BGE 102 II 313
 
46. Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. November 1976 i.S. Nobel gegen Müller und Müller
 
Regeste
Art. 214 Abs. 3 ZGB.
Die ehevertragliche Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden Ehegatten unter dem Güterstand der Güterverbindung ist als Schenkung auf den Todesfall im Sinne von Art. 245 Abs. 2 OR anzusehen. Sie unterliegt wie eine Verfügung von Todes wegen der Herabsetzung, soweit die Pflichtteilsrechte der Nachkommen verletzt sind (E. 3-5).
 
Sachverhalt


BGE 102 II 313 (314):

A.- Fridolin Müller war in erster Ehe verheiratet mit Emma Stöckli. Aus dieser Ehe ging im Jahre 1916 die Tochter Emma hervor. Im Dezember 1918 starb die Ehefrau. Eine zweite Ehe Müllers blieb kinderlos. 1936 ging er mit der 19 Jahre jüngeren Frieda Kopp eine dritte Ehe ein, aus der im Jahre 1944 der Sohn Kurt hervorging. Die Eheleute lebten unter dem Güterstand der Güterverbindung und schlossen am 7. Februar 1958 einen Ehe- und Erbvertrag, der im Wesentlichen folgende Bestimmungen enthielt:
"1. Die Vertragsparteien stellen vorerst fest, dass die güterrechtlichenVerhältnisse ihrer Ehe dem ordentlichen Güterstand der Güterverbindungunterstehen, die sie weiterhin beibehalten wollen.
2. Die Vertragsparteien stellen des weitern fest, dass sie anlässlichihrer Verehelichung im Jahre 1936 folgende Werte in die Ehe eingebrachthaben:
a) Der Ehemann: Fr. 15'000.-- in bar, die Firma Fritz Müller, Teppichhandel, sowie die Stube;
b) Die Ehefrau: Fr. 10'000.-- in bar, die in das Geschäft des Ehemannes
eingelegt wurden, ferner den gesamten vorhandenen Hausrat (ausgenommen die Stube), wie Möbel, Wäsche, Geschirr etc.
3. Alles übrige eheliche Vermögen bildet Vorschlag im Sinne von Art. 214 ZGB.
4. Gestützt auf Art. 214 Abs. 3 ZGB und in Abänderung derVorschlagsteilung gemäss Art. 214 Abs. 1 ZGB vereinbaren die Parteien, dassbeim Tode des einen oder andern von ihnen der überlebende Ehegatte denganzen Vorschlag zu unbeschwertem Eigentum erhalten soll.
Bei einem Rückschlag gilt das Gesetz (Art. 214 Abs. 2 ZGB).
5. Dieser Ehevertrag, dem nur parteiinterne Geltung zukommt, wird derVormundschaftsbehörde der Stadt St. Gallen zur Genehmigung unterbreitet,aber nicht in das Güterrechtsregister eingetragen.
6. Erbvertraglich vereinbaren und verfügen die Parteien letztwillig was folgt:
a) Beide Ehegatten setzen ihre Nachkommen zugunsten des überlebendenEhegatten auf den gesetzlichen Pflichtteil. An dem Erbteil, welcher

