BGE 120 III 71
 
23. Auszug aus dem Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 8. August 1994 i.S. H. (Rekurs)
 
Regeste
Art. 92 Ziff. 10 und 13 SchKG; Art. 93 SchKG; beschränkte Pfändbarkeit und Verarrestierbarkeit von Leistungen aus beruflicher Vorsorge nach Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses.
 
Sachverhalt


BGE 120 III 71 (71):

A.- Katharina H. hat am 10. März 1994 einen Arrestbefehl für eine Forderung von Fr. 12'636.-- nebst Zins gegen Franz H. erwirkt. Als Arrestgegenstand wurde die dem Schuldner zustehende, dessen Existenzminimum übersteigende Rente der Basellandschaftlichen Beamtenversicherungskasse bezeichnet.
B.- Am 15. März 1994 vollzog das Betreibungsamt Liestal diesen Arrestbefehl. In der Arresturkunde hielt es fest, dass der Arrest erfolglos sei, da es sich bei dem im Arrestbefehl aufgeführten Vermögenswert um eine gemäss Art. 92 Ziff. 10 SchKG unpfändbare Invalidenrente handle.
Eine gegen diese Verfügung von Katharina H. eingereichte Beschwerde wies die Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs des Kantons

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Basel-Landschaft mit Entscheid vom 12. Juli 1994 ab.
C.- Katharina H. gelangt mit Rekurs an das Bundesgericht und verlangt im wesentlichen, das Betreibungsamt sei anzuweisen, den Notbedarf des Schuldners festzustellen und den pfändbaren Teil seiner monatlichen Rente der Beamtenversicherung mit Arrest zu belegen.
Vernehmlassungen sind keine eingeholt worden.
 
Aus den Erwägungen:
a) Nach Art. 92 Ziff. 10 SchKG sind "die Pensionen und Kapitalbeträge, welche als Entschädigung für Körperverletzung oder Gesundheitsstörung dem Betroffenen oder, im Falle seines Todes, seiner Familie geschuldet werden oder ausbezahlt worden sind", unpfändbar. Gleiches gilt gemäss Art. 92 Ziff. 13 SchKG auch für "Ansprüche auf Vorsorgeleistungen gegen eine Personalvorsorgeeinrichtung vor Fälligkeit". Demgegenüber sind "Lohnguthaben, Gehälter und Diensteinkommen jeder Art", sowie "Alterspensionen" beschränkt pfändbar (Art. 93 SchKG). Vorliegend ist zu prüfen, ob die Leistungen, die von einer beruflichen Vorsorgeeinrichtung wegen Invalidität vor dem Rücktrittsalter ausgerichtet werden, gar nicht oder beschränkt pfändbar sind.
b) In älteren Entscheiden hat das Bundesgericht Art. 92 Ziff. 10 SchKG weit ausgelegt und darunter "alle Leistungen, die wegen Körperverletzung oder Gesundheitsstörung erfolgen, gleichgültig unter welchem Titel sie geschuldet sind oder erbracht wurden", verstanden (BGE 78 III 109 mit Hinweis auf BGE 36 I 748; und JAEGER N. 20 zu Art. 92 SchKG). Entsprechend wurden Leistungen aus einer Unfall-Invalidenversicherung, die als Personen- bzw. Summenversicherung unabhängig von der Höhe eines tatsächlichen Vermögensschadens auf Grund einer Teilinvalidität ausbezahlt worden waren, als gänzlich unpfändbar bezeichnet (BGE 55 III 28). Der Gesetzgeber habe von der Pfändbarkeit jede Leistung ausnehmen wollen, welche den Verlust ausgleichen soll, den ein Schuldner durch eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung auf dem Arbeitsmarkt erlitten habe (BGE 36 I 748). Soweit allerdings die Leistung bloss darin bestand, dass ein vom Schuldner

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als Vorsorge geäufnetes Sparguthaben wegen der Körperverletzung fällig wurde, war auch nach dieser Rechtsprechung die Pfändung möglich. Der Anspruch entstand nicht erst durch die Körperverletzung. Diese bewirkte nur die Fälligkeit eines festen und vorbestandenen Anspruchs (BGE 78 III 109).
c) Diesen Entscheiden liegt indessen eine Rechtslage zugrunde, die sich inzwischen verändert hat. Ursprünglich hatte Art. 92 SchKG nur 10 Ziffern. Die Ziffern 11 und 12, welche die Renten der eidgenössischen AHV und die Leistungen der Familienausgleichskassen als unpfändbar bezeichnen, wurden erst 1949 anlässlich einer mit der Überführung von Vollmachtenbeschlüssen in das ordentliche Recht stehenden Teilrevision des SchKG eingefügt. Damit wurde dem inzwischen erlassenen Gesetz über die eidgenössische AHV Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang wurde einer Kritik des Bundesgerichts folgend das Gesetz über die eidgenössische Versicherungskasse geändert und die Unpfändbarkeit der Leistungen der Versicherungskasse aufgehoben (BBl 1948 I 1231 f.). Im Gegensatz zu den Renten der eidgenössischen Altersvorsorge wollte man jene der weitergehenden beruflichen Vorsorge nicht vollständig der Pfändung entziehen.
Schliesslich wurde im Zusammenhang mit dem Erlass des Gesetzes über die berufliche Vorsorge (BVG; SR 831.40) Art. 92 Ziff. 13 in das SchKG eingefügt. Im Entwurf des Bundesrates hatte diese Bestimmung noch gelautet: "Ansprüche nach dem Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vor Fälligkeit". Der Nationalrat hat als Erstrat ohne Diskussion die Fassung beschlossen, die dann auch Gesetz geworden ist (Amtl.Bull. 1977 N 1359), ohne damit allerdings eine Einengung auf eine bestimmte Art von Leistungen aus BVG zu bezwecken.
d) In einem 1986 ergangenen Entscheid knüpfte das Bundesgericht trotz inzwischen veränderter Rechtslage an seine alte Rechtsprechung an und erklärte nur jenen Teil der wegen Invalidität vorzeitig ausgerichteten Rente einer beruflichen Vorsorgeeinrichtung als nach Art. 92 Ziff. 10 SchKG unpfändbar, welcher auf den Beiträgen des Arbeitgebers beruht, während die aus den Arbeitnehmerbeiträgen ersparte Rente als nach Art. 93 SchKG beschränkt pfändbar betrachtet wurde. Nach Erreichen des Rücktrittsalters sei jedoch die ganze Rente beschränkt pfändbar (Entscheid vom 22.07.1986, Rep 1988 121 295). In einem weiteren Urteil hat das Bundesgericht dieser Rechtsprechung folgend die nach Erreichen des

