BGE 127 III 199
 
36. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 4. April 2001 i.S. Rolf Weber gegen Rolf Frick (Berufung)
 
Regeste
Vorleistungspflicht; Verpflichtung zur Leistung Zug um Zug (Art. 82 OR).
Unterscheidung zwischen "beständiger" und "nicht beständiger" Vorleistungspflicht (E. 3 und 4).
 
Sachverhalt


BGE 127 III 199 (199):

Mit Vertrag vom 13. September 1996 verkaufte Rolf Weber (Kläger) den Betrieb "IPK, Institut für Personalfragen und Kaderauslese, Rolf Weber" an Rolf Frick (Beklagter) zum Preis von Fr. 155'000.- und verpflichtete sich, seinen Namen im Zusammenhang mit der Einzelfirma im Handelsregister löschen zu lassen. Von dem in Raten zu zahlenden Kaufpreis leistete der Beklagte die erste Zahlung von Fr. 30'000.- vereinbarungsgemäss. Am 3. Juli 1997 erklärte er seinen Rücktritt vom Vertrag, da der Kläger die vertragsgemäss dem Handelsregisteramt abzugebende Erklärung nicht unterzeichnet habe. Dieser erhob Klage mit dem Antrag, den

BGE 127 III 199 (200):

Beklagten zur Zahlung von Fr. 125'000.- nebst Zins zu verpflichten. Das Bezirksgericht Zürich hiess die Klage gut, da der Beklagte nicht zum Rücktritt berechtigt gewesen sei. Das Obergericht des Kantons Zürich dagegen wies die Klage ab mit der Begründung, der Kläger sei vorleistungspflichtig, und der Beklagte habe sinngemäss die Einrede des nicht erfüllten Vertrages erhoben.
Das Bundesgericht heisst die Berufung des Klägers teilweise gut, und verpflichtet den Beklagten zur Leistung der fälligen Raten Zug um Zug.
 
Aus den Erwägungen:
3. a) Wer bei einem zweiseitigen Vertrag den anderen zur Erfüllung anhalten will, muss entweder bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, es sei denn, dass er nach dem Inhalt oder der Natur des Vertrages erst später zu erfüllen hat. Art. 82 OR gewährt dem Schuldner eine aufschiebende Einrede mit der Wirkung, dass er die geforderte Leistung bis zur Erbringung oder Anbietung der Gegenleistung zurückhalten darf. Der Gläubiger kann sich begnügen, auf vorbehaltlose Leistung zu klagen; es obliegt dem Schuldner, die Einrede zu erheben (BGE 123 III 16 E. 2b S. 19 mit Hinweisen). Ist die Einrede berechtigt, hat der Gläubiger also die Leistung weder erbracht noch angeboten, so schützt der Richter die Klage in dem Sinne, dass er den Schuldner zur Leistung Zug um Zug, d.h. zu einer aufschiebend bedingten Verpflichtung verurteilt. Der Anspruch des Gläubigers auf Leistung Zug um Zug ist bundesrechtlicher Natur. Der Kläger braucht die Verurteilung des Beklagten zur Leistung Zug um Zug nicht zu verlangen. Der Richter erlässt ein dahingehendes Urteil auf Einrede des Beklagten nach Art. 82 OR (BGE 111 II 463 E. 3 S. 466 f.; SCHRANER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl., Zürich 2000, N. 206 zu Art. 82 OR, je mit Hinweisen).
b) Ist der Kläger vorleistungspflichtig, muss sich der Beklagte nicht auf Art. 82 OR berufen. Es genügt, dass er auf diesen Umstand hinweist, weil er damit die Fälligkeit des Anspruchs bestreitet. In diesem Fall ist die Klage mangels Fälligkeit abzuweisen. Die Frage der Vorleistungspflicht hat der Richter von Amtes wegen, nicht erst auf Einrede hin zu prüfen (SCHRANER a.a.O., N. 97 und 114 zu Art. 82 OR; WEBER, Berner Kommentar, N. 150 zu Art. 82 OR mit Hinweisen). In Bezug auf die Vorleistungspflicht sind zwei Fälle zu unterscheiden:
aa) Der Kläger kann dergestalt vorleistungspflichtig sein, dass die Erbringung seiner Leistung eine Bedingung für den Eintritt der

