BGE 132 III 315
 
38. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. K. gegen B. (Berufung)
 
5C.120/2005 vom 1. März 2006
 
Regeste
Art. 540 f. ZGB; Auswirkungen der Erbunwürdigkeit auf den eingesetzten Erben und seine Erbeinsetzung.
 
Sachverhalt


BGE 132 III 315 (316):

Am 9. Juli 1995 starb E. (im Folgenden: Erblasserin). In den letzten zwanzig bis dreissig Jahren ihres Lebens hatte die Erblasserin eine grosse Zahl von letztwilligen Verfügungen getroffen. Ihre gesetzlichen Erben - offenbar Nachkommen eines Bruders ihrer Mutter, eine Kusine bzw. deren Kinder - überging sie jeweilen vollständig. Gemäss einem Testament vom 31. August 1987 setzte die Erblasserin K. (fortan: Kläger) als Alleinerben ein. In einem Nachtrag zu diesem Testament bestätigte die Erblasserin am 10. März 1991 die Erbeinsetzung des Klägers. In einem eigenhändigen Testament vom 16. November 1992 oder 1993 setzte die Erblasserin B. (hiernach: Beklagter) als ihren Alleinerben und Willensvollstrecker ein mit der Anweisung, dem Kläger ein Vermächtnis auszurichten. Sie bestätigte mit Testament vom 2. Dezember 1993 die Einsetzung des Beklagten als Alleinerben und Willensvollstrecker, hingegen nicht das Vermächtnis zu Gunsten des Klägers. Schliesslich widerrief die Erblasserin in einem Schreiben an den Beklagten vom 25. Februar 1995 alle früheren Vollmachten und Verfügungen mit Ausnahme jener zu Gunsten des Beklagten.
Der Kläger focht die Einsetzung des Beklagten als Alleinerben und Willensvollstrecker der Erblasserin an und erhob - unter anderem - Klage mit den Begehren, die auf den 2. Dezember 1993 datierte letztwillige Verfügung ungültig zu erklären, eventualiter festzustellen, dass der Beklagte erbunwürdig und damit auch unfähig sei, Willensvollstrecker zu sein. In zweiter Instanz verneinte das von beiden Parteien angerufene Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die Ungültigkeit der letztwilligen Verfügung vom 2. Dezember 1993. Es hiess das Eventualklagebegehren gut und stellte fest, dass der

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Beklagte gegenüber der Erblasserin erbunwürdig und unfähig sei, das Amt des Willensvollstreckers auszuüben.
Der Kläger hat gegen die Abweisung seiner Ungültigkeitsklage Berufung eingelegt (5C.120/2005). Er beantragt, das Testament der Erblasserin mit Datum vom 2. Dezember 1993 für ungültig zu erklären. Der Beklagte schliesst auf Abweisung. Das Appellationsgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet unter Hinweis auf sein Urteil.
Mit Urteilen vom 6. Februar 2006 hat die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts die Rechtsmittel des Beklagten gegen die Feststellung seiner Erbunwürdigkeit und seiner Unfähigkeit, das Amt des Willensvollstreckers auszuüben, abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte (5P.161/2005 und BGE 132 III 305).
Das Bundesgericht heisst die Berufung des Klägers gut, soweit es darauf eintritt, und stellt fest, dass das Testament der am 9. Juli 1995 verstorbenen E. mit Datum vom 2. Dezember 1993 nichtig ist.
 
Aus den Erwägungen:
2.1 Wer den Erblasser - wie hier - durch Arglist daran verhindert hat, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten oder zu widerrufen (Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB), ist unwürdig, Erbe zu sein oder aus einer Verfügung von Todes wegen irgendetwas zu erwerben (Art. 540 Abs. 1 ZGB). Der Erbunwürdige wird weder gesetzlicher noch eingesetzter Erbe noch Vermächtnisnehmer (SCHWANDER, Basler Kommentar, 2003, N. 22 zu Art. 540 ZGB). Er ist überhaupt nicht Erbe, der Anfall an ihn hat nicht stattgefunden (ESCHER, Zürcher Kommentar, 1959, N. 2 zu Art. 540 ZGB). In Bezug auf den betreffenden Erblasser gilt der Erbunwürdige, als ob er gar nicht kraft Gesetzes berufen oder als ob ihm durch Verfügung von Todes wegen nichts zugewendet worden wäre. Es wird in Rücksicht auf den bestimmten Erbfall so gehalten, wie wenn er vorverstorben wäre. Er kann deshalb selbst aus Verfügungen von Todes wegen nichts erwerben, die zeitlich vor der zur Erbunwürdigkeit führenden