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65. Altersjahrs dem Schuldner aus der beruflichen Vorsorge ausbezahlte Rente trotz Invalidität als beschränkt pfändbar erklärt, ohne dabei entscheiden zu müssen, was für die vor diesem Alter ausgerichteten Leistungen gilt (BGE 118 III 16 ff.). In ihrem neusten diesbezüglich publizierten Urteil hat die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer für die Abgrenzung nun aber darauf abgestellt, ob die fragliche Leistung wegen Erwerbsausfalls ausgerichtet worden ist und damit ein Ersatzeinkommen darstelle oder nicht. Es gebe keinen Grund, die als Ersatzeinkommen ausgerichteten Renten gegenüber den in Art. 93 SchKG aufgeführten Einkünften zu bevorzugen, "mindestens solange diese Leistung nicht für die Folgen einer bleibenden Arbeitsunfähigkeit erfolgt" sei (BGE 119 III 17).
Im vorliegenden Fall handelt es sich nach den auch von der Rekurrentin nicht bestrittenen Feststellungen der Vorinstanz um eine Rente, die wegen Invalidität ausgerichtet wird. Nichts deutet darauf hin, dass die invaliditätsbedingte Arbeitsunfähigkeit nur vorübergehend wäre. Die in den bisherigen publizierten Urteilen offen gelassene Frage muss somit entschieden werden.
3. Art. 92 Ziff. 10 SchKG bezweckt, jene Beträge von der Pfändbarkeit auszunehmen, welche eine Einbusse in den Persönlichkeitsgütern ausgleichen sollen (PAUL MARVILLE, Exécution forcée, responsabilité patrimoniale et protection de la personnalité, Diss. Lausanne 1992, S. 256 f.). Die Persönlichkeit als solche haftet den Gläubigern nicht. Das soll auch für die Vermögenswerte gelten, die als Ersatz für eine Beeinträchtigung in der Persönlichkeit ausgerichtet werden. Soweit ursprünglich auch ein gewisser Sozialschutz mitgespielt haben mag, weil die Empfänger solcher Renten als besonders bedürftig angesehen worden sind, kommt diesem Gedanken im Zusammenhang mit Art. 92 Ziff. 10 SchKG heute kaum mehr grosse Bedeutung zu, da sich die Unpfändbarkeit der Renten aus der IV und der Unfallversicherung nun aus den entsprechenden Gesetzen ergibt (Art. 50 IVG [SR 831.20] in Verb. mit Art. 20 AHVG [SR 831.10] und Art. 50 UVG [832.20]). Die Leistungen, welche als Ersatzeinkommen an die Stelle des wegen der Gesundheitsstörung entfallenen Erwerbseinkommens treten, fallen demgemäss nicht unter Art. 92 Ziff. 10 SchKG (BGE 119 III 17). Sie sind beschränkt pfändbar (Art. 93 SchKG), wie dies auch vor der Gesundheitsstörung für das Erwerbseinkommen galt. Es kann somit nicht darauf ankommen, ob die Leistungen wegen einer vorübergehenden oder wegen einer bleibenden Arbeitsunfähigkeit ausgerichtet werden.


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4. Wie schon der Bundesrat in seiner Botschaft zur Revision des SchKG für das geltende Recht dargetan hat, sind die Leistungen aus beruflicher Vorsorge somit nach Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses (Art. 92 Ziff. 13 SchKG) beschränkt pfändbar, unabhängig davon, ob sie wegen Alters, Todes oder Invalidität ausgerichtet werden (BBl 1991 III 75). Dies hat das Bundesgericht kürzlich auch in einem nicht veröffentlichten Entscheid festgehalten (Urteil vom 24.11.1993 i.S. S.).
Da es sich bei der Rente des Schuldners unbestrittenermassen um eine solche der beruflichen Vorsorge handelt, ist sie beschränkt pfändbar. Der Rekurs erweist sich als begründet, der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und das Betreibungsamt anzuweisen, den betreibungsrechtlichen Notbedarf des Schuldners festzusetzen und den pfändbaren Teil der Rente der Beamtenversicherungskasse mit Arrest zu belegen.