BGE 123 III 257
 
41. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. April 1997 i.S. G. gegen X. SA (Berufung)
 
Regeste
Schadenersatz infolge fristloser Auflösung des Arbeitsverhältnisses (Art. 337b Abs. 1 OR) oder infolge Vertragsverletzung (Art. 321e OR).
 
Sachverhalt


BGE 123 III 257 (257):

Seit Juni 1982 arbeitete G. als Geschäftsführer/Direktor im Coiffeursalon der X. SA in St. Gallen. Am 23. August 1995 kündigte er seine Anstellung auf den 30. September 1995. Mit gleichem Datum reichten sämtliche in der Filiale St. Gallen angestellten Coiffeusen - ausser die vier Lehrtöchter - und die Kassierin ihre Kündigungen ein. Daraufhin kündigte die X. SA mit Schreiben vom 29. August 1995 das Arbeitsverhältnis mit G. fristlos auf den 30. August 1995.
Am 1. Oktober 1995 eröffnete G. in unmittelbarer Nähe des Geschäftslokals seiner ehemaligen Arbeitgeberin einen eigenen Coiffeurladen. Hier arbeiten seit dem 1. Oktober 1995 sämtliche ehemaligen Angestellten der X. SA, die am 23. August 1995 gekündigt hatten.
In der Folge klagte G. auf Zahlung des Lohnes für den Monat September 1995, der Ferienentschädigung sowie einer infolge ungerechtfertigter fristloser Entlassung gerichtlich festzusetzenden Entschädigung von mindestens zwei Monatslöhnen. Die Beklagte anerkannte den geltend gemachten Feriengeldanspruch im Umfang von Fr. 4'363.60 abzüglich Sozialabgaben, beantragte im übrigen die Abweisung der Klage und verlangte widerklageweise Schadenersatz für die Umsatzeinbusse im Oktober 1995 von Fr. 19'990.--

BGE 123 III 257 (258):

nebst Zins. In zweiter Instanz wies das Kantonsgericht St. Gallen am 13. September 1996 die Forderung des Klägers auf Entschädigung infolge ungerechtfertigter fristloser Entlassung ab, sprach die Widerklage im Umfang von Fr. 10'789.15 gut, zog den anerkannten Feriengeldanspruch des Klägers von Fr. 4'363.60 zur Verrechnung heran und verpflichtete den Kläger schliesslich zur Zahlung von Fr. 6'425.55 nebst Zins von 5% seit dem 30. November 1995.
Der Kläger gelangt mit Berufung an das Bundesgericht und beantragt im wesentlichen die Zusprechung einer Entschädigung wegen ungerechtfertigter fristloser Entlassung nach richterlichem Ermessen, jedoch mindestens zwei Monatslöhne von je Fr. 4'500. --. Die Beklagte erhebt Anschlussberufung mit dem Antrag, der Kläger sei zur Zahlung von Fr. 14'614.15 nebst Zins zu verpflichten.
Das Bundesgericht weist die Berufung und Anschlussberufung ab
 
aus folgender Erwägung:
5. a) Liegt der wichtige Grund zur fristlosen Auflösung des Arbeitsverhältnisses im vertragswidrigen Verhalten einer Partei, so hat diese gemäss Art. 337b Abs. 1 OR - unter Berücksichtigung aller aus dem Arbeitsverhältnis entstandenen Forderungen - der anderen vollen Schadenersatz zu leisten. Die kündigende Partei hat grundsätzlich Anspruch auf das Erfüllungsinteresse bis zum nächstmöglichen ordentlichen Kündigungstermin (VISCHER, Der Arbeitsvertrag, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. VII/1, III, S. 182). Der Schaden setzt sich aus allen finanziellen Nachteilen zusammen, welche adäquat kausal aus der berechtigten fristlosen Auflösung entstehen (STREIFF/VON KAENEL, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl., 1992, N. 3 zu Art. 337b OR). Entscheidend sind die Nachteile, die aus der sofortigen Vertragsauflösung entstanden sind (BRUNNER/BÜHLER/WAEBER, Commentaire du contrat de travail, 2. Aufl., 1996, N. 1 zu Art. 337b OR). Art. 337b Abs. 1 OR betrifft aber nicht den Schaden, der auf jene Handlungen zurückzuführen ist, welche Anlass zur fristlosen Vertragsauflösung gegeben haben. War eine Vertragsverletzung Grund für die fristlose Entlassung des Arbeitnehmers, haftet dieser für den daraus resultierenden Schaden nach Art. 321e OR. Der Umstand, dass wegen der Vertragsverletzung eine fristlose Kündigung ausgesprochen worden ist, kann die Haftung für die Folgen dieser Vertragsverletzung weder verschärfen noch erleichtern. Für den Schaden nach Art. 321e OR haftet der Arbeitnehmer, wenn er ihn absichtlich oder fahrlässig verursacht