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dem gemeinsamen Sohn Kurt Müller zukommt, erhält der überlebende Ehegatteausserdem die lebenslängliche Nutzniessung gemäss Art. 473 ZGB.
b) Im Sinne einer Teilungsvorschrift verfügt der unterzeichnete EhemannFritz Müller, dass seine Ehefrau die Einzelfirma Fritz Müller, Teppiche,Notkerstrasse 12, St. Gallen, samt Aktiven und Passiven, ferner dieLiegenschaften Notkerstrasse 12 in St. Gallen, Sonnenhaldenstr. 29 inGoldach SG und diejenige an der Frauenfelderstrasse in Steckborn TG zumdannzumaligen Steuerwert, jedoch unter Übernahme der darauf lastendenHypotheken, sowie den vom Ehemann eingebrachten Hausrat, zu Alleineigentumübernehmen kann. Die Tochter des Ehemannes aus erster Ehe, Frau Emma Nobelgeb. Müller, Flawil, ist somit in bar auszuzahlen.
c) Beide Vertragsparteien ernennen zu ihrem Willensvollstrecker Herrn Dr. X., Rechtsanwalt, St. Gallen, und falls dieser das Mandat nicht annehmen kann oder will, das Bezirksamt St. Gallen.
d) Mit diesem Ehe- und Erbvertrag werden alle früheren letztwilligen Verfügungen der Vertragsparteien aufgehoben."
Der Vertrag wurde am 19. Februar 1958 vom Waisenamt St. Gallen genehmigt.
Am 25. September 1972 starb Fridolin Müller im Alter von 85 Jahren. Er hinterliess als gesetzliche Erben seine dritte Ehefrau, den aus der Ehe mit dieser entsprossenen Sohn Kurt und die aus der ersten Ehe stammende Tochter Emma Nobel-Müller.
Der von den Eheleuten Müller-Kopp geschlossene Ehe- und Erbvertrag wurde am 12. Oktober 1972 durch das Bezirksamt St. Gallen eröffnet. Seine Formgültigkeit ist nicht bestritten.
In der Folge wurde auf Begehren Emma Nobels über den Nachlass des Erblassers das öffentliche Inventar aufgenommen, das bei Fr. 371'799.65 Aktiven und Fr. 370'826.55 Passiven mit einem mutmasslichen Aktivenüberschuss von Fr. 973.10 abschloss. Unter den Passiven figuriert ein Posten von Fr. 263'000.-- als "güterrechtlicher Anspruch der Ehefrau", wovon Fr. 10'000.-- unter dem Titel eingebrachtes Gut. Am 6. Juni 1973 überwies der Willensvollstrecker Emma Nobel Fr. 5'170.-- als ihren Erbanteil am Nachlass des verstorbenen Vaters.
B.- Im August 1973 machte Emma Nobel gegen die dritte Ehefrau ihres Vaters (Beklagte 1) und ihren Stiefbruder Kurt Müller (Beklagten 2) bei Bezirksgericht St. Gallen eine Erbteilungsklage anhängig, mit der sie beantragte:


BGE 102 II 313 (316):

"1. Es sei der Nachlass des am 25. September 1972 in St. Gallenverstorbenen Fridolin (genannt Fritz) Müller-Kopp, geb. 20. September 1887,von Näfels, wohnhaft gewesen Notkerstrasse 12, St. Gallen, gerichtlichfestzustellen.
2. Es sei festzustellen, dass der gesetzliche Pflichtteil der Klägerin
neun Zweiunddreissigstel des Nachlasses des genannten Erblassers beträgt.
3. Es seien die vom genannten Erblasser der Beklagten 1 mit Ehe- undErbvertrag vom 7. Februar 1958 gemachten güterrechtlichen Zuwendungen(insbesondere die Zuweisung des gesamten Vorschlags) auf das in Anbetrachtdes Pflichtteilsrechts der Klägerin zulässige Mass herabzusetzen.
4. Es sei das in Ziffer 6 lit. b des zwischen dem Erblasser und derBeklagten 1 am 7. Februar 1958 abgeschlossenen Ehe- und Erbvertragesenthaltene Vorausvermächtnis (genannt "Teilungsvorschrift") herabzusetzenoder eventuell der Ausgleichung gemäss Art. 608 Abs. 2 ZGB zu unterstellen.
5. Es sei festzustellen, dass der Beklagte 2 für sämtliche vom Erblasserzu dessen Lebzeiten erhaltenen Zuwendungen, insbesondere für eine solche imWerte von Fr. 15'000.--, ausgleichspflichtig ist.
6. Es seien die Beklagten zu verpflichten, in die für die Vornahme derErbteilung notwendigen Handlungen einzuwilligen, unter Androhung derUngehorsamsstrafe gemäss Art. 292 StGB im Widerhandlungsfalle.
7. Es sei die Beklagte 1 zu verpflichten, der Klägerin den ihremPflichtteil entsprechenden Betrag (abzüglich einer à-Konto-Zahlung vonFr. 5'170.--) auszuzahlen."
Das Bezirksgericht fällte am 24. September 1974 folgendes Urteil:
"1. Es wird festgestellt, dass der Nachlass des Müller Fridolin, geb.20.9.1887, von Näfels, gestorben am 25.9.1972 in St. Gallen, aus dem vonihm in die Ehe mit Müller Frieda eingebrachten Gut besteht, nämlich aus derStube, dem Teppichhandel Fritz Müller sowie Fr. 15'000.-- in bar.
2. Es wird davon Vormerk genommen, dass die Beklagten eine Pflichtteilsquote der Klägerin von 9/32 anerkennen.
3. Die Klagebegehren Ziffer 3, 4, 5, 6 und 7 werden abgewiesen.
(4./5. Kosten und Entschädigung)"
Zur Begründung führte das Gericht im wesentlichen aus, Vereinbarungen nach Art. 214 Abs. 3 ZGB unterlägen nach konstanter Praxis des Bundesgerichts nicht der erbrechtlichen Herabsetzungsklage. Dass die Begünstigung des überlebenden Ehegatten rechtsmissbräuchlich sei, könne im vorliegenden Fall nicht gesagt werden. Da der gesamte Vorschlag an die Ehefrau falle und Sondergut des Erblassers nicht behauptet

