BGE 81 IV 220
 
49. Urteil des Kassationshofes vom 11. Juli 1955 i.S. Dolder gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
 
Regeste
Art. 61 Abs. 2 StGB ist auf die von einer Überweisungsbehörde gefassten Aufhebungsbeschlüsse nicht anwendbar.
 
Sachverhalt


BGE 81 IV 220 (220):

A.- Die Anklagekammer des Kantons Bern beschloss am 22. Mai 1955, das gegen Friedrich Dolder wegen Brandstiftung, eventuell fahrlässiger Verursachung eines Brandes, eingeleitete Strafverfahren aufzuheben, weil keine genügenden Belastungstatsachen vorlägen, die eine Überweisung

BGE 81 IV 220 (221):

an das urteilende Gericht zu rechtfertigen vermöchten. Sie sprach Dolder eine Entschädigung zu und auferlegte die Verfahrenskosten dem Staate. Das Begehren des Angeschuldigten um Veröffentlichung des Beschlusses wies sie im wesentlichen mit der Begründung ab, Art. 61 StGB gelte nur für Urteile, Aufhebungsbeschlüsse aber seien keine solchen, da sie sich nicht über den Bestand einer strafbaren Handlung aussprächen, sondern lediglich verfügten, das Verfahren solle nicht fortgesetzt werden.
B.- Dolder führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die Anklagekammer sei anzuweisen, den Aufhebungsbeschluss gemäss Art. 61 StGB in angemessener Weise veröffentlichen zu lassen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Art. 61 StGB betrifft die "Veröffentlichung des Urteils" (s. Randtitel); er bestimmt in Abs. 1, wann ein "Strafurteil", in Abs. 2, wann ein "freisprechendes Urteil" zu veröffentlichen ist. Voraussetzung zur Anwendung des einen wie des andern Absatzes ist somit, dass geurteilt, d.h. verbindlich darüber erkannt worden sei, ob der Angeschuldigte sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht habe oder nicht. Das "Strafurteil" bejaht diese Frage, das "freisprechende Urteil" verneint sie. Das ist der Sinn, den diese Worte im allgemeinen haben, und nichts weist darauf hin, dass der Gesetzgeber ihnen eine andere Bedeutung gegeben habe. Dahingestellt bleiben kann, ob Art. 61 Abs. 2 StGB nur anwendbar ist, wenn der Entscheid sich der Wendung, der Angeklagte werde "freigesprochen", ausdrücklich bedient, oder ob inhaltlich ein freisprechendes Urteil auch vorliegt, wenn die zur Verurteilung zuständige Behörde im Erkenntnisverfahren bestimmt, das Verfahren werde "eingestellt", es werde "aufgehoben" oder es werde ihm "keine weitere Folge gegeben" und dgl. Jedenfalls liegt ein freisprechendes Urteil dann nicht vor, wenn die Sache der Behörde, welche die Aufgabe des erkennenden Richters zu erfüllen

