BGE 125 II 492
 
49. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Oktober 1999 i.S. Bundesamt für Strassen gegen S. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 14 Abs. 2 lit. d SVG, Art. 16 Abs. 1 SVG, Art. 17 Abs. 1bis SVG, Art. 9 Abs. 1 VZV, Art. 30 Abs. 1 VZV, Art. 35 Abs. 3 VZV; Sicherungsentzug, Abklärung der Fahreignung, vorsorglicher Entzug.
Bis zur Abklärung von Ausschlussgründen kann der Führerausweis vorsorglich entzogen werden, wenn Anhaltspunkte den Fahrzeugführer als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und ernsthafte Bedenken an seiner Fahreignung erwecken (E. 2b).
Da die Vorinstanz zu Recht Zweifel an der charakterlichen Eignung des Fahrzeuglenkers hatte, hätte sie zur Eignungsabklärung ein verkehrspsychologisches oder psychiatrisches Gutachten anordnen müssen; die konkreten Anhaltspunkte rechtfertigten auch einen sofortigen vorsorglichen Ausweisentzug (E. 3).
 
Sachverhalt


BGE 125 II 492 (493):

Das Strassenverkehrsamt des Kantons Luzern entzog S. am 19. März 1999 den Führerausweis wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (78 km/h statt 50 km/h und 153 km/h statt 80 km/h) für die Dauer von sieben Monaten (Warnungsentzug). Eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Betroffenen wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern am 20. Juli 1999 ab.
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache an das Strassenverkehrsamt zur verkehrspsychologischen Abklärung der charakterlichen Eignung zum Führen von Motorfahrzeugen von S. zurückzuweisen; bis zum Vorliegen der Untersuchungsergebnisse sei S. der Führerausweis sofort vorsorglich zu entziehen. Sollte die verkehrspsychologische Untersuchung ergeben, dass bei S. kein Eignungsmangel vorliege, sei die Verfügung vom 19. März 1999 zu bestätigen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. a) Das beschwerdeführende Amt macht geltend, der Beschwerdegegner habe, nur gerade vier Monate nach dem Erwerb des Führerausweises, die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit massiv, nämlich um mehr als 50%, überschritten. Obwohl er sogleich von der polizeilichen Verzeigung in Kenntnis gesetzt worden sei, habe er nur eine Woche später in einem Autobahntunnel die zulässige

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Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um beinahe das Doppelte (73 km/h) überschritten. Damit habe er zwei Mal innert kürzester Zeit den Verkehr in schwerer Weise gefährdet. Hinzu komme, dass ihn bei beiden Widerhandlungen ein schweres Verschulden treffe, habe er doch anlässlich der Gewährung des rechtlichen Gehörs ausgeführt, bei der ersten Fahrt habe er einer «hübschen Lady» zeigen wollen, wie das Auto laufe, und bei der zweiten habe er einen Kollegen nach Hause gebracht, wobei er wegen dessen strengen Eltern habe «etwas pressieren» müssen. Auf Grund der Verzeigung anlässlich der ersten Verfehlung hätte ihm bewusst sein müssen, welche Gefahr er mit seiner Fahrweise für die anderen Verkehrsteilnehmer geschaffen habe und dass er deswegen mit einer Sanktion zu rechnen gehabt habe. Dies habe ihn aber nicht daran gehindert, nur gerade eine Woche später einen Autobahntunnel mit einer massiv übersetzten Geschwindigkeit zu befahren. Die von ihm anerkannten Widerhandlungen und seine Beweggründe dafür liessen mit hinreichender Deutlichkeit darauf schliessen, dass er sich der Gefahren, die mit dem Führen eines Motorfahrzeugs verbunden sind, entweder nicht bewusst sei oder ihm die Fähigkeit oder der Wille fehle, diesen Gefahren Rechnung zu tragen. Insbesondere der Umstand, dass er eigene private Interessen (Imponiergehabe) und private Interessen Dritter höher bewerte als diejenigen anderer Verkehrsteilnehmer, nicht gefährdet oder verletzt zu werden, offenbarten einen derart schweren Mangel an Verantwortungsbewusstsein im Strassenverkehr, dass seine charakterliche Eignung zum Führen von Motorfahrzeugen ernsthaft bezweifelt werden müsse.
Die Vorinstanz erwähne zwar, dass die Entzugsbehörde angesichts der schwerwiegenden Verfehlungen auch einen Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit hätte in Erwägung ziehen können. Doch hätte sie selbst prüfen müssen, ob sich im vorliegenden Fall ein Sicherungsentzug wegen charakterlicher Nichteignung aufdränge. Indem sie eine eingehende Prüfung in diesem Punkt unterlassen habe, habe sie Bundesrecht verletzt.
b) Gemäss Art. 35 Abs. 3 der Verordung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51) könne bis zur Abklärung von Ausschlussgründen der Führerausweis sofort vorsorglich entzogen werden. Beim Beschwerdegegner bestünden gewichtige Bedenken an der Eignung zum Führen von Motorfahrzeugen, und weil aus den Akten keine ausserordentlichen Umstände ersichtlich seien, die