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Handlung mängelfrei errichtet wurden (TUOR/PICENONI, Berner Kommentar, 1964, N. 25 und N. 31 zu Art. 540/541 ZGB; vgl. auch STEINAUER, Le droit des successions, Bern 2006, N. 943 f. S. 458, mit Hinweisen).
Gemäss Art. 541 ZGB besteht die Erbunfähigkeit nur für den Erbunwürdigen selbst (Abs. 1), doch beerben seine Nachkommen den Erblasser, wie wenn er - der Erbunwürdige - vor dem Erblasser gestorben wäre (Abs. 2). Letzteres gilt freilich nur für die Nachkommen eines Erbunwürdigen, der gesetzlicher Erbe gewesen ist, da nur dessen Nachkommen das sog. Eintrittsrecht zusteht (vgl. Art. 457 Abs. 3 ZGB). Ist der Erbunwürdige hingegen - wie hier - eingesetzter Erbe, so gelangt sein Anteil an die nächsten gesetzlichen Erben des Erblassers, es sei denn, der Erblasser habe in seiner Verfügung von Todes wegen eine oder mehrere Personen bezeichnet, denen die Erbschaft für den Fall der Erbunwürdigkeit des eingesetzten Erben zufallen soll (SCHWANDER, a.a.O., N. 3 zu Art. 541 ZGB; TUOR/PICENONI, a.a.O., N. 33 zu Art. 540/541 ZGB und N. 2 zu Art. 542 ZGB). Eine solche Ersatzverfügung (Art. 487 ZGB) vorbehalten, treten - mit anderen Worten - an die Stelle des erbunwürdigen eingesetzten Erben die gesetzlichen Erben des Erblassers (ESCHER, a.a.O., N. 1 zu Art. 541 ZGB; STEINAUER, a.a.O., N. 944 S. 458 und N. 302 S. 182).
Die Wirkungen der Erbunwürdigkeit unterscheiden sich damit von den Folgen der Ungültigerklärung einer Verfügung von Todes wegen. Wird eine Verfügung von Todes wegen für ungültig erklärt, tritt nur dann die gesetzliche Erbfolge ein, wenn keine frühere gültige Verfügung von Todes wegen zur Geltung kommt (FORNI/PIATTI, Basler Kommentar, 2003, N. 29 zu Art. 519/520 ZGB; ESCHER, Zürcher Kommentar, 1959, N. 6, und TUOR, Berner Kommentar, 1952, N. 14, je zu Art. 519 ZGB). Dass im Falle der Erbunwürdigkeit frühere Verfügungen von Todes wegen nicht wieder aufleben sollen, wird damit erklärt, dass die Erbunwürdigkeit nicht die Gültigkeit der Verfügung von Todes wegen trifft, sondern bloss die Fähigkeit, Erbe zu sein und aus Verfügungen von Todes wegen zu erwerben (Art. 539 Abs. 1 ZGB). Die Verfügung von Todes wegen, mit der ein Erbunwürdiger als Alleinerbe eingesetzt wurde, bleibt als solche bestehen, obwohl die Erbeinsetzung gegenstandslos geworden ist und nie zur Ausführung gelangen kann. Das hat zur Folge, dass diese letztwillige Verfügung, die kraft gesetzlicher Vermutung an die Stelle einer früheren Verfügung getreten ist (Art. 511 Abs. 1 ZGB),

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deren Wiederaufleben solange entgegensteht, als sie nicht auf dem Wege der Ungültigkeitsklage beseitigt worden ist. In Kraft bleibt gleichsam der in der letztwilligen Verfügung zum Ausdruck gelangte Widerrufswillen gegenüber früheren letztwilligen Verfügungen (vgl. TUOR, a.a.O., N. 7 und N. 24 zu Art. 509-511 ZGB; ESCHER, a.a.O., N. 5 a.E. zu Art. 509 ZGB; MEYER, Das Wiederaufleben aufgehobener letztwilliger Verfügungen, Diss. Zürich 1972, S. 86, mit Hinweisen).
2.2 Die Unterscheidung zwischen den Wirkungen der Erbunwürdigkeit und den Folgen der Ungültigerklärung einer Verfügung von Todes wegen leuchtet ein und erscheint rechtstechnisch in sich geschlossen und unanfechtbar, vermag aber nicht zu überzeugen, wo die Erbunwürdigkeit bezweckt, "den erblasserischen Willen und Willensausdruck gegen jeden Angriff von aussen zu sichern" (BGE 132 III 305 E. 3.3 S. 310). Wenn ein Dritter den Erblasser durch Arglist, Zwang oder Drohung im Sinne von Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB dazu bringt, ihn als Alleinerben einzusetzen, oder daran verhindert, seine Einsetzung als Alleinerben zu widerrufen, und wenn die Erbunwürdigkeit des Dritten als eingesetzten Alleinerben gerichtlich festgestellt wird, dann ist offenkundig nicht bloss die Erbfähigkeit des Dritten betroffen, sondern auch die errichtete bzw. nicht widerrufene Verfügung selbst, weil sie eben gerade nicht dem Willen des Erblassers entspricht. In der Variante des Erwirkens einer Verfügung von Todes wegen durch Arglist, Zwang oder Drohung hilft die Ungültigkeitsklage wegen Willensmangels (Art. 519 Abs. 1 Ziff. 2 i.V.m. Art. 469 ZGB). In der Variante des Verhinderns am Widerruf aber dürfte es sich oftmals oder gar regelmässig so verhalten, dass die Ungültigkeitsklage nicht erfolgreich sein kann, weil die nicht widerrufene Verfügung von Todes wegen seinerzeit mängelfrei zustande gekommen ist, wie dies hier auch das Appellationsgericht angenommen hat.
In seinem Urteil über die Berufung des Beklagten (BGE 132 III 305) hat die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts den Erbunwürdigkeitsgrund gemäss Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB von der Enterbung (Art. 477 ZGB) einerseits und von der Ungültigkeitsklage wegen Willensmangels (Art. 519 Abs. 1 Ziff. 2 i.V.m. Art. 469 ZGB) andererseits abgegrenzt und dazu festgehalten, der wesentliche und entscheidende Hauptunterschied zwischen den Rechtsinstituten liege vorab darin, dass Erbunwürdigkeit von Gesetzes wegen eintrete und durch Behörden und Gerichte von Amtes wegen zu

