BGE 109 II 363
 
76. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 3. November 1983 i.S. R. gegen R. (Berufung)
 
Regeste
Art. 142 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 2 ZGB. Widerspruchsrecht des schuldlosen Ehegatten gegen die Scheidung.
 
Sachverhalt


BGE 109 II 363 (363):

J. R. und M. P., beides österreichische Staatsangehörige, gingen am 25. November 1949 miteinander die Ehe ein, der drei, heute volljährige Kinder entsprossen.
Im Jahre 1961 wurde eine Scheidungsklage des J. R. von den österreichischen Gerichten, die eine Ehezerrüttung verneinten, abgewiesen. Seither leben die Ehegatten getrennt und unterhalten keinen Kontakt mehr miteinander. Seit 1961 lebt J. R. in der Schweiz, seine Ehefrau in Österreich.
Der Ehemann reichte am 1. Juli 1980 in der Schweiz Scheidungsklage ein. Die Beklagte widersetzte sich dieser Klage.
Das Kantonsgericht entsprach am 31. März 1982 dem Klagebegehren und schied die Ehe der Parteien wegen tiefer Zerrüttung gemäss Art. 142 ZGB. Dagegen erklärte die Beklagte Berufung beim Obergericht. Dieses hob mit Urteil vom 2. November 1982

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in Gutheissung der Berufung das kantonsgerichtliche Urteil auf und wies die Scheidungsklage ab.
Gegen das Urteil des Obergerichts hat der Kläger beim Bundesgericht Berufung erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Gutheissung seiner Scheidungsklage. Die Beklagte stellt Antrag auf Abweisung der Berufung und auf Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils.
Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, hebt das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zu ergänzender Abklärung und zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
 
Aus den Erwägungen:
2. Unter diesen Umständen kann gegen den Widerstand des an der Ehe festhaltenden Ehegatten eine Scheidung nur ausgesprochen werden, wenn der die Scheidung verlangende Ehegatte an der tiefen Zerrüttung nicht vorwiegend schuldig ist (Art. 142 Abs. 2 ZGB) oder aber, wenn die Einrede des Mehrverschuldens als rechtsmissbräuchlich erscheint. Nach der neueren Rechtsprechung ist ein Widerstand gegen die Auflösung der Ehe grundsätzlich dann rechtsmissbräuchlich, wenn der die Scheidung ablehnende Ehegatte nicht gewillt ist, die eheliche Gemeinschaft wiederaufzunehmen, selbst wenn der andere sein ehewidriges Verhalten aufgäbe. Ebenso ist der Widerstand rechtsmissbräuchlich, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass ein solches Festhalten an einer längst nicht mehr bestehenden Ehegemeinschaft völlig sinnlos ist und dass in Tat und Wahrheit eine echte Bindung an den Ehegatten und die Ehe fehlt (BGE 104 II 153, BGE 105 II 225, BGE 108 II 27 /28 und 166). Das Bundesgericht hat in Präzisierung der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 142 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 2 ZGB in einem neuesten Entscheid (BGE 108 II 503 ff.) festgehalten, dass in der Regel nach mindestens 15jähriger Trennung der Ehegatten anzunehmen sei, die Ehe sei trotz anderslautender Beteuerung völlig

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sinnlos geworden, und dass damit die - widerlegbare - Vermutung geschaffen werde, jede Bindung an die Ehe sei endgültig erloschen und es werde nur noch dem Bande nach an ihr festgehalten. Nach dieser Rechtsprechung ist das Festhalten an einer solchen Ehe unter dem Gesichtspunkt des Art. 142 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 2 ZGB unbeachtlich, und die Scheidungsklage ist gutzuheissen, sofern es der widersprechenden Partei nicht gelingt, rechtlich schützenswerte Interessen nachzuweisen, die den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs auszuschliessen vermögen.
a), b) Überwiegendes Verschulden des Klägers bejaht.
c) Kann die Beklagte nach dem Ausgeführten das Widerspruchsrecht gemäss Art. 142 Abs. 2 ZGB geltend machen, so steht dem Kläger nur dann ein Klageanspruch zu, wenn das Verhalten der Beklagten als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren ist. Im vorliegenden Fall leben die Eheleute seit der ersten abgewiesenen Scheidungsklage über 20 Jahre getrennt. Auch die Beklagte hat ehrlicherweise stets zugegeben, dass sie für den Kläger keine Gefühle mehr habe, dass die Ehe vielmehr auch für sie längst inhalts- und sinnlos geworden sei. Nach der neuesten Rechtsprechung ist dem Festhalten der Beklagten an der Ehe bloss dem formellen Bande nach der Rechtsschutz dennoch dann nicht zu versagen, wenn sie ein berechtigtes schützenswertes Interesse an der Weiterführung der Ehe nachzuweisen vermag (BGE 108 II 166 und 507 f., BGE 105 II 225 und BGE 104 II 153).
Die Beklagte hat von allem Anfang an offen erklärt, sie halte nur deswegen an der Ehe fest, um die halbe Ehepaarrente der schweizerischen AHV, die ihr seit 1979 nach Österreich ausbezahlt wird, nicht zu verlieren. Es trifft zu, dass sie mit der Scheidung auf diese Rente verzichten müsste und dass sie auch keine ausserordentliche Rente beziehen könnte (Art. 22 Abs. 3 und 42 AHVG). Es stellt sich daher die Frage, ob im Bestreben der Beklagten, ihren Rentenanteil von nunmehr Fr. 444.-- monatlich nicht zu verlieren, ein schützenswertes Interesse liegt und ob demgemäss aus rein

