BGE 134 II 164
 
18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen unique zurich airport Flughafen Zürich AG und Kanton Zürich sowie Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
1E.6/2007 vom 30. April 2008
 
Regeste
Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche infolge Fluglärms sowie von Abwehrrechten gegen den direkten Überflug; Bemessung der Entschädigung für ein Bauernhaus; vorübergehende Spezialität der Immissionen.
 
Sachverhalt


BGE 134 II 164 (165):

Für den Sachverhalt wird auf BGE 134 II 49 verwiesen. Im vorliegenden Fall dauerten die entschädigungsrechtlich relevanten Immissionen nur fünf Jahre. Zu befinden hatte die Schätzungskommission über die Entschädigung für ein Bauernhaus.
 
Aus den Erwägungen:
7. Die Voraussetzung der Spezialität ist nach ständiger Praxis insbesondere dann gegeben, wenn die Lärmimmissionen eine Intensität

BGE 134 II 164 (166):

erreichen, die das Mass des Üblichen und Zumutbaren übersteigt. Dies ist nach neuerer Rechtsprechung regelmässig anzunehmen, falls die in der eidgenössischen Umweltschutzgesetzgebung festgelegten Immissionsgrenzwerte überschritten sind (vgl. etwa BGE 130 II 394 E. 12.2 S. 415 mit Hinweisen).
Es wird vom Beschwerdeführer nicht ernsthaft bestritten und darf als erwiesen gelten, dass die Lärmbelastung im fraglichen Gebiet ab 1999 abgenommen hat und im Jahre 2002 unter den Immissionsgrenzwert von 65 dB(A) gefallen ist, der im Anhang 5 zur Lärmschutz-Verordnung vom 15. Dezember 1986 (LSV; SR 814.41) für die ES III während des Tages (6 bis 22 Uhr) festgelegt wird. Der Beschwerdeführer macht jedoch geltend, dass nicht auf die effektive Schallbelastung, sondern auf die Planungen der Flughafenhalterin, nämlich auf die im Umweltverträglichkeitsbericht zum "Vorläufigen Betriebsreglement" wiedergegebenen Lärmbelastungen abzustellen sei. Nach diesen Karten werde in Zukunft in weiten Teilen von Opfikon der Immissionsgrenzwert für die ES III überschritten. Die Enteigner weisen darauf hin, dass die Lärmkurvenkarten auf Prognosewerten beruhten und das Eintreten dieser Belastungen keineswegs sicher sei.
7.1 Die vom Beschwerdeführer zu den Akten gegebenen Lärmbelastungskarten des Umweltverträglichkeitsberichts zum "Vorläufigen Betriebsreglement" vermögen angesichts des kleinen Massstabes (1:150'000) keinen genauen Aufschluss über die erwartete künftige Lärmbelastung im Gebiet um den alten Ortskern Opfikon zu geben. Insofern erscheint die Behauptung, die Flughafenhalterin rechne selbst mit erneuten Lärmbelastungen über 65 dB(A), als nicht belegt. Allerdings bestünde für die Flughafenhalterin durchaus die Möglichkeit, das Enteignungsverfahren auf nachbarliche Abwehrrechte gegenüber künftigen stärkeren Lärmimmissionen auszudehnen, die infolge betrieblicher Änderungen aller Voraussicht nach eintreten werden (vgl. sinngemäss Art. 4 lit. a des Bundesgesetzes vom 20. Juni 1930 über die Enteignung [EntG; SR 711]). Ein solches Vorgehen böte den Vorteil, die nachbarrechtliche Auseinandersetzung endgültig zu erledigen und die Enteigneten mit der Zahlung der Entschädigung abschliessend zu verpflichten, übermässige Einwirkungen zu dulden (vgl. BGE 110 Ib 340 E. 5 S. 351; BGE 134 II 49 E. 13.2 S. 71). Andererseits ist weder der Enteigner noch der Enteignungsrichter gehalten, bei der Ermittlung des für die Entschädigung massgebenden Lärmpegels einer künftigen Zu- oder Abnahme