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werde, bestehe der Nachlass nur aus dem eingebrachten Mannesgut. Die Pflichtteilsquote der Klägerin von 9/32 am Nachlass sei anerkannt. Die Liegenschaften seien nicht Nachlassgegenstände und gehörten nicht zur Erbschaft, weshalb sie weder der Herabsetzung noch der Ausgleichung unterlägen. Der Nachlasswert des eingebrachten Teppichhandels sei nicht feststellbar, so dass diesbezüglich ein herabsetzbares Vermächtnis nicht bewiesen und deshalb die Herabsetzungsklage wie auch das Ausgleichungsbegehren abzuweisen seien. Ebensowenig sei erstellt, dass der Beklagte 2 vom Erblasser Zuwendungen erhalten habe, weshalb eine Ausgleichungspflicht diesbezüglich entfalle.
Eine Berufung gegen diesen Entscheid wurde vom Kantonsgericht St. Gallen mit Urteil vom 9. Juli 1975 abgewiesen. In der Begründung folgte das Kantonsgericht im wesentlichen dem Bezirksgericht.
C.- Gegen das kantonsgerichtliche Urteil erhebt die Klägerin Berufung an das Bundesgericht mit den Anträgen:
"1. Es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und es seien demzufolgeauch Dispositiv Ziff. 1 und 3-5 des Urteils des Bezirksgerichtes St. Gallenvom 24. September 1974 aufzuheben.
2. Es sei die Sache an die kantonale Instanz zurückzuweisen zur Vornahme folgender Handlungen:
a) gerichtliche Feststellung des Nachlasses des am 25. September 1972 verstorbenen Fridolin (genannt Fritz) Müller-Kopp, geb. 20. September 1887, von Näfels, wohnhaft gewesen Notkerstrasse 12, St. Gallen;
b) Herabsetzung der vom genannten Erblasser der Beklagten undBerufungsbeklagten 1 gemachten güterrechtlichen Zuwendungen (insbesonderegemäss Ehe- und Erbvertrag vom 7. Februar 1958) und sämtlicher weitererganz oder teilweise unentgeltlicher Zuwendungen an die Beklagte undBerufungsbeklagte 1, die vom Erblasser zur pflichtteilsrechtlichenBenachteiligung der Klägerin und Berufungsklägerin gemacht wurden(insbesondere im Rahmen des am 3. Januar 1967 abgeschlossenen Kaufvertragesüber die Liegenschaft Notkerstrasse 12 in St. Gallen), auf das inAnbetracht des Pflichtteilsrechts der Klägerin und Berufungsklägerinzulässige Mass.
3. Es sei das in Ziff. 6 lit. b des zwischen dem Erblasser und derBeklagten und Berufungsbeklagten 1 am 7. Februar 1958 abgeschlossenen Ehe-und Erbvertrages enthaltene Vorausvermächtnis (genannt"Teilungsvorschrift") herabzusetzen oder eventuell der Ausgleichung gemässArt. 608 Abs. 2 ZGB zu unterstellen.
4. Es sei festzustellen, dass der Beklagte und Berufungsbeklagte 2 fürsämtliche vom Erblasser zu dessen Lebzeiten erhaltenen Zuwendungen,

