BGE 140 II 378
 
34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Gemeinde St. Moritz gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
1C_68/2014 vom 15. August 2014
 
Regeste
Beschränkung des Zweitwohnungsbaus (Art. 75b und 197 Ziff. 9 BV; Zweitwohnungsverordnung); Beschwerdelegitimation der Gemeinde (Art. 89 Abs. 1 BGG).
Nach Ablauf der Übergangsfrist gemäss Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV bestehen aus kompetenzrechtlicher Sicht keine Bedenken mehr gegen die Zweitwohnungsverordnung vom 22. August 2012. Diese ist bis zum Inkrafttreten des Zweitwohnungsgesetzes anzuwenden, soweit sie den Anwendungsbereich von Art. 75b BV und damit auch der Nichtigkeitsfolge gemäss Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV in zulässiger Weise präzisiert (E. 4.1).
Nicht in der Verordnung geregelt ist der Ausbau von am 11. März 2012 bereits bestehenden Zweitwohnungen, die weiterhin als Zweitwohnungen genutzt werden sollen (E. 4.2).
Der vorliegend streitige Umbau von Neben- zu Hauptnutzflächen kann bis zur Klärung durch den Gesetzgeber nicht bewilligt werden; eine entsprechende Bewilligung wäre nach Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV nichtig (E. 5).
 
Sachverhalt


BGE 140 II 378 (379):

Am 21. Juni 1962 erteilte die Gemeinde St. Moritz die Bewilligung zur Erstellung eines viergeschossigen Mehrfamilienhauses auf Parzelle Nr. x an der Via N. Das Dachgeschoss wurde als Estrich bewilligt.
Am 6. Februar 2013 ersuchte A. die Gemeinde um die Bewilligung für den Umbau des bestehenden Aufenthaltsraumes im Dachgeschoss als Studio. Mit Baubescheid vom 15. April 2013 wies der Gemeindevorstand das Baugesuch ab, weil es im Widerspruch zu Art. 75b BV stehe.
Dagegen erhob A. am 16. Mai 2013 Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses hiess die Beschwerde am 26. November 2013 gut, hob den Baubescheid auf und wies die Angelegenheit zur Weiterführung des Baubewilligungsverfahrens im Sinne der Erwägungen und zum Erlass eines neuen Baubescheids an die Gemeinde zurück.


BGE 140 II 378 (380):

Gegen den verwaltungsgerichtlichen Entscheid hat die Gemeinde St. Moritz am 4. Februar 2014 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht erhoben.
Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) kommt in seiner Vernehmlassung zum Ergebnis, dass die geplante Erweiterung der bestehenden Zweitwohnung in den Bereich des bewilligten Estrichs die Bruttogeschossfläche vergrössere und damit den bundesrechtlichen Bestimmungen über Zweitwohnungen widerspreche.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und bestätigt den Baubescheid der Gemeinde St. Moritz vom 15. April 2013.
(Zusammenfassung)
 
Aus den Erwägungen:
Die Gemeinde ist aber auch legitimiert, gestützt auf Art. 89 Abs. 1 BGG Beschwerde zu erheben. Denn Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV sieht vor, dass Baubewilligungen für Zweitwohnungen, die zwischen dem 1. Januar des auf die Annahme von Artikel 75b BV folgenden Jahres und dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen erteilt werden, nicht nur anfechtbar, sondern sogar nichtig sind. Es wäre der Autorität der Gemeinde als Bau- und Planungsbehörde abträglich, wenn sie gezwungen wäre, Verfügungen zu erlassen, die ihrer Ansicht nach nichtig sind, d.h. denen jede Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit abgeht und deren Nichtigkeit jederzeit und vor sämtlichen staatlichen Instanzen geltend gemacht werden könnte. Sie ist daher befugt, geltend zu machen, dass die streitige Baubewilligung wegen Verletzung von Art. 75b BV i.V.m. Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV und Art. 8 Abs. 2 der Verordnung vom 22. August 2012 über Zweitwohnungen (SR 702; im Folgenden: ZweitwohnungsV) nichtig wäre.
(...)
4. Art. 75b Abs. 1 BV bestimmt, dass der Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und der für Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche einer Gemeinde auf höchstens