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übermässiger Immissionen Rechnung zu tragen, deren Eintritt nicht mit Sicherheit oder grösster Wahrscheinlichkeit feststeht (zit. BGE 134 II 49 E. 13.3 S. 72 und E. 13.4 S. 72 f.). Nun ist das vorliegende Enteignungsverfahren im Anschluss an die Einführung der sog. 4. Welle (von Abflügen ab Piste 16) im Herbst 1996 angehoben (BGE 130 II 394 E. 12.3.1 S. 420 f.) und das Betriebsreglement für den Flughafen Zürich seither mehrmals provisorisch geändert worden. Wie sich der künftige Betrieb abspielen wird, steht angesichts des immer noch nicht abgeschlossenen Sachplanverfahrens (Sachplan für Infrastruktur der Luftfahrt SIL), wie die Enteigner zu Recht geltend machen, noch keineswegs fest. Es kann daher im vorliegenden Verfahren nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Lärmbelastung im fraglichen Gebiet den Immissionsgrenzwert der ES III in Zukunft erneut und andauernd überschreiten werde.
7.2 Demzufolge ist bei der Ermittlung der für den Entschädigungsanspruch massgebenden Lärmbelastung auch im vorliegenden Fall grundsätzlich von der Situation im Schätzungszeitpunkt auszugehen und sind nur Tatsachen zu berücksichtigen, die in diesem Zeitpunkt bereits gegeben oder voraussehbar waren bzw. in naher Zukunft eingetreten sind (zit. BGE 134 II 49 E. 13.3 S. 72). Wie bereits dargelegt, hat die Lärmbelastung relativ kurze Zeit nach dem Stichtag abgenommen und ist nach rund fünf Jahren unter den für die ES III massgeblichen Immissionsgrenzwert gefallen. Es handelt sich somit bei der Lärmabnahme um eine Tatsache, die sich aus der Sicht des Schätzungszeitpunktes in naher Zukunft - noch während des Schätzungsverfahrens - ergeben hat. Dieser Tatsache darf und muss bei der Beurteilung des Entschädigungsanspruchs Rechnung getragen werden. Es ist demnach festzustellen, dass im vorliegenden Fall die Voraussetzung der Spezialität der Lärmeinwirkungen nur vorübergehend, während rund fünf Jahren, erfüllt war.
Soweit der Beschwerdeführer übrigens geltend macht, der alte Dorfkern von Opfikon müsste eigentlich der ES II zugeordnet werden, ist darauf hinzuweisen, dass es hier um einen in der Landwirtschaftszone liegenden Landwirtschaftsbetrieb geht und für Zonen, in denen solche Betriebe zugelassen sind, gemäss Art. 43 Abs. 1 LSV die ES III gilt.
8. Das Bundesgericht hat sich mit der Frage, welche Entschädigungsgrundsätze bei vorübergehenden Beeinträchtigungen durch den Bau oder Betrieb öffentlicher Werke zu gelten haben, schon

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verschiedentlich auseinandergesetzt. Die meisten dieser Fälle betreffen Störungen, die von Bauarbeiten herrühren. Seltener sind die Entscheide über vorübergehende Beeinträchtigungen durch den Werkbetrieb.
8.2 Im Urteil E.16/1981 vom 16. Juli 1984 ging es um die Entschädigungsforderung für den vorübergehend übermässigen Lärm einer Nationalstrasse, die nachträglich mit einer Lärmschutzwand ausgestattet wurde (vgl. BGE 123 II 560 E. 4b/aa S. 571). Das Bundesgericht wies auf die erwähnte Rechtsprechung über Bauarbeiten hin und erwog, dass grundsätzlich das Gleiche gelten müsse, wenn sich die vorübergehenden Beeinträchtigungen aus dem normalen Betrieb eines öffentlichen Werks ergäben: Sei die Frist bis zur Ergreifung der Schutzmassnahmen relativ kurz, könne den Nachbarn zugemutet werden, die vorübergehende Störung entschädigungslos zu dulden. Dauerten die Beeinträchtigungen dagegen länger an und seien sie übermässig, so müssten für die vorübergehende Unterdrückung der nachbarlichen Abwehrrechte die gleichen Entschädigungsregeln angewandt werden wie bei der definitiven Enteignung. Der Eigentümer einer Strasse oder einer Bahn werde demnach für die bis zum Bau von Schutzvorrichtungen vorübergehend auftretenden Immissionen entschädigungspflichtig, wenn diese während längerer Zeit andauerten, für den Nachbarn nicht voraussehbar gewesen seien, ihn in spezieller Weise träfen und einen schweren Schaden verursachten.
Die Frage, ob eine Einbusse von 10 % des jährlichen Mietertrags während höchstens zwei bis drei Jahren genüge, um im Hinblick auf den Gesamtwert der Liegenschaft einen schweren Schaden anzunehmen, ist im Entscheid vom 16. Juli 1984 offengelassen worden, da auch dieser Schaden nicht nachgewiesen wurde.


