BGE 83 IV 39
 
9. Urteil des Kassationshofs vom 1. März 1957 i.S. Polizeirichteramt der Stadt Zürich gegen Reimund.
 
Regeste
Art.27 Abs. 1,25Abs. 1 MFG.
 
Sachverhalt


BGE 83 IV 39 (39):

A.- Am 19. Dezember 1955, 15 Uhr, stiess A. Reimund mit seinem Personenwagen auf der Kreuzung Seebahnstrasse/Kanzleistrasse in Zürich 4 mit dem von rechts aus der Kanzleistrasse kommenden Personenwagen des K. Roth zusammen. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt.
Der Polizeirichter der Stadt Zürich verfällte am 17. April 1956 Reimund wegen Nichtgewährung des Vortrittsrechts (Art. 27 MFG) in eine Busse von Fr. 20.-.
Der Gebüsste verlangte gerichtliche Beurteilung. Er anerkannte, Art. 27 Abs. 1 MFG objektiv verletzt zu haben, bestritt aber, dass ihn subjektiv ein Verschulden treffe.
B.- Der Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich sprach mit Urteil vom 3. Dezember 1956 Reimund von der ihm zur Last gelegten Übertretung frei mit der Begründung, der Verzeigte habe annehmen dürfen, die von rechts über eine Bahnüberführung einmündende Kanzleistrasse sei mindestens auf der ganzen Brückenlänge frei; denn die Brücke sei seitlich von einer 1.15 - 1.18 m hohen Mauer begrenzt, während der am Unfall beteiligte MG-Wagen nur 1.20 m hoch und mit einem beigefarbigen Stoffverdeck

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versehen gewesen sei, das sich von der grauen Brückenmauer schlecht abgehoben habe. Der von rechts kommende Wagen sei daher für Reimund vom Führersitz seines Hillman-Minx-Wagens aus kaum sichtbar gewesen. Es könne deshalb Reimund kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er unmittelbar vor der Einfahrt in die Kreuzung nicht nach rechts gegen die vermeintlich freie Brücke geschaut, sondern seine Aufmerksamkeit der linken Strassenseite zugewandt habe, wo an einem abgedeckten Kanalisationsschacht gearbeitet worden sei. Der Unfall sei auf das Zusammentreffen von unglücklichen Umständen zurückzuführen, für die Reimund nicht einzustehen habe.
C.- Gegen diesen Entscheid führt der Polizeirichter der Stadt Zürich Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des Reimund an die Vorinstanz zurückzuweisen, weil die vom Einzelrichter vertretene Auffassung Art. 27 Abs. 1 MFG verletze.
Reimund beantragt unter Hinweis auf die Erwägungen des angefochtenen Urteils, die Beschwerde sei abzuweisen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Streitig ist dagegen, ob Reimund zum Verschulden anzurechnen sei, dass er mit einer Geschwindigkeit in die Kreuzung eingefahren ist, die ihm bei den gegebenen Strassen- und Sichtverhältnissen nicht erlaubte, dem gleichzeitig von rechts kommenden, für ihn durch die Brückenmauer verdeckten Fahrzeug des Roth den Vortritt zu gewähren.
2. Art. 27 Abs. 1 MFG verpflichtet den Führer, bei Strassengabelungen und -kreuzungen die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges zu mässigen und einem gleichzeitig von

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rechts kommenden Motorfahrzeug den Vortritt zu lassen. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine Sondernorm zu der allgemeinen Vorschrift des Art. 25 Abs. 1 MFG, wonach der Führer die Geschwindigkeit den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anzupassen und überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu Unfällen bieten könnte, den Lauf zu mässigen oder nötigenfalls anzuhalten hat (BGE 73 IV 196,BGE 76 IV 259Erw. 4).
3. Durch seine Fahrweise hat Reimund schon die allgemeine, durch Art. 25 Abs. 1 MFG begründete Pflicht verletzt, die Geschwindigkeit den gegebenen Strassenverhältnissen anzupassen. Überdies hat er aber auch der besonderen Pflicht gemäss Art. 27 Abs. 1 MFG nicht genügt, die Geschwindigkeit so weit zu mässigen, dass er einem gleichzeitig von rechts kommenden Motorfahrzeug den Vortritt hätte gewähren können. Gestatten die Strassenverhältnisse es nicht, ein von rechts kommendes niedriges Fahrzeug frühzeitig zu erblicken, wie es hier bei der über eine Brücke mit hoher Mauerbrüstung einmündenden Strasse der Fall war, so hat der nicht Vortrittsberechtigte seine Geschwindigkeit so weit zu mässigen, dass er von dem Zeitpunkt an, in welchem er das andere Fahrzeug frühestens erblicken kann, noch rechtzeitig anzuhalten vermag. Das hat Reimund nicht getan, sondern er hat sich, als er beim Blick nach rechts kein Fahrzeug wahrnahm, kurzerhand darauf verlassen, es komme von dort auch kein Fahrzeug, das seiner geringen Höhe wegen von der Brückenmauer verdeckt sein könnte. Mit dieser Annahme trug er den heutigen Grössenverhältnissen vieler Personenwagen, namentlich von Sportwagen, nicht Rechnung. Diese Unterlassung gereicht ihm zum Verschulden. Der Motorfahrzeugführer hat heute jederzeit mit dem Auftauchen von Personenwagen mit einer Höhe von 1.20 m und weniger zu rechnen. Bei Sichthindernissen, die eine solche Höhe erreichen, wie hier die Brückenmauer, hat-er deshalb die Geschwindigkeit so weit herabzusetzen, dass er auch einem von rechts hinter einem solchen Sichthindernis

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auftauchenden niedrigen Fahrzeug noch den Vortritt gewähren kann.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich vom 3. Dezember 1956 wird aufgehoben und die Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners wegen Verletzung von Art. 27 Abs. 1 MFG an die Vorinstanz zurückgewiesen.