BGE 124 III 444
 
77. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. September 1998 i.S. Dreesmann-Gustafsson gegen Retail Holding AG in Liquidation (Berufung)
 
Regeste
Art. 54 Abs. 2 LugÜ; Anerkennung ausländischer Entscheidungen nach Übergangsrecht; Kontrolle der indirekten Zuständigkeit.
 
Sachverhalt


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Florentine und Reinardus Dreesmann-Gustafsson (Kläger) verkauften der Retail Holding AG mit Sitz in Glarus, nun in Liquidation (Beklagte), am 1. Dezember 1983 ihre insgesamt 6'218 Stammanteile der niederländischen Firma Vede B.V. zum Nennwert von je hfl. 1.-. Im Jahr 1985 klagten die Verkäufer vor dem Zivilgericht des Kantons Glarus, nachmals Kantonsgericht, auf Feststellung, dass der Kaufvertrag nicht zustande gekommen, eventuell wegen Willensmängeln dahingefallen sei. Ausserdem verlangten sie Rückabwicklung. Das Kantonsgericht wies die Klage am 6. Januar 1992 ab. Dagegen appellierten die Kläger beim Glarner Obergericht. In

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der Appellationsantwort vom 12. September 1996 erhob die Beklagte die Einrede der abgeurteilten Sache. Sie machte geltend, der Höchste Gerichtshof der Niederlande (Hoge Raad) habe eine identische Klage der Gegenseite am 6. September 1996 letztinstanzlich abgewiesen. Das Obergericht anerkannte das niederländische Urteil nach dem Lugano-Übereinkommen (LugÜ; SR 0.275.11), hiess die Einrede gut und trat auf die Appellation nicht ein.
Das Bundesgericht weist die von den Klägern dagegen erhobene Berufung ab, soweit es darauf eintritt,
 
aus folgenden Erwägungen:
a) Nach dem angefochtenen Urteil reichten die Kläger am 11. Juni 1985, also am Tag, an dem sie in Glarus das Vermittlungsbegehren stellten, auch in den Niederlanden Klage ein. Neben der Beklagten wurde ausserdem die Vede B.V. ins Recht gefasst. Die Kläger verlangten, den Kaufvertrag vom 1. Dezember 1983 wegen ungenügender Vertretung der Beklagten bei Vertragsschluss ungültig zu erklären. Ausserdem machten sie geltend, sie seien von den Verantwortlichen der Käuferin über die Absicht getäuscht worden, die Vede B.V. an der Börse kotieren zu lassen. Das Landgericht Amsterdam wies die Klage am 5. August 1987 vollumfänglich ab. Darauf erhoben die Kläger Berufung ans Oberlandesgericht Amsterdam, das ebenfalls zum Schluss kam, die Beklagte sei bei Vertragsschluss gehörig vertreten gewesen. Indessen verfügte es ein Beweisverfahren zur Frage der Täuschung. Am 6. April 1995 wies das Oberlandesgericht die Klage auch in diesem Punkt ab. In der Frage der Vertretung der Beklagten erachtete es sich an das Teilurteil vom 25. Mai 1989 gebunden und lehnte es ab, auf diesen Punkt zurückzukommen. Diese Betrachtungsweise wurde vom Hoge Raad bestätigt, bei dem die Kläger beide Urteile des Oberlandesgerichts anfochten. Die übrigen Begehren wies der Hoge Raad ab. Der daraufhin ausgestellten Rechtskraftsbescheinigung vom 27. September 1996 ist zu entnehmen, dass das Urteil vom 6. September 1996 von der höchsten nationalen Instanz gefällt wurde und demnach kein weiteres Rechtsmittel mehr eingelegt werden konnte. Ausserdem werden die Urteile des Oberlandesgerichts Amsterdam vom 25. Mai 1989 und 6. April 1995 für vollstreckbar erklärt.