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berücksichtigen sei. An der Erbunwürdigkeit bestehe insoweit ein allgemeines Interesse. Es sei deshalb nicht der Begriff der Arglist im Sinne von Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB eng auszulegen. Arglist könne auch hier im Bewirken oder Ausnützen einer schon vorhandenen falschen Vorstellung beim Erblasser bestehen. Zusätzlich müsse dieses Bewirken oder Ausnützen auf Grund sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls eine schwere Verfehlung gegen den Erblasser bedeuten, die nach dem Empfinden der Allgemeinheit als unerträglich erscheine und zu missbilligen sei (E. 3.3).
Die derart eng umschriebenen Voraussetzungen für die Annahme von Erbunwürdigkeit - schwere Verfehlung nach dem Empfinden der Allgemeinheit und Berücksichtigung von Amtes wegen im allgemeinen Interesse - lehnen sich an den Begriff der Nichtigkeit an. Die Nichtigkeit einer letztwilligen Verfügung wird von Amtes wegen und in jedem Verfahren, namentlich auch im Zusammenhang mit einer Ungültigkeitsklage beachtet. Qualifizierte inhaltliche Rechtswidrigkeiten und dementsprechend eigentliche Extremfälle der im Gesetz als Ungültigkeitsgründe erfassten Tatbestände begründen die Nichtigkeit letztwilliger Verfügungen (FORNI/PIATTI, a.a.O., N. 4 zu Art. 519/520 ZGB). Die Gegenüberstellung des Erbunwürdigkeitsgrundes im Sinne von Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB mit der Ungültigkeitsklage wegen Willensmangels gemäss Art. 519 Abs. 1 Ziff. 2 i.V.m. Art. 469 ZGB verdeutlicht, dass die Verfügung von Todes wegen zu Gunsten einer erbunwürdigen Person nichtig ist (RIEMER, Nichtige [unwirksame] Testamente und Erbverträge, Festschrift Keller, Zürich 1989, S. 245 ff., S. 252 lit. e; seither, z.B. WACHENDORF EICHENBERGER, Die Konversion ungültiger Verfügungen von Todes wegen, Diss. Basel 2002, S. 102).
2.3 Nach dem Gesagten erweist sich die testamentarische Einsetzung des Beklagten als Alleinerben und - die von seiner Erbwürdigkeit unstreitig abhängige (vgl. E. 6.5 des Urteils über die Berufung des Beklagten, BGE 132 III 305) Einsetzung - als Willensvollstrecker vom 2. Dezember 1993 als nichtig. Die Feststellung der Nichtigkeit hat hier dieselben Wirkungen wie die gerichtliche Ungültigerklärung. Das Testament vom 2. Dezember 1993 wird "ex tunc" unwirksam (RIEMER, a.a.O., S. 247), d.h. es wird so gehalten, wie wenn die Verfügung von Todes wegen gar nie bestanden hätte (STEINAUER, a.a.O., N. 776 S. 378). Mit der (deklaratorischen) Feststellung der Nichtigkeit wird dem Kläger weder weniger oder mehr noch anderes zuerkannt als mit der von ihm beantragten

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(rechtsgestaltenden) Ungültigerklärung (vgl. BGE 81 II 22 Nr. 4). Es erübrigt sich damit, auf die von ihm geltend gemachten Ungültigkeitsgründe einzugehen. Die Berufung ist deshalb gutzuheissen, das Urteil des Appellationsgerichts aufzuheben, soweit damit die Ungültigkeitsklage abgewiesen wird, und die entsprechende Feststellung zu treffen.