BGE 123 III 257 (259):

hat, wobei alle Umstände, insbesondere das Betriebsrisiko, die Entlöhnung des Arbeitnehmers und sowohl das Verschulden des Arbeitnehmers wie auch das Mitverschulden der Arbeitgeberin zu berücksichtigen sind (BGE 110 II 344 E. 6; TERCIER, Les contrats spéciaux, 2. Aufl., 1995, Rz. 2624; STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 22 ff. zu Art. 321e OR; REHBINDER, BERNER KOMMENTAR, N. 19 ff. zu Art. 321e OR). Bei der Haftung nach Art. 337b Abs. 1 OR sind diese Umstände nicht bzw. nicht im gleichen Mass zu berücksichtigen, denn es ist nach dem diesbezüglichen ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes voller Schadenersatz geschuldet. Hierzu kann auch entgangener Gewinn gehören (STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 4 zu Art. 337b OR; JÜRG BRÜHWILER, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Aufl., 1996, N. 3 zu Art. 337b OR; STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 7 zu Art. 337b OR). Als entgangener Gewinn kann aber nur jener gelten, der durch die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Haftenden ausgeblieben ist. Das führt zu einer doppelten Beschränkung des zu berücksichtigenden Schadens. Zum einen geht es nur um den bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist ohne Vertragsauflösung mutmasslich erzielten Gewinn; zum anderen kann mit der Berufung auf Art. 337b Abs. 1 OR nicht auch Ersatz dafür gefordert werden, was wegen der der fristlosen Kündigung vorausgegangenen Vertragsverletzung an Gewinn entgangen ist.
b) Im angefochtenen Urteil hat die Vorinstanz den Schaden errechnet, indem sie die Differenz zwischen dem durchschnittlichen monatlichen Umsatz in den Monaten bis zur fristlosen Entlassung des Klägers und dem Umsatz im Oktober 1995 - der auf den Weggang der abgeworbenen Mitarbeiterinnen folgende Monat - festgestellt und von diesem Betrag die Einsparung an Lohnkosten im Monat Oktober 1995 abgezogen hat. Den daraus resultierenden Betrag von Fr. 10'789.15 hat sie mit der unbestrittenen Forderung des Klägers aus Ferienabgeltung verrechnet und den Saldo von Fr. 6'425.55 der Beklagten zugesprochen.
Der Kläger sieht darin eine unzulässige Schadensberechnung. Dieser Schaden gehe auf die mit den Mitarbeiterinnen vereinbarte - bzw. gesamtarbeitsvertraglich festgelegte - Kündigungsfrist von zwei bzw. fünf Wochen zurück und sei nicht auf sein vorzeitiges Ausscheiden zurückzuführen. Sinngemäss macht er damit geltend, dieser Schaden sei nicht auf die vorzeitige Vertragsauflösung mit ihm, sondern auf die unbestrittenermassen rechtmässigen Kündigungen der Mitarbeiterinnen der Beklagten zurückzuführen;