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wirtschaftlichen Überlegungen eine seit langem tote Ehe weiterhin formell aufrechterhalten werden soll.
d) Diese Frage hat sich bisher nie so eindeutig gestellt wie im vorliegenden Fall. Immerhin hat das Bundesgericht in BGE 108 II 508 /9 angetönt, dass der Verlust der Teilhabe an den Sozialversicherungsansprüchen des Ehemannes gegebenenfalls als schützenswertes Interesse an der formellen Aufrechterhaltung der seit 15 Jahren nicht mehr bestehenden Ehegemeinschaft zu betrachten wäre, wenn feststünde, dass der überwiegend schuldige Ehemann aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage wäre, diese Ansprüche durch Leistungen gemäss Art. 151 oder 152 ZGB abzugelten. In BGE 108 II 29 wurde zum Ausdruck gebracht, dass ein rein finanzielles Interesse jedenfalls dann der Auflösung einer Ehe nicht entgegenstehen dürfe, wenn der durch die Scheidung erlittene materielle Schaden mit Leistungen aus Art. 151/52 ZGB gemildert werden könne.
Die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung schliesst somit nicht generell aus, dass wirtschaftliche Interessen unter dem Gesichtspunkt von Art. 142 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 2 ZGB schützenswert sein können. Auch die Lehre vertritt diesen Standpunkt (BÜHLER/SPÜHLER, N. 148 zu Art. 142 ZGB; HINDERLING, Schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. Aufl., S. 60, und Supplement, S. 21 und 30/31; vgl. auch HAUSHEER, ZBJV 116/1980 S. 97), indem gesagt wird, der Widerspruch gegen die Scheidung sei trotz fehlender Bereitschaft oder trotz Unmöglichkeit zur Aufnahme des Zusammenlebens dann nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der widersprechende Ehegatte durch die Scheidung in wirtschaftliche Not geriete. An dieser Auffassung ist festzuhalten. Zwar entsteht dadurch praktisch zweierlei Recht, weil der wohlhabende Ehegatte, auch wenn er an der Zerrüttung überwiegend schuldig ist, eine Scheidung eher erlangen kann als der mittellose Gatte, der seiner Unterhalts- und Schadenersatzpflicht gegenüber dem andern Teil nicht nachkommen kann und dessen Ehepartner Sozialversicherungsansprüche, auf die er angewiesen ist, nicht verlieren will. Diese Konsequenz, die nichts mehr mit dem eigentlichen Wesen der Ehe als geistig-leiblicher und seelischer Gemeinschaft zu tun hat, ist zugegebenermassen stossend. Diese Ungleichheit ergibt sich aber sowohl aus dem geltenden Ehe- und Scheidungsrecht als auch aus dem auf dem Eherecht aufbauenden Sozialversicherungsrecht: Beide Rechtsbereiche gehen davon aus, dass die Ehe nicht nur eine körperliche, seelische und geistige Gemeinschaft, sondern

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auch eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, in welcher zudem in aller Regel der Ehemann als der wirtschaftlich stärkere Teil gilt. Diese Anschauungsweise hat Folgen einerseits für die Unterhaltspflicht des Ehemannes, die über die Scheidung hinaus andauern kann, anderseits aber auch für die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche der Ehefrau, die sich weitgehend von jenen des Mannes ableiten.
e) Art. 42 Abs. 2 lit. d AHVG hat den stossenden Fällen einer Altersscheidung in dem Sinne Rechnung getragen, dass einer nach dem 61. Altersjahr geschiedenen Frau, sofern sie Schweizerbürgerin und in der Schweiz wohnhaft ist, selbst wenn sie nie AHV-Beiträge bezahlt hat, die ausserordentliche einfache Altersrente ohne Anrechnung ihres Einkommens und Vermögens zuerkannt wird, und zwar auch dann, wenn der Ehemann noch Leistungen nach Art. 151 oder 152 ZGB erbringen muss. Von dieser Regelung ist die Beklagte als Österreicherin, die in ihrem Heimatland wohnt, ausgeschlossen. Eine Scheidung würde sich daher für sie äusserst nachteilig auswirken, wenn die wegfallende schweizerische Rente weder durch eine Rente nach Art. 151/52 ZGB noch durch eine solche der österreichischen Sozialversicherung abgegolten werden könnte und die Beklagte dadurch Gefahr liefe, wegen der Scheidung in Not zu geraten. Diese Folge wäre mindestens so stossend wie diejenige, dem Kläger einen während über 20 Jahren andauernden und ihn bis zum eigenen Rentenbezug im Jahre 1979 offenbar nicht belastenden Zustand weiterhin zuzumuten.
Zusammenfassend ist deshalb festzuhalten, dass die Anrufung wirtschaftlicher Gründe immer dann rechtlich schützenswert ist, wenn der widersprechende, weniger schuldige Ehegatte durch die Scheidung in finanzielle Bedrängnis geraten würde und diese weder durch eine Rente im Sinne von Art. 151 oder 152 ZGB noch durch sozialversicherungsrechtliche Leistungen aus den Vorsorgeansprüchen des klagenden Ehemannes behoben oder wenigstens gemildert werden könnte, sei es, weil solche Ansprüche nicht bestehen, sei es, weil sie durch die Scheidung wegfallen.