BGE 109 II 347
 
72. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 2. Dezember 1983 i.S. Naef gegen "Zürich" Versicherungs-Gesellschaft (Berufung)
 
Regeste
Art. 87 Abs. 2 SVG, Entschädigungsvereinbarung.
 


BGE 109 II 347 (348):

Aus den Erwägungen:
Als massgebend, um die Angemessenheit zu beurteilen, erachtet die Vorinstanz nicht den Zeitpunkt des Urteils über die Anfechtungsklage, sondern jenen des Abschlusses der Vereinbarung. Sie könne daher auf die Vorbringen des Klägers zur Entwicklung seines Gesundheitszustandes nach Vertragsabschluss nicht eintreten. Das gelte für die Behauptung, er müsse nachträglich nicht bloss mit 20%, sondern mit mehr als 30% Arbeitsunfähigkeit rechnen und seine gegenwärtigen Beschwerden rührten vom Verkehrsunfall her. Die Vorinstanz ordnete deshalb die gerichtliche Expertise, die der Kläger beantragt hatte, nicht an.
Der Kläger macht geltend, die Auffassung der Vorinstanz über den ausschlaggebenden Zeitpunkt für die Beurteilung der Angemessenheit sei unvereinbar mit Art. 87 Abs. 2 SVG, und er kritisiert die bundesgerichtliche Rechtsprechung, auf der das angefochtene Urteil beruht (BGE 99 II 370 E. 3). Seinen Standpunkt begründet er hauptsächlich mit der Meinung OFTINGERS, der den Zeitpunkt des Urteils als massgebend erklärt, weil der Geschädigte damit - entsprechend einer allgemeinen Tendenz der Spezialgesetze - begünstigt werde (Haftpflichtrecht, 4. Aufl. Bd. I S. 472; ebenso ohne nähere Begründung BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation routière annoté, S. 315 Ziff. 2.5; BUSSY, in SJK Nr. 919 N. 20; GIGER/SCHLEGEL, Strassenverkehrsgesetz, 3. Aufl. S. 270).
Mit der Meinung der zitierten Autoren hat sich das Bundesgericht im erwähnten Entscheid bereits einlässlich auseinandergesetzt. Es hat im Zusammenhang mit dem gleichlautenden Art. 17 EHG auf die Entstehungsgeschichte zurückgegriffen und daraus gefolgert, der wesentliche Unterschied von Art. 87 Abs. 2 SVG zu den allgemeinen Rechtsbehelfen liege darin, dass der Geschädigte nur das offensichtliche Ungenügen der vereinbarten Entschädigung und keinerlei subjektive Elemente beweisen müsse. Dieser objektive Massstab entspreche jenem bei der Antwort auf die

BGE 109 II 347 (349):

Frage, ob gemäss Art. 21 OR Leistung und Gegenleistung in einem offenbaren Missverhältnis zueinander stehen. Wie dort seien daher die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses entscheidend. Dabei müsse der Richter alle bekannten und voraussehbaren Umstände berücksichtigen. Unvorhersehbaren Entwicklungen dagegen, die das Gleichgewicht zwischen den Leistungen schwer störten, könne er gestützt auf Art. 2 ZGB Rechnung tragen. Die Rechtssicherheit verbiete, auf spätere Entwicklungen, beispielsweise der Löhne und Preise, abzustellen. Schliesslich begünstige Art. 87 Abs. 2 SVG einseitig eine Partei und sei deshalb einschränkend auszulegen.
An den damaligen Erwägungen des Bundesgerichts ist im wesentlichen festzuhalten. Entschädigungsvereinbarungen erfassen in der Regel ohnehin nur bekannte und vorhersehbare Schädigungen und schliessen es nicht aus, später neu auftretende Schäden geltend zu machen (OFTINGER, S. 474 f.; DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Aufl. S. 214 N. 9; GIGER/SCHLEGEL, S. 271). Für eine zurückhaltende Auslegung von Art. 87 Abs. 2 SVG spricht sodann die Ansicht von Merz, der den erwähnten Bundesgerichtsentscheid kommentiert und gleichzeitig bedauert hat, dass der Gesetzgeber die Bestimmung anlässlich der Revision nicht aufgehoben habe; denn es leuchte nicht ein, weshalb der allgemeine Übervorteilungstatbestand nur gerade hinsichtlich der Vereinbarung von Entschädigungen im Bereich bestimmter Haftpflichtgesetze nicht massgebend sein solle (ZBJV 111/1975 S. 104). Auch DESCHENAUX/TERCIER (S. 214 N. 13) stimmen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu. Der vorliegende Sachverhalt zeigt im übrigen, wie uferlos eine Überprüfung der Entschädigung aus nachträglicher Sicht werden könnte und wie sehr die wichtige Institution der gütlichen Schadensregulierung darunter litte. Will sich der Geschädigte eine solche Überprüfung offen halten, so hat er eben beim Abschluss der Vereinbarung einen entsprechenden Vorbehalt anzubringen, wie es ja auch der Richter bei Urteilen macht (Art. 46 Abs. 2 OR; STARK, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, Nr. 1130).