwerdeführer, wenn er sich nicht durch einen Anwalt vertreten lasse oder einen schriftlichen Parteivortrag einreiche, persönlich zu erscheinen habe, ansonst die Appellation als dahingefallen erklärt würde. Der Vorinstanz war bekannt, dass Glaser wegen Geistesschwäche entmündigt war und sich wegen Mittellosigkeit keinen Anwalt leisten konnte. Glaser wurde sodann mit Transportbefehl von Luzern nach Bern gebracht und, nach dem Verfahrensprotokoll der Vorinstanz, als Angeschuldigter polizeilich vorgeführt. Damit wurden aber Vorkehren getroffen, welche die Anwesenheit Glasers in der Schweiz notwendigerweise voraussetzten, und prozessuale Zwangsmittel angewendet, die seine persönliche Freiheit beschränkten. Das Vorgehen der Vorinstanz verstiess unter diesen Umständen gegen das im deutschschweizerischen Notenwechsel vom 6./23. März 1936 aufgestellte Verbot, den Ausgelieferten zu einem von der Auslieferung nicht umfassten Verfahren zur Untersuchung zu ziehen, bzw. in seiner persönlichen Freiheit zu beschränken.