BGE 140 III 49
 
9. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB Thun (Beschwerde in Zivilsachen)
 
5A_702/2013 vom 10. Dezember 2013
 
Regeste
Art. 389, 391 Abs. 1, Art. 392 Ziff. 1, Art. 394 Abs. 1 i.V.m. Art. 395 ZGB; Maximen der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit im Erwachsenenschutzrecht.
 
Sachverhalt


BGE 140 III 49 (50):

A.
A.a Im Februar 2003 wurde für X. eine Beistandschaft auf eigenes Begehren nach aArt. 394 ZGB errichtet. Im Januar 2013 demissionierte Beistand C. Er beantragte der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Thun, die Beistandschaft an die Wohn- und Lebensgemeinschaft B. in D. zu übertragen, wo X. seit längerer Zeit lebt. X. und A., der Leiter der Wohn- und Lebensgemeinschaft B., beantragten, die Beistandschaft aufzuheben.
A.b Mit Entscheid vom 18. April 2013 hob die KESB Thun die Beistandschaft nach aArt. 394 ZGB auf und ordnete neu eine Vertretungsbeistandschaft mit Einkommens- und Vermögensverwaltung nach Art. 394 i.V.m. Art. 395 ZGB an. Soweit vor Bundesgericht noch relevant, übertrug sie dem Beistand die Aufgabe, X. "beim Erledigen der administrativen Angelegenheiten soweit nötig zu vertreten, insbesondere auch im Verkehr mit Behörden, Ämtern, Banken, Post, (Sozial-)Versicherungen, sonstigen Institutionen und Privatpersonen". Weiter wurde der Beistand damit betraut, X. "beim Erledigen der finanziellen Angelegenheiten zu vertreten, insbesondere sein Einkommen und Vermögen sorgfältig zu verwalten". C. wurde aus dem Amt entlassen. Als neuen Beistand setzte die KESB den Berufsbeistand E. ein.
B. Hierauf erhoben X. und A. Beschwerde beim Obergericht des Kantons Bern. Dieses hiess das Rechtsmittel teilweise gut, wies mit Bezug auf die streitigen Anordnungen (lit. A.b) aber ab (Entscheid vom 22. August 2013).
C.
C.a Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 20. September 2013 gelangt X. (Beschwerdeführer) an das Bundesgericht. Er verlangt, das Urteil des Obergerichts und den Kammerentscheid der KESB Thun aufzuheben und festzustellen, dass die Voraussetzungen für eine künftige Beistandschaft nicht gegeben sind. Eventualiter sei C. als Vertretungsbeistand nach Art. 394 ZGB zu bestellen, subeventualiter die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen.
C.b Mit Verfügung vom 4. Oktober 2013 hat das präsidierende Mitglied der II. zivilrechtlichen Abteilung der Beschwerde antragsgemäss aufschiebende Wirkung zuerkannt.


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C.c Die KESB Thun und das Obergericht haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. A. erklärte in seiner Stellungnahme, seiner Meinung nach könne der Beschwerdeführer selbst über seine privaten Angelegenheiten entscheiden und selbst bestimmen, in welchen Belangen und von wem er bei Bedarf Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Die Eingaben wurden dem Beschwerdeführer sowie der Vorinstanz und der KESB Thun zur Kenntnis gebracht.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt die angeordnete Beistandschaft auf.
(Zusammenfassung)
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 4
4.3.1 In Art. 389 ZGB unterstellt der Gesetzgeber alle behördlichen Massnahmen des Erwachsenenschutzes den beiden Maximen der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit. Subsidiarität (Art. 389 Abs. 1 ZGB) heisst, dass behördliche Massnahmen nur dann anzuordnen sind, wenn die Betreuung der hilfsbedürftigen Person auf andere Weise nicht angemessen sichergestellt ist (Botschaft vom 28. Juni 2006, zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht] BBl 2006 7042 Ziff. 2.2.1). Ist die gebotene Unterstützung der hilfsbedürftigen Person auf andere Art - durch die Familie, andere nahestehende Personen (vgl. dazu Urteil 5A_663/2013 vom 5. November 2013 E. 3) oder private oder öffentliche Dienste - schon gewährleistet, so ordnet die Erwachsenenschutzbehörde keine Massnahme an (Art. 389 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB). Kommt die Erwachsenenschutzbehörde demgegenüber zum Schluss, die vorhandene Unterstützung der hilfsbedürftigen Person sei nicht ausreichend oder von vornherein ungenügend, so muss ihre behördliche Massnahme verhältnismässig, das heisst erforderlich und geeignet sein (Art. 389 Abs. 2 ZGB). Die Erwachsenenschutzbehörde hat dabei nicht gesetzlich fest umschriebene, starre Massnahmen, sondern "Massnahmen nach