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8.3 In BGE 123 II 560 E. 4b/aa S. 570 f. hat das Bundesgericht angesichts der eingeführten umweltschutzrechtlichen Lärmbekämpfungs- und Sanierungsvorschriften dargelegt, dass die Nachbarn öffentlicher Anlagen Lärmeinwirkungen über den Immissionsgrenzwerten während den vom Bundesrat festgelegten Sanierungsfristen zu dulden hätten. Der Betreiber einer öffentlichen Anlage - im konkreten Fall einer Nationalstrasse - könne daher vor Ablauf dieser Frist grundsätzlich auch nicht zu einer Enteignungsentschädigung verpflichtet werden. Seit Erlass der Umweltschutzgesetzgebung müsse sich das für die Entschädigungspflicht massgebende Kriterium der Dauer der Einwirkungen nach den Sanierungsvorschriften im Umweltschutzgesetz und in der Lärmschutz-Verordnung richten. Solange die Sanierungsfrist noch laufe, könne im Allgemeinen nicht gesagt werden, die Einwirkungen seien im enteignungsrechtlich relevanten Sinne ihrer Dauer nach aussergewöhnlich.
Allerdings ist das Bundesgericht bei diesen Erwägungen davon ausgegangen, dass die Frist zur lärmschutzrechtlichen Sanierung der Nationalstrassen im Jahre 2002 auslaufe. Mit allfälligen entschädigungsrechtlichen Folgen von Fristverlängerungen hat es sich nicht befasst. Dagegen ist in BGE 130 II 394 E. 10 S. 412 f. präzisiert worden, dass ein enteignungsrechtlicher Entschädigungsanspruch unter Umständen auch während einer noch laufenden umweltschutzrechtlichen Sanierungsfrist entstehen könne. Die bevorstehende Sanierung einer Verkehrsanlage vermöge das Entstehen eines solchen Anspruchs nur zu hemmen, wenn feststehe oder höchst wahrscheinlich sei, dass durch Massnahmen an der Quelle übermässige Immissionen vollständig beseitigt werden könnten und damit eine dauernde Unterdrückung der nachbarlichen Abwehrrechte vermieden werden könne. Sei dagegen klar, dass im laufenden oder noch durchzuführenden Sanierungsverfahren Erleichterungen gewährt und passive Schallschutzmassnahmen angeordnet werden müssen, werde der enteignungsrechtliche Anspruch nicht verdrängt. Die Zusprechung einer enteignungsrechtlichen Entschädigung falle insoweit in Betracht, als die lärmbetroffenen Liegenschaften auch nach der (umweltschutzrechtlichen) Lärmisolierung der Bauten lärmbedingt entwertet blieben.
8.4 Im hier umstrittenen Fall ist die Tatsache, dass die übermässigen Einwirkungen nur vorübergehend aufgetreten sind, nicht auf bauliche Schutzmassnahmen, sondern auf Änderungen bzw. Schwankungen des Flugverkehrs zurückzuführen (das umweltschutzrechtliche

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Sanierungsverfahren wurde im Zusammenhang mit dem Ausbau des Flughafens Zürich eingeleitet und ist teils schon abgeschlossen; vgl. BGE 126 II 522 E. 50 S. 597; BGE 130 II 394 E. 8.3 S. 409 f.). Aus der bisherigen Praxis lässt sich jedoch auch für Streitigkeiten wie der vorliegenden ableiten, dass den Nachbarn öffentlicher Werke in der Regel zugemutet werden darf, vorübergehende übermässige Einwirkungen während längerer Zeit entschädigungslos hinzunehmen. Wie lange die Unterdrückung der nachbarlichen Abwehrrechte dauern muss, um abgeltbar zu werden, kann nicht in genereller Weise bestimmt werden. Ob und wann ein Entschädigungsanspruch entsteht, hängt - wie in der Rechtsprechung zu den Bauarbeiten ausgeführt worden ist - nicht nur von der Dauer, sondern auch von der Art und Stärke der Beeinträchtigung wie auch vom Ausmass des bleibenden Schadens ab. Es bleibt daher zu prüfen, ob die vorübergehende Immissionsbelastung die Nutzung der Liegenschaft des Beschwerdeführers schwer beeinträchtigt und eine erhebliche Vermögenseinbusse verursacht hat.
9. Der Beschwerdeführer macht selbst nicht geltend, dass durch die übermässigen Immissionen die landwirtschaftliche Nutzung des Hofgrundstücks in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Auch die Schätzungskommission ist davon ausgegangen, dass die Fluglärmbelastung den Wert der Liegenschaft (bloss) insofern mindere, als diese Wohnzwecken diene oder dienen könne. Sie ist bei der Verkehrswertbemessung von der Annahme ausgegangen, das Hofgrundstück könnte angesichts seiner guten Lage unabhängig von der Zugehörigkeit zum Landwirtschaftsgebiet ohne weiteres als Wohnliegenschaft bzw. als Einfamilienhaus mit grosszügigem Umschwung und Nebengebäuden verkauft werden. Die Schätzungskommission hat daher das Anwesen gleich wie eine Liegenschaft in der Bauzone behandelt und mit rund 1,2 Mio. Franken bewertet. Damit hat sie sich aber über die tatsächliche und rechtliche Situation am Schätzungsstichtag hinweggesetzt und ist von der Möglichkeit einer besseren Verwendung des Grundstücks ausgegangen, welche rechtlich nicht möglich ist.
9.1 Aus dem Abtretungsvertrag vom 12. Dezember 2001 geht hervor, dass der Beschwerdeführer seinem Sohn nicht nur das Hofgrundstück, sondern seinen ganzen, aus insgesamt 21 Parzellen bestehenden Landwirtschaftsbetrieb übergeben hat, der dem bäuerlichen Bodenrecht untersteht. Die Liegenschaft Haldenweg 10 bildet somit Teil eines landwirtschaftlichen Gewerbes, für welches nach dem Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über das bäuerliche Bodenrecht (BGBB;