BGE 140 II 378 (381):

20 Prozent beschränkt ist. Baubewilligungen für Zweitwohnungen, die zwischen dem 1. Januar des auf die Annahme von Art. 75b BV folgenden Jahres und dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen erteilt werden, sind nichtig (Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV).
Der Bund stützte sich hierfür auf seine Befugnis zum "Vollzug der Gesetzgebung" nach Art. 182 Abs. 2 BV. In der Literatur ist umstritten, ob der Bundesrat schon vor Ablauf der zweijährigen Übergangsfrist gemäss Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV zur Vollziehung der neuen Verfassungsbestimmung befugt war (contra ALAIN GRIFFEL, Die Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative, eine Zwischenbilanz, ZBl 115/2014 S. 69 ff. mit Hinweisen; pro BERNHARD WALDMANN, Die Zweitwohnungsverordnung, Jusletter 10. Dezember 2012 N. 5 f; derselbe, Zweitwohnungen - vom Umgang mit einer sperrigen Verfassungsnorm, in: Schweizerische Baurechtstagung 2013, S. 123 ff., 129).
Inzwischen ist die in Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV statuierte Übergangsfrist abgelaufen, ohne dass ein Ausführungsgesetz in Kraft getreten ist. Der Bundesrat ist nunmehr befugt, die nötigen Ausführungsbestimmungen über Erstellung, Verkauf und Registrierung im Grundbuch durch Verordnung zu regeln. Am 19. Februar 2014 hat der Bundesrat den Entwurf eines Zweitwohnungsgesetzes (E-ZWG) und die dazugehörige Botschaft beschlossen (Botschaft vom 19. Februar 2014 zum Bundesgesetz über Zweitwohnungen, BBl 2014 2287 ff.). Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes soll die geltende Zweitwohnungsverordnung vom 22. August 2012 in Kraft bleiben (Botschaft, S. 2290 Ziff. 1.1; Art. 9 Abs. 2 ZweitwohnungsV).
Verfügt der Bundesrat seit dem 12. März 2014 über eine verfassungsrechtliche Ermächtigung zum Erlass von Ausführungsbestimmungen in Form einer Verordnung, so bestehen aus kompetenzrechtlicher Sicht keine Bedenken mehr gegen die ZweitwohnungsV. Es wäre überspitzt formalistisch, vom Bundesrat zu verlangen, die ZweitwohnungsV ein zweites Mal zu erlassen, diesmal gestützt auf

BGE 140 II 378 (382):

Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV. Die geltende Verordnung ist daher bis zum Inkrafttreten des Zweitwohnungsgesetzes anzuwenden, sofern sie den Anwendungsbereich von Art. 75b BV in zulässiger Weise präzisiert.
Ob und wenn ja inwieweit das künftige Gesetz eine derartige Erweiterung zulassen wird, ist noch ungewiss. Im Vernehmlassungsverfahren schlug der Bundesrat zwei Varianten vor: Nach der einen sollten altrechtliche Wohnungen weitgehend frei umgenutzt und

BGE 140 II 378 (383):

auch geringfügig erweitert werden dürfen; nach der anderen durften sie nur im Rahmen der bestehenden Hauptnutzfläche geändert werden. Der vom Bundesrat beschlossene Gesetzesentwurf sieht nunmehr in Art. 12 Abs. 3 vor, dass die Erweiterung der Hauptnutzflächen einer altrechtlichen Wohnung nur zulässig ist, wenn diese als Erstwohnung oder als touristisch bewirtschaftete Wohnung deklariert wird (Botschaft, S. 2292 f. Ziff. 1.3 und S. 2310 zu Art. 12 E-ZWG).
Es handelt sich somit um einen baubewilligungspflichtigen Tatbestand, dessen Vereinbarkeit mit Art. 75b Abs. 1 BV zweifelhaft erscheint und bis zur Klärung durch den Gesetzgeber nicht bewilligt werden kann; eine entsprechende Bewilligung wäre gemäss Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV nichtig.