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b) Nach Ansicht der Kläger hätte das Urteil des Hoge Raads nach den übergangsrechtlichen Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens nicht anerkannt werden dürfen, weil die Klage in der Schweiz vor jener in den Niederlanden rechtshängig gewesen sei.
c) Das Übereinkommen folgt dem Grundsatz der Nichtrückwirkung (Art. 54 Abs. 1 LugÜ; BGE 123 III 374 E. 1 S. 377; BGE 119 II 391 E. 2 S. 393). Dieser kennt im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung indessen eine Ausnahme. So hält Art. 54 Abs. 2 LugÜ fest:
"Entscheidungen, die nach dem Inkrafttreten dieses Übereinkommens
zwischen dem Ursprungsstaat und dem ersuchten Staat aufgrund einer vor
diesem Inkrafttreten erhobenen Klage ergangen sind, werden nach Massgabe
des Titels III anerkannt und zur Zwangsvollstreckung zugelassen,
vorausgesetzt, dass das Gericht aufgrund von Vorschriften zuständig war,
die mit den Zuständigkeitsvorschriften des Titels II oder eines Abkommens
übereinstimmen, das im Zeitpunkt der Klageerhebung zwischen dem
Ursprungsstaat und dem Staat, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird,
in Kraft war."
Zwischen den Parteien ist nicht streitig, dass die niederländischen Gerichte aufgrund von nationalen Verfahrensbestimmungen zuständig waren, die mit einem der in Art. 2 bis 18 LugÜ vorgesehenen Gerichtsstände übereinstimmen. Die Kläger sind jedoch der Auffassung, dass bei der Kontrolle der indirekten Zuständigkeit auch Art. 21 LugÜ zu berücksichtigen sei. Dieser Betrachtungsweise ist nicht zu folgen. Gemäss Art. 54 Abs. 2 LugÜ ist einzig zu prüfen, ob sich das Gericht, dessen Entscheidung anerkannt werden soll, auf einen Gerichtsstand des Lugano-Übereinkommen hätte berufen können, wenn dieses bei Klageeinleitung bereits in Kraft gewesen wäre. Dabei sind einzig jene Bestimmungen zu berücksichtigen, welche eine direkte Zuständigkeit festlegen. So soll vermieden werden, dass ein Entscheid nach dem vereinfachten Verfahren des Lugano-Übereinkommens anerkannt werden muss, der an einem verpönten, insbesondere exorbitanten Gerichtsstand (Art. 3 Abs. 2 LugÜ) erlassen wurde.
d) Art. 21 LugÜ begründet indessen selbst keine direkte Zuständigkeit. Die Bestimmung regelt vielmehr Zuständigkeitskonflikte, welche sich aus der Anwendung des Übereinkommens ergeben. Sie bestimmt für den Fall, dass bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht habe das Verfahren von Amtes wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit

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des zuerst angerufenen feststehe. Sobald das früher angerufene Gericht auf die Rechtssache eingetreten sei, habe sich das andere für unzuständig zu erklären. Die Bestimmung setzt demzufolge keinen Gerichtsstand, sondern weist den Richter an, wie er sich in einer bestimmten Situation zu verhalten hat. Art. 21 LugÜ gehört deshalb nicht zu den Zuständigkeitsvorschriften, welche übergangsrechtlich zu beachten sind, damit eine Entscheidung anerkannt werden kann, die nach dem Inkrafttreten des Übereinkommens ergangen ist, aber auf eine Klage zurückgeht, die noch vor diesem Zeitpunkt eingeleitet wurde.
e) Im Übrigen würde die Nichtbeachtung dieser Bestimmung selbst in Fällen, die nicht mehr dem Übergangsrecht unterliegen, nicht Grund bieten, die Anerkennung der entsprechenden Entscheidung in einem anderen Vertragsstaat zu verweigern (HÉLÈNE GAUDEMET-TALLON, Les Conventions de Bruxelles et de Lugano, Paris 1996, N. 368). Nach Art. 27 Ziff. 3 LugÜ darf dies nur geschehen, wenn eine solche Entscheidung mit einer anderen unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien im Staat ergangen ist, in dem die Anerkennung verlangt wird. Dabei ist nicht von Belang, welche der Klagen früher rechtshängig gewesen ist.
Die Kläger teilen diese Auffassung nicht. Sie vertreten den Standpunkt, die Vertragsstaaten hätten eine derartige Situation nicht bedacht, weshalb die Rechtsprechung durch Lückenfüllung einen neuen Anerkennungsverweigerungsgrund wegen früherer Rechtshängigkeit der Klage im Anerkennungsstaat schaffen müsse. Sie lassen indessen ausser Acht, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in ständiger Rechtsprechung den ausschliesslichen Charakter der Art. 27 und 28 des Brüsseler Übereinkommens (Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968; EuGVÜ) betont hat (Urteil vom 4. Februar 1988 i.S. Hoffmann gegen Krieg, Rs. 145/86, Slg. 1988, S. 662, Rz. 27; Urteil vom 11. Juni 1985 i.S. Debaecker gegen Bouwman, Rs. 49/84, Slg.1985, S. 1792, Rz. 11; Urteil vom 16. Juni 1981 i.S. Klops gegen Michel, Rs. 166/80, Slg. 1981, S. 1602, Rz. 7). Das Bundesgericht hat diese Betrachtungsweise bei der Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens zu beachten (BGE 124 III 188 E. 4b S. 191 f.; 123 III 414 E. 4 S. 420 f.). Eine richterliche Ergänzung der Anerkennungsverweigerungsgründe ist deshalb von vornherein auszuschliessen. Damit ist auch den übrigen Rügen der Boden entzogen, welche die Kläger in

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diesem Zusammenhang vorbringen. Im Ergebnis ist daher nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das Urteil des Hoge Raads vom 6. September 1996 nach dem Verfahren des Lugano-Übereinkommens anerkannte.