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hat, nicht vorgelegt, das Urteilsverfahren also nicht eingeleitet, sondern die Verfolgung durch eine andere Behörde vorzeitig abgebrochen wird, z.B. indem sie davon absieht, Anklage zu erheben, eine von einer anderen Behörde erhobene Anklage nicht zulässt, das Verfahren "einstellt" oder es "aufhebt".
Freilich mag der Angeschuldigte auch in diesen Fällen ein Interesse haben, dass der Entscheid der Öffentlichkeit bekannt werde. Das kann jedoch dem Bundesgesetzgeber nicht entgangen sein. Hätte er es berücksichtigen wollen, so hätte er die Veröffentlichung nicht auf "Strafurteile" und "freisprechende Urteile" beschränkt, sondern ausdrücklich auch auf Einstellungsbeschlüsse erstreckt, ein Begriff, der ihm aus Art. 268 BStP geläufig war. Von der Veröffentlichung abzusehen, wenn die Sache der zur Verurteilung zuständigen Behörde nicht unterbreitet, das Verfahren vielmehr vorzeitig abgebrochen wird, lässt sich sachlich durchaus rechtfertigen. Die Einstellung des Verfahrens durch die Überweisungsbehörde kommt materiell nicht immer einem vorweggenommenen Freispruch gleich; sie erfolgt nicht selten aus Gründen der Zweckmässigkeit, z.B. weil die verhältnismässig geringe Aussicht auf ein Strafurteil den Aufwand des Urteilsverfahrens nicht rechtfertigt. Nach einem Einstellungsbeschluss kann daher offen bleiben, ob der Angeschuldigte im Falle der Fortsetzung des Verfahrens verurteilt worden wäre. Den Beschluss unter der blossen Voraussetzung, dass das Interesse des Angeschuldigten seine Veröffentlichung gebiete, wie ein freisprechenden Urteil allgemein bekanntzumachen, drängt sich daher keineswegs auf. Das gilt auch dann, wenn das Verfahren nur unter ähnlichen Voraussetzungen wie nach einer Freisprechung zu Ungunsten des Angeschuldigten wieder aufgenommen werden darf. Dazu kommt, dass dieser, wenn ein Urteilsverfahren nicht stattfindet, schon durch die prozessualen Vorgänge in der Regel weniger belastet wird als nach einer Überweisung, die ihn nötigt, dem erkennenden Richter Rede und Antwort

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zu stehen. Auch materiell ist der Angeschuldigte gewöhnlich weniger belastet, wenn die Überweisung unterbleibt. Das Bedürfnis nach öffentlicher Entlastung ist daher im allgemeinen geringer als nach der Überweisung. Wenn der Beschwerdeführer geltend macht, diese führe nach bernischem Recht zur öffentlichen Verkündung des Urteils, wogegen ein Aufhebungsbeschluss in geheimer Sitzung gefasst und nur den Parteien mitgeteilt werde, weshalb hier die Veröffentlichung im Sinne des Art. 61 Abs. 2 StGB sich umsomehr aufdränge, verkennt er, dass die geheime Abwicklung des Verfahrens vor dem Untersuchungsrichter und der Überweisungsbehörde dem Angeschuldigten eine öffentliche Anprangerung erspart und damit auch das Bedürfnis nach Veröffentlichung des Aufhebungsbeschlusses mindert. Das Interesse des Verfolgten an der amtlichen Veröffentlichung eines nicht im Urteilsverfahren gefassten Aufhebungsbeschlusses ist je nach Ausgestaltung des Prozesses durch das kantonale Recht grundsätzlich so gering, dass sich die Auffassung durchaus vertreten lässt, dem Angeschuldigten sei genügend gedient, wenn nicht schon das Bundesrecht, sondern höchstens allenfalls das kantonale Prozessrecht sie gestattet. Hier dem kantonalen Recht Raum zu lassen, bestand umsomehr Anlass, als Art. 64 bis Abs. 2 BV und Art. 365 Abs. 1 StGB den Kantonen das gerichtliche Verfahren vorbehalten.
Damit ist zugleich gesagt, dass kein Anlass besteht, Art. 61 Abs. 2 StGB auf die von einer Überweisungsbehörde gefassten Aufhebungsbeschlüsse analog anzuwenden, wie der Beschwerdeführer subsidiär verlangt.
2. Wie die Anklagekammer in einem Entscheid vom 29. Februar 1952 i.S. Monnat, auf den sie sich in vorliegender Sache beruft, in verbindlicher Auslegung des bernischen Prozessrechtes ausgeführt hat, wird im Aufhebungsbeschluss nicht erkannt, der Angeschuldigte habe keine strafbare Handlung begangen, sondern lediglich verfügt, das Verfahren sei nicht fortzusetzen. Auch ist

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nicht bestritten, dass die Anklagekammer nicht urteilender Richter ist, sondern nur den Zwischenentscheid auf Überweisung an diesen (vgl. z.B. Art. 197 Abs. 3 bern. StrV) oder auf Aufhebung der Untersuchung zu fällen hat. Daher ist Art. 61 Abs. 2 StGB im vorliegenden Falle nicht anwendbar.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.