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einen vorsorglichen Entzug verbieten würden, sei ein solcher sofort anzuordnen.
2. a) Der Führerausweis ist zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 19. Dezember 1958 über den Strassenverkehr [SVG; SR 741.0]). Sicherungsentzüge dienen der Sicherung des Verkehrs vor ungeeigneten Führern (Art. 30 Abs. 1 VZV). Der Ausweis wird auf unbestimmte Zeit entzogen, unter anderem wenn der Führer «aus charakterlichen oder anderen Gründen nicht geeignet ist, ein Motorfahrzeug zu führen»; mit dem Entzug ist eine Probezeit von mindestens einem Jahr zu verbinden (Art. 17 Abs. 1bis SVG; vgl. auch Art. 33 VZV). Nach Art. 14 Abs. 2 lit. d SVG darf der Führerausweis nicht erteilt werden, wenn der Bewerber aufgrund seines bisherigen Verhaltens nicht Gewähr bietet, dass er als Motorfahrzeugführer die Vorschriften beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen wird. Anzeichen hierfür bestehen, wenn Charaktermerkmale des Betroffenen, die für die Eignung im Verkehr erheblich sind, darauf hindeuten, dass er als Lenker eine Gefahr für den Verkehr darstellt (BGE 104 Ib 95 E. 1 S. 97). Für den Sicherungsentzug aus charakterlichen Gründen ist die schlechte Prognose über das Verhalten als Motorfahrzeugführer massgebend (PETER STAUFFER, Der Entzug des Führerausweises, Diss. Bern 1966, S. 40). Die Behörden dürfen gestützt hierauf den Ausweis verweigern oder entziehen, wenn hinreichend begründete Anhaltspunkte vorliegen, dass der Führer rücksichtslos fahren wird (vgl. Botschaft vom 24. Juni 1955 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über den Strassenverkehr, BBl 1955 II S. 21 f.). Die Frage ist anhand der Vorkommnisse (unter anderem Art und Zahl der begangenen Verkehrsdelikte) und der persönlichen Umstände zu beurteilen; in Zweifelsfällen ist ein verkehrspsychologisches oder psychiatrisches Gutachten gemäss Art. 9 Abs. 1 VZV anzuordnen.
b) Bis zur Abklärung von Ausschlussgründen kann der Führerausweis sofort vorsorglich entzogen werden (Art. 35 Abs. 3 VZV). Diese Regelung trägt der besonderen Interessenlage Rechnung, welche bei der Zulassung von Fahrzeugführern zum Strassenverkehr zu berücksichtigen ist. Angesichts des grossen Gefährdungspotentials, welches dem Führen eines Motorfahrzeugs eigen ist, erlauben schon Anhaltspunkte, die den Fahrzeugführer als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und ernsthafte Bedenken an seiner Fahreignung erwecken, den vorsorglichen Ausweisentzug.


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Der strikte Beweis für die Fahreignung ausschliessende Umstände ist nicht erforderlich; wäre dieser erbracht, müsste unmittelbar der Sicherungsentzug selber verfügt werden. Können die notwendigen Abklärungen nicht rasch und abschliessend getroffen werden, soll der Ausweis schon vor dem Sachentscheid selber entzogen werden können und braucht eine umfassende Auseinandersetzung mit sämtlichen Gesichtspunkten, die für oder gegen einen Sicherungsentzug sprechen, erst im anschliessenden Hauptverfahren zu erfolgen (BGE 122 II 359 E. 3a mit Hinweisen).
3. Der Beschwerdeführer hat am 14. Februar 1999, lediglich vier Monate nach dem Erwerb des Führerausweises, die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 28 km/h überschritten und dadurch den Verkehr in schwerer Weise gefährdet (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG; BGE 123 II 106 E. 2a-c). Obwohl er sogleich von der polizeilichen Verzeigung in Kenntnis gesetzt wurde - weshalb er mit entsprechenden Sanktionen rechnen musste -, überschritt er bloss eine Woche später in einem Autobahntunnel die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 73 km/h und schuf dadurch eine überaus gefährliche Situation. Nachdem ihn einerseits das eingeleitete Strafverfahren wegen des ersten Vorfalls nicht beeindruckte und anderseits seine Beweggründe bei beiden Vorfällen (Imponiergehabe und weil es «etwas pressierte») gegen ein verantwortungsbewusstes Verhalten des Beschwerdegegners im Strassenverkehr sprechen, hatte die Vorinstanz zu Recht hinreichende Zweifel an der charakterlichen Eignung des Beschwerdegegners als Motorfahrzeugführer. Unter diesen Umständen hätte die Vorinstanz aber nicht einfach den siebenmonatigen Warnungsentzug bestätigen dürfen, sondern hätte gemäss Art. 9 Abs. 1 VZV ein verkehrspsychologisches oder psychiatrisches Gutachten zur Abklärung der charakterlichen Eignung des Beschwerdegegners als Motorfahrzeugführer anordnen müssen. Sollte sich herausstellen, dass die Voraussetzungen eines Sicherungsentzugs beim Beschwerdegegner nicht gegeben sind, so wäre der ursprünglich angeordnete Warnungsentzug von sieben Monaten, der von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden wäre, zu bestätigen.
Insbesondere angesichts der Schwere der zweiten Geschwindigkeitsüberschreitung während eines laufenden Verfahrens und der Beweggründe des Beschwerdegegners rechtfertigt es sich auch, bis zur Abklärung der charakterlichen Geeignetheit des Beschwerdegegners als Motorfahrzeuglenker ihm den Führerausweis vorsorglich zu entziehen.


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4. Nach dem Gesagten ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen. Im Sinne einer Verfahrensbeschleunigung ist es angezeigt, die Sache an das Strassenverkehrsamt zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2 OG). (...)