BGE 127 III 199 (201):

Fälligkeit der Gegenleistung bildet. So verhält es sich etwa, wenn sich der Käufer zur Zahlung innert eines Monats nach Erhalt der Ware verpflichtet. Solange der Verkäufer nicht liefert, wird die Gegenleistung nicht fällig. Das Wesen dieser Art der Vorleistungspflicht liegt darin, dass zwischen Vor- und Gegenleistung eine Frist bestehen bleibt. Sie beginnt mit Erbringung der Vorleistung zu laufen. Die Gegenleistung wird erst mit Ablauf der Frist fällig. Eine derartige Vereinbarung gewährleistet, dass der Vorleistungsempfänger die Gegenleistung erst erbringen muss, nachdem er die erhaltene Vorleistung auch während einer gewissen Zeit nutzen konnte. Dies ist namentlich dann sinnvoll, wenn die Gegenleistung aus dem durch die Nutzung der Vorleistung erzielten Ertrag erbracht werden soll. In der neueren Literatur hat sich dafür der Begriff der "beständigen" Vorleistungspflicht eingebürgert (SCHRANER, a.a.O., N. 116 zu Art. 82 OR; LEU, Basler Kommentar, 2. Aufl., Basel 1996, N. 8 zu Art. 82 OR; WEBER, a.a.O., N. 147 zu Art. 82 OR; SIMMEN, Die Einrede des nicht erfüllten Vertrags [OR 82], Bern 1981, S. 59 Fn. 69).
bb) Die Parteien können sich aber auch auf unterschiedliche Fälligkeitstermine einigen, ohne dass die eine Leistung eine Bedingung für die Fälligkeit der anderen bildet, indem beispielsweise der Verkäufer am 1. Januar 2001 zu liefern, der Käufer am 1. Februar 2001 zu zahlen hat. Die Kaufpreiszahlung wird diesfalls fällig, unabhängig davon, ob der Verkäufer seine Leistung rechtzeitig erbringt. Ist die Leistung des Verkäufers bis zum 1. Februar 2000 noch nicht erfolgt, holt der Anspruch auf den Kaufpreis denjenigen auf Lieferung des Kaufgegenstandes ein, und es stehen sich zwei fällige Forderungen gegenüber (SCHRANER, a.a.O., N. 117 zu Art. 82 OR). Damit erlischt die Vorleistungspflicht des Verkäufers, und die beidseitigen Leistungen sind nach Art. 82 OR Zug um Zug zu erbringen (SCHRANER, a.a.O., N. 119 und 125 zu Art. 82 OR). Auch der Verkäufer kann nunmehr seine Leistung gestützt auf Art. 82 OR zurückhalten, sofern der Käufer seine Leistung nicht gehörig anbietet (SCHRANER, a.a.O., N. 117 zu Art. 82 OR; WEBER, a.a.O., N. 148 zu Art. 82 OR). Da die Pflicht zur Vorleistung durch Zeitablauf entfällt, spricht die ältere Lehre diesbezüglich überhaupt nicht von einer Vorleistungspflicht (vgl. VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des schweizerischen Obligationenrechts, 3. Aufl., Zürich 1974, Bd. 2, S. 65; SIMMEN, a.a.O., S. 59). In der Schweiz hat erst die neuere Lehre dafür den Begriff der "nicht beständigen" Vorleistungspflicht von der deutschen Doktrin übernommen

BGE 127 III 199 (202):