BGE 102 II 313 (318):

insbesondere für eine solche im Werte von Fr. 15'000.--,ausgleichspflichtig ist.
5. Eventuell sei die Sache zur Durchführung des Beweisverfahrenshinsichtlich des Berufungsantrages 4 an die kantonale Instanzzurückzuweisen.
6. Es sei die Beklagte und Berufungsbeklagte 1 zu verpflichten, derKlägerin den ihrem Pflichtteil entsprechenden Betrag (abzüglich einerAkontozahlung von Fr. 5'170.--) auszuzahlen."
Die Beklagten beantragen die Abweisung der Berufung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Klägerin macht in erster Linie geltend, ehevertragliche Änderungen der Vorschlagsteilung im Sinne von Art. 214 Abs. 3 ZGB seien nur zulässig, soweit dadurch das Pflichtteilsrecht der Kinder nicht verletzt werde, und sie verlangt demgemäss die Herabsetzung der Vorschlagszuweisung auf das erlaubte Mass.
2. Das Bundesgericht hat erstmals in BGE 58 II 1 ff. entschieden, gemäss Art. 214 Abs. 3 ZGB könne durch Ehevertrag gültig und nicht mit der Herabsetzungsklage anfechtbar vereinbart werden, dass der ganze Vorschlag dem überlebenden Ehegatten zufalle. Dieser Entscheid wurde in der Literatur lebhaft diskutiert und fand keine einhellige Zustimmung (vgl. die Zusammenstellung der Befürworter und Kritiker in BGE 82 II 481 /482 sowie bei LEMP, N. 92 zu Art. 214 ZGB). In BGE 82 II 477 ff. erhielt das Bundesgericht Gelegenheit, zu den verschiedenen Kritiken Stellung zu nehmen. Es hielt in

BGE 102 II 313 (319):

einem ausführlich begründeten Entscheid daran fest, dass die Ehegatten (innerhalb der Schranken des Rechtsmissbrauchs) gemäss Art. 214 Abs. 3 ZGB berechtigt seien, den ganzen Vorschlag dem überlebenden Gatten zuzuweisen, und dass eine solche Vereinbarung keiner erbrechtlichen Herabsetzung unterliege. Es befasste sich eingehend mit der Entstehungsgeschichte von Art. 214 ZGB und gelangte zum Ergebnis, aus den Materialien könne nicht abgeleitet werden, dass die ehevertragliche Zuweisung des ganzen Vorschlages an den einen oder andern Gatten der Herabsetzung nach den Bestimmungen über den Pflichtteil unterstehe. Zur Begründung seines Entscheides führte das Bundesgericht ferner aus, wenn die Ehegatten von der ihnen durch Art. 214 Abs. 3 ZGB gebotenen Möglichkeit Gebrauch machten, schaffe ihre Vereinbarung allein Recht und trete die vereinbarte Vorschlagsbeteiligung an die Stelle der gesetzlichen Teilungsart (Art. 214 Abs. 1 ZGB). Das Gesetz enge die Freiheit der Parteien nicht ein und unterwerfe ihre Vereinbarungen über die Vorschlagsteilung keiner Beschränkung. Es kümmere sich auch nicht um die Motive, welche die Parteien zu einer vertraglichen Regelung der Vorschlagsteilung bestimmten und verlange insbesondere nicht, dass die von den Parteien getroffene Regelung ihren Grund in diesem oder jenem Umstand habe, der die gesetzliche Teilung als ungerechtfertigt erscheinen lasse. Die gemäss Art. 214 Abs. 3 ZGB durch Ehevertrag vereinbarte Vorschlagsteilung habe ihren Rechtsgrund in gleicher Weise wie die gesetzlich vorgesehene im Güterrecht. Selbst wenn die Vereinbarung dem überlebenden Gatten den ganzen Vorschlag zuweise, stelle sie keine Verfügung von Todes wegen dar, sondern sie bleibe ein güterrechtlicher Vertrag unter Lebenden. Der Tod des einen Gatten sei nicht der Rechtsgrund der Vereinbarung, sondern nur der Erfüllungszeitpunkt. Eine solche Vereinbarung könne deshalb nicht gemäss Art. 522 ZGB als herabsetzbare Verfügung von Todes wegen angesehen werden. Zuwendungen von Todes wegen könnten im übrigen nur durch Verfügungen von Todes wegen, das heisst durch Testament oder Erbvertrag, erfolgen. Auch eine Herabsetzung nach Art. 527 ZGB falle ausser Betracht. Die bei der Gütergemeinschaft vorgesehene Regelung des Art. 226 ZGB könne auf Fälle der Güterverbindung nicht, auch nicht analog, angewendet werden. Aus diesen Gründen unterlägen