BGE 134 II 164 (171):

SR 211.412.11 in Kraft seit 1. Januar 1994) unter anderem ein Realteilungs- und Zerstückelungsverbot besteht (Art. 58 ff. BGBB) und eine Höchstpreisgrenze gilt (Art. 66 BGBB). Das fragliche Wohnhaus könnte daher entgegen der Meinung der Schätzungskommission nicht selbständig verkauft werden. Die Veräusserung selbst ganzer landwirtschaftlicher Gewerbe untersteht besonderen einschränkenden Bestimmungen (Art. 40 ff. BGBB), ist grundsätzlich bewilligungspflichtig (Art. 61 f. BGBB) und nur an Selbstbewirtschafter möglich (Art. 63 Abs. 1 lit. a BGBB). Zudem bestimmt sich der Wert des landwirtschaftlichen Bodens und der zur Fortsetzung der landwirtschaftlichen Nutzung notwendigen Gebäude - also auch des Wohnhauses, das dem Normalbedarf des Bewirtschafters entspricht - grundsätzlich nach dem Ertrag (vgl. etwa Art. 17, 44 und 49 BGBB). Wird ein Betrieb veräussert, so gilt der Erwerbspreis als übersetzt, wenn er die Preise für vergleichbare landwirtschaftliche Gewerbe in der betreffenden Gegend im Mittel der letzten fünf Jahre um mehr als 5 Prozent übersteigt (Art. 66 BGBB). Verkäufe zu einem übersetzten Preis sind nichtig (Art. 70 BGBB).
9.2 Sind somit landwirtschaftliche Gewerbe dem freien Markt entzogen, ist eine bessere Verwendung eines zu einem landwirtschaftlichen Gewerbe gehörenden Bauernhauses, wie sie die Schätzungskommission angenommen hat, ausgeschlossen. Damit erweist sich die vorgenommene Verkehrs- und Minderwertsermittlung als unhaltbar. Das landwirtschaftliche Gewerbe des Beschwerdeführers ist denn auch in seiner Gesamtheit zu einem Preis von Fr. 320'000.- abgetreten worden, laut Vertrag "unter Berücksichtigung des landwirtschaftlichen Ertragswertes". Selbst wenn aber bei einer Veräusserung an einen Selbstbewirtschafter ausserhalb der Familie allenfalls ein höherer Preis hätte erzielt werden können, kann angesichts der Vorgaben des bäuerlichen Bodenrechts der Wert des Bauernhauses und seine mögliche immissionsbedingte Entwertung die Beträge, welche im angefochtenen Entscheid genannt werden, nicht annähernd erreichen. Damit soll nicht gesagt sein, dass ein Bauernhaus, das Teil eines landwirtschaftlichen Gewerbes bildet, durch übermässigen Lärm nicht ebenfalls an Attraktivität verlieren und eine Werteinbusse erleiden kann. Da aber der Wert eines landwirtschaftlichen Betriebes vorab durch dessen Ertragsfähigkeit bestimmt wird, kann dem Aspekt der ruhigen Lage des Wohnhauses für den Gesamtwert des Gewerbes keine massgebliche Bedeutung zukommen. In diesem Sinne kann dem Schluss der Schätzungskommission, dass sich aus

BGE 134 II 164 (172):

der Beeinträchtigung der Liegenschaft des Beschwerdeführers durch den Fluglärm kein schwerer Schaden ergeben habe, zugestimmt werden. Dieses Ergebnis darf umso eher bestätigt werden, als die enteignungsrechtlich relevante Beeinträchtigung wie gesehen lediglich vorübergehend war und nach fünf Jahren dahingefallen ist.