BGE 123 III 257 (260):

die fristlose Entlassung sei somit nicht adäquat kausal für diesen Schaden. Die Beklagte macht in der Anschlussberufung geltend, die Vorinstanz sei von einem falschen Schadensbegriff ausgegangen.
c) Die Vorinstanz hat sich zur Festsetzung des Schadens auf Art. 337b OR gestützt. Sie hat der Beklagten aber nicht den durch die vorzeitige Vertragsauflösung mit dem Kläger entstandenen Schaden zugesprochen, sondern jenen, der die Folge der fristgerechten Kündigungen der übrigen Mitarbeiterinnen war. In tatsächlicher Hinsicht hat sie festgehalten, dass die Umsatzeinbusse im unmittelbar auf den Weggang des Klägers folgenden Monat unbedeutend war, während ein eigentlicher Einbruch erst stattgefunden habe, als die weiteren Mitarbeiterinnen ausgeschieden seien. Weiter hat sie ausgeführt, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Umsatzeinbruch des Monats Oktober 1995 im Weggang der erwähnten Mitarbeiterinnen begründet liege, die naturgemäss auch einen Teil der Kunden abziehen. Entgegen dieser Auffassung besteht die vom Kläger zu verantwortende Vertragsverletzung nicht im kollektiven Weggang der Mitarbeiterinnen, sondern im Zeitpunkt deren Ausscheidens. Dass der Weggang des Klägers zur Kündigung beinahe der gesamten Belegschaft geführt hat, ist nicht ihm anzulasten. Er ist nur dafür haftbar zu machen, dass er diese Kündigungen noch während seiner Tätigkeit bei der Beklagten gefördert hat. Zwischen der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsvertrages mit dem Kläger und dem von der Vorinstanz gestützt auf Art. 337b OR errechneten Schaden besteht somit kein adäquater Kausalzusammenhang. Insofern liegt eine Bundesrechtsverletzung vor.
d) Vorliegend ist weder dargetan noch nachgewiesen, dass der Beklagten durch die fristlose Kündigung des Klägers ein Schaden entstanden wäre. Die Beklagte behauptet vielmehr einen durch das vertragswidrige Verhalten des Klägers entstandenen Schaden. Insofern macht sie eine Haftung nach Art. 321e OR und nicht nach Art. 337b OR geltend. Entsprechend kann nur der durch die Abwerbung während des Arbeitsverhältnisses entstandene Schaden berücksichtigt werden. Es muss folglich ermittelt werden, welcher Schaden eingetreten ist, weil der Kläger die Mitarbeiterinnen noch während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses abgeworben hat. Es ist der tatsächliche Vermögensstand der Beklagten mit jenem zu vergleichen, den sie hätte, wenn die Mitarbeiterinnen vom Kläger erst nach Ablauf seiner Kündigungsfrist zur Vertragsauflösung verleitet worden wären. Eine gleichzeitige Kündigung der übrigen Angestellten der Beklagten hätte somit - geht man von der Zulässigkeit

BGE 123 III 257 (261):

der Kündigung des Klägers auf den 30. September 1995 aus - frühestens auf Ende Oktober 1995 erfolgen können. Der Umsatzrückgang für den Monat Oktober 1995 ist daher eine Folge der Abwerbung durch den Kläger während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses, der für diesen Schaden einzustehen hat. Dass die Vorinstanz den Ersatz für entgangenen Gewinn nach Art. 337b OR statt nach Art. 321e OR bemessen hat, ändert am Ergebnis nichts, zumal keine Umstände behauptet oder festgestellt sind, die nach Art. 321e OR für eine Reduktion der Haftung von Bedeutung sein könnten. Im übrigen hat die Vorinstanz den Schadensbegriff nicht verkannt und ihrer Berechnung keine bundesrechtswidrigen Kriterien zugrunde gelegt, wenn sie die Umsatzeinbusse im Vergleich zum Durchschnitt bzw. im Vergleich zum entsprechenden Monat im Vorjahr ermittelt und die Einsparungen bei den Personalkosten berücksichtigt hat. Diese Schadensermittlung gemäss Art. 42 Abs. 2 OR ist nicht bereits bundesrechtswidrig, weil auch andere Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, um die Gewinneinbusse zu schätzen. Inwiefern die Gewinneinbusse durch Fixkosten beeinflusst werde, wie die Beklagte geltend zu machen sucht, ist nicht ersichtlich. Ebensowenig ist im angefochtenen Urteil festgehalten, dass die Umsatzeinbusse nicht durch den kollektiven Weggang der Coiffeusen, sondern durch die Schnoddrigkeit des neuen Geschäftsführers verursacht worden sei, was der Kläger einzuwenden sucht. Nach dem Gesagten ist das angefochtene Urteil im Ergebnis nicht zu beanstanden.