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Mass" zu treffen, das heisst solche, die den Bedürfnissen der betroffenen Person entsprechen (Art. 391 Abs. 1 ZGB). Es gilt der Grundsatz "Soviel staatliche Fürsorge wie nötig, so wenig staatlicher Eingriff wie möglich" (vgl. Botschaft, a.a.O., S. 7017 Ziff. 1.3.4. a.E.). Dies gilt auch für die Errichtung einer Vertretungsbeistandschaft nach Art. 394 Abs. 1 ZGB.
4.3.2 Unter dem Gesichtspunkt der Eignung scheint auch das Obergericht davon auszugehen, dass A. für die Vertretung des Beschwerdeführers in finanziellen Angelegenheiten grundsätzlich in Frage kommt. Einzig der behauptete Interessenkonflikt disqualifiziert ihn in den Augen der Vorinstanz für eine mögliche Unterstützung. Ein solcher Interessenkonflikt besteht aber nur insofern, als A. Präsident des Verwaltungsrates der G. AG ist, der die Liegenschaft der Wohn- und Lebensgemeinschaft B. gehört. Die Voraussetzung der Erforderlichkeit jedes erwachsenenschutzrechtlichen Eingriffs verlangt jedoch, dass sich der verfolgte Zweck - die Unterstützung der hilfsbedürftigen Person - nicht mit milderen behördlichen Massnahmen erreichen lässt. Allein unter diesem Aspekt ist nicht ersichtlich, weshalb dem Beschwerdeführer die nötige Unterstützung nur mittels einer Vertretungsbeistandschaft gemäss Art. 394 i.V.m. Art. 395 ZGB verschafft werden kann, welche die Erledigung sämtlicher finanziellen Angelegenheiten erfasst (s. Sachverhalt lit. A.a.). Ein Grund für einen derart schwerwiegenden erwachsenenschutzrechtlichen Eingriff kann unter Umständen dann vorliegen, wenn die betroffene Person über ein beträchtliches Vermögen verfügt und ohne fremde Unterstützung ernsthaft Gefahr liefe, ihre wirtschaftliche Situation in unhaltbarer Weise aufs Spiel zu setzen (vgl. Urteil 5A_836/2011 vom 5. Juni 2012 E. 2.2.2). Dass solcherlei Umstände auch im Falle des Beschwerdeführers vorlägen, lässt sich dem angefochtenen Entscheid aber gerade nicht entnehmen. Unter den gegebenen Umständen ist dem Schutzbedürfnis des Beschwerdeführers vollauf Genüge getan, wenn die KESB Thun die G. AG und die B. verpflichten würde, sie über bevorstehende Vertragsänderungen zu informieren, die für den Beschwerdeführer mit Preiserhöhungen für Kost und Logis verbunden sind. Die gesetzliche Grundlage für eine solche mildere Massnahme liefert Art. 392 Ziff. 1 ZGB: Erscheint die Errichtung einer Beistandschaft wegen des Umfangs der Aufgaben als offensichtlich unverhältnismässig, so kann die Erwachsenenschutzbehörde von sich aus das Erforderliche vorkehren, namentlich die Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft erteilen. Schliesslich lässt

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sich auf diese Weise auch dem beschriebenen Leitsatz Rechnung tragen, wonach die behördlichen Anordnungen nach Mass zu treffen sind (s. E. 4.3.1).
4.3.3 Das Gesagte wird bekräftigt durch das Institut des Vorsorgeauftrages, das der Gesetzgeber mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht geschaffen hat. Mit einem solchen Vorsorgeauftrag kann jede handlungsfähige Person eine andere natürliche oder eine juristische Person beauftragen, im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit die Personensorge oder die Vermögenssorge zu übernehmen oder sie im Rechtsverkehr zu vertreten (Art. 360 Abs. 1 ZGB). Diese Möglichkeit wirkt sich auch auf das oben erwähnte Subsidiaritätsprinzip aus: Eine behördliche Massnahme darf nur angeordnet werden, wenn bei Urteilsunfähigkeit der hilfsbedürftigen Person keine oder keine ausreichende eigene Vorsorge getroffen worden ist und die Massnahmen von Gesetzes wegen nicht genügen (Art. 389 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB). Könnte der Beschwerdeführer, dessen Handlungsfähigkeit zum heutigen Zeitpunkt von keiner Seite bestritten wird, A. aber als Vorsorgebeauftragten einsetzen, so muss es ihm auch möglich sein, dessen Hilfe als noch urteilsfähige Person in Anspruch zu nehmen. Das Gleiche gilt für die Unterstützung seitens der Wohn- und Lebensgemeinschaft B. Anders zu entscheiden hiesse, dem Selbstbestimmungsrecht für den Fall der Urteilsunfähigkeit eine grössere Bedeutung beizumessen als den Befugnissen einer (noch) urteilsfähigen Person. Das aber ist nicht der Sinn des Gesetzes.