(SCHRANER, a.a.O., N. 117 zu Art. 82 OR; LEU, a.a.O., N. 8 zu Art. 82 OR; WEBER, a.a.O., N. 148 zu Art. 82 OR; SIMMEN, a.a.O., S. 59 Fn. 69).
cc) Ob die Pflicht zur Vorleistung beständig ist, bestimmt sich, wie die Frage nach dem Bestehen einer Vorleistungspflicht überhaupt, nach der von den Parteien getroffenen Vereinbarung, sofern das Gesetz keine zwingenden Bestimmungen enthält. Die Beständigkeit kann sich aber auch aus der Natur der Vereinbarung ergeben (vgl. SCHRANER, a.a.O., N. 105 und 110 zu Art. 82 OR).
dd) Trifft den Kläger eine beständige Vorleistungspflicht, ist seine Klage abzuweisen, solange er seine eigene Leistung nicht erbracht hat und die Frist, welche Vor- und Gegenleistung trennt, nicht abgelaufen ist. Der Beklagte braucht keine Einrede gemäss Art. 82 OR zu erheben, da seine Leistung noch nicht fällig ist. Ist die Vorleistungspflicht des Klägers dagegen unbeständig, beurteilt sich die Klage je nach Zeitpunkt unterschiedlich:
Vor Fälligkeit der Leistung des Beklagten ist die Klage abzuweisen. Das für die beständige Vorleistungspflicht Gesagte gilt analog.
Mit Fälligkeit der Gegenleistung darf keine Klageabweisung mehr erfolgen, da die Pflicht zur Vorleistung durch Zeitablauf erloschen ist. Will der Beklagte seine Leistung zurückhalten, muss er die Einrede des nicht erfüllten Vertrages erheben. Dem Kläger erwächst ein bundesrechtlicher Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Leistung Zug um Zug gegen Erbringung der Gegenleistung (BGE 111 II 463 E. 3 S. 466 f.; SCHRANER, a.a.O., N. 206 zu Art. 82 OR, je mit Hinweisen). Anders wäre nur zu entscheiden, sollte dem Beklagten die Verpflichtung zur Leistung Zug um Zug nicht zuzumuten sein, namentlich wenn die Einrede des nicht erfüllten Vertrages unbestritten bleibt (SCHRANER, a.a.O., N. 208 zu Art. 82 OR; WEBER, a.a.O., N. 226 zu Art 82 OR).
4. a) Das Obergericht ging implizit davon aus, die Parteien hätten eine unbeständige Vorleistungspflicht vereinbart. Andernfalls hätte sich die eingehende Erörterung der Frage, ob der Beklagte die Einrede nach Art. 82 OR erhoben hat oder nicht, erübrigt (siehe E. 3a und b hievor). Selbst unter der Annahme, die Parteien hätten sich bezüglich der Beständigkeit der Vorleistungspflicht tatsächlich nicht geeinigt, würde sich am Ergebnis nichts ändern, denn auch die Auslegung der Willenserklärungen nach dem Vertrauensprinzip, welche das Bundesgericht im Rahmen der Berufung frei prüft (BGE 126 III 25 E. 3c S. 29), lässt auf eine unbeständige Vorleistungspflicht schliessen. Das Obergericht hat festgestellt, bei

BGE 127 III 199 (203):

Vertragsschluss hätten die zur Löschung im Handelsregister notwendigen Papiere noch nicht unterzeichnet vorgelegen, obwohl die entsprechende Leistung des Klägers fällig war. Die Fälligkeitsdaten der geschuldeten Raten waren aber vertraglich fixiert, und der Beklagte hat nicht eingewendet, diese Fälligkeiten würden sich bezogen auf die Erbringung der Vorleistung verschieben. Der Kläger durfte daher in guten Treuen davon ausgehen, die Vorleistungspflicht sei unbeständig. Der Beklagte hat denn auch die erste Rate fristgerecht bezahlt, obwohl die Vorleistung in jenem Zeitpunkt noch ausstand. Diesbezüglich ist der Entscheid des Obergerichts nicht zu beanstanden.
b) Das Obergericht hat indes die bundesgerichtliche Rechtsprechung verkannt, wenn es die Klage zur Zeit abwies, statt von Amtes wegen im Rahmen der fälligen Raten auf Leistung Zug um Zug zu erkennen. Eine Verpflichtung zur Zahlung Zug um Zug wäre dem Beklagten durchaus zuzumuten, zumal der Kläger den Standpunkt einnahm, er habe seine Leistung gehörig angeboten, so dass die Einrede des nicht erfüllten Vertrages nicht unbestritten blieb (siehe oben E. 3b/dd am Ende). Überdies war es der Beklagte, der durch seine ungerechtfertigte Rücktrittserklärung dem Kläger zur Einleitung des Verfahrens Anlass gab. Insoweit hat das Obergericht Art. 82 OR verletzt und erweist sich die Berufung als begründet.