BGE 102 II 313 (320):

Vereinbarungen über die Vorschlagsteilung einzig den Schranken von Art. 2 Abs. 2 ZGB.
Dieses Urteil, das für die spätere bundesgerichtliche Rechtsprechung wegleitend blieb (BGE 100 II 277 /278 Erw. 5, BGE 99 Ia 310 ff.; vgl. auch BGE 99 II 11 ff.), brachte indessen die Kritik nicht zum Verstummen. Verschiedene namhafte Autoren forderten erneut, dass Vereinbarungen im Sinne von Art. 214 Abs. 3 ZGB, allenfalls unter gewissen Voraussetzungen, der Herabsetzung zu unterstellen seien (LEMP, N. 93/94 zu Art. 214 ZGB; PIOTET, Droit successoral, Traité de droit privé suisse, IV, S. 186/187, 414, sowie ZBJV 1976 S. 335 ff.; DESCHENAUX, SJK 1246, insbesondere S. 15; BORNAND, Note sur la répartition conventionnelle entre les époux, particulièrement en faveur de la femme, du bénéfice de l'union conjugale dans le régime matrimonial de l'union des biens, ZBGR 1957 S. 65 ff.; MOOR, La convention sur le bénéfice dans le régime matrimonial de l'union des biens, Diss. Lausanne 1966, insbesondere S. 135; KLAUS, Pflichtteilsrecht und güterrechtliche Verfügungen, Diss. Zürich 1971, insbesondere S. 129). Es erscheint daher als gerechtfertigt, die Frage einer erneuten Prüfung zu unterziehen.
3. In BGE 82 II 485 führte das Bundesgericht aus, die Gesetzesmaterialien liessen den Schluss nicht zu, der Gesetzgeber habe ehevertragliche Vereinbarungen über den Vorschlag der Herabsetzung unterstellen wollen. Es sagte indessen zu Recht nicht, die Herabsetzbarkeit solcher Vereinbarungen stehe mit den Materialien geradezu in Widerspruch. Das Bundesgericht untersuchte damals vor allem die Entstehung des heutigen Art. 214 Abs. 3 ZGB und stellte dabei fest, es sei weder in diesem Zusammenhang noch bei den Beratungen über die Eheverträge im allgemeinen je die Rede davon gewesen, dass Vereinbarungen über die Teilung des Vorschlages irgendwelchen Einschränkungen unterstünden. Daraus lässt sich jedoch nicht schliessen, der Gesetzgeber habe derartige Eheverträge dem Pflichtteilsrecht entziehen wollen. Besonderer Diskussionen über die Schranken der vertraglichen Vorschlagszuweisung bedurfte es nicht, hatten doch die eidgenössischen Räte sämtliche ehevertragliche Zuwendungen generell der Herabsetzung unterstellt, indem sie im Abschnitt über den Ehevertrag folgenden Art. 204 aufnahmen (Sten.Bull. 1905 S. 689-695, 1102-1105):


BGE 102 II 313 (321):

"Bei allgemeiner Gütergemeinschaft können die Ehegatten, für den Fall desTodes eines derselben, eine beliebige Teilung des Gesamtvermögensverabreden, mit der Beschränkung, dass dessen Nachkommen wenigstens einViertel des bei seinem Tode vorhandenen Gesamtvermögens zufallen muss.Bei den andern Güterständen unterliegen vertragliche Zuwendungenausschliesslich den Beschränkungen des Pflichtteilsrechtes (478)."
Bei der endgültigen Redaktion des Gesetzes, die einer besonderen Redaktionskommission oblag, wurde Abs. 1 dieser Bestimmung zum heutigen Art. 226 Abs. 2 ZGB, während Abs. 2 ersatzlos gestrichen wurde (zur Entstehungsgeschichte eingehend KLAUS, a.a.O. S. 107 ff.). Da die Redaktionskommission materielle Änderungen an dem von den Räten angenommenen Text weder vornehmen wollte noch konnte, muss doch wohl angenommen werden, die Streichung von Abs. 2 sei deswegen erfolgt, weil der Vorbehalt des Pflichtteilsrechtes als selbstverständlich angesehen wurde. Diese Meinung vertrat jedenfalls der als Gesetzesredaktor, Berichterstatter im Nationalrat und Mitglied der Redaktionskommission mit dem Gang des Gesetzgebungsverfahrens bestens vertraute EUGEN HUBER in der 2. Ausgabe seiner Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidg. Justiz- und Polizeidepartementes, die erst nach dem Inkrafttreten des ZGB erschienen und durch Verweisungen darauf ergänzt sind (Bd. 1 S. 122 N. 3 und S. 185 N. 1). Die Autoren, die sich mit der Entstehungsgeschichte des Gesetzes befasst haben, sind der gleichen Ansicht (LEMP, N. 93 zu Art. 214 ZGB; CAVIN, Régime matrimonial et droit de succession, in Mélanges Guisan, 1950, S. 109-115; EGGER, Ehevertragliche Vereinbarungen über den Vorschlag, ZBGR 1952 S. 171-173; MEIER-HAYOZ, Die Bedeutung der Materialien für die Gesetzesauslegung, SJZ 1952 S. 334; MOOR, a.a.O. S. 117-120; KLAUS, a.a.O. S. 114-116). Zumindest entkräftet die Entstehungsgeschichte des Gesetzes das Argument, aus Art. 226 Abs. 2 ZGB lasse sich durch Umkehrschluss ableiten, Vereinbarungen über die Vorschlagsteilung seien im Gegensatz zu solchen über die Teilung des Gesamtgutes bei der Gütergemeinschaft keinerlei Beschränkungen unterworfen.


BGE 102 II 313 (322):

Dabei hat es jedoch übersehen, dass den Vorschriften über die Verfügungen von Todes wegen nach Art. 245 Abs. 2 OR auch Schenkungen unterstehen, deren Vollziehbarkeit auf den Tod des Schenkers gestellt ist. Auf solche Schenkungen sind insbesondere auch die Bestimmungen über die Herabsetzung anwendbar (BGE 96 II 96 Erw. 8d, 89 II 92/93 Erw. 5). Zu prüfen ist somit, ob die ehevertragliche Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden Ehegatten unter Art. 245 Abs. 2 OR falle.
a) Dass die Vollziehbarkeit der Zuwendung auf den Tod des Zuwendenden gestellt ist, liegt in der Natur dieser Art der Vorschlagsteilung und bedarf keiner weiteren Begründung. Schwieriger ist die Beurteilung der Frage, ob es sich überhaupt um eine Schenkung handle. Als Schenkung gilt nach Art. 239 Abs. 1 OR jede Zuwendung, womit jemand aus seinem Vermögen einen andern ohne entsprechende Gegenleistung bereichert. Fraglich ist zunächst, ob die Zuweisung des Vorschlages "aus dem Vermögen" des Zuwendenden erfolge. Nach Abs. 2 von Art. 239 OR liegt keine Zuwendung aus dem Vermögen des Zuwendenden und damit keine Schenkung vor, wenn dieser auf ein Recht verzichtet, das er noch nicht erworben hat. In BGE 82 II 489 hat das Bundesgericht diesbezüglich ausgeführt, die Ehefrau habe während der Ehe keinen Anspruch auf ihren Anteil am Vorschlag; dieser entstehe vielmehr erst bei der Auflösung des Güterstandes. Wenn die Ehefrau zugunsten des Mannes auf ihren Vorschlagsanteil verzichte, mache sie daher keine Schenkung, die herabsetzbar wäre. Unter diesen Umständen könne aber auch der Verzicht des Mannes nicht als herabsetzbare Schenkung angesehen werden.
Dass der Anspruch der Frau auf ihren Anteil am Vorschlag erst bei Auflösung des Güterstandes entstehe, trifft indessen nicht zu. Richtig ist nur, dass er erst in diesem Zeitpunkt geltend gemacht werden kann. Im übrigen aber besteht der Anspruch als Anwartschaft schon während der Ehe (LEMP, N. 6 zu Art. 214 ZGB; DESCHENAUX, SJK 1246 S. 2; KNAPP, Le régime matrimonial de l'union des biens, N. 810; KRADOLFER, Schutz des Rechts der Ehefrau auf Vorschlagsteilhabe, Diss. Zürich 1974 S. 64 ff.). Die Vorschlagsbeteiligung der Ehefrau gehört zum Wesen des Güterstandes der Güterverbindung, wie er im ZGB geordnet ist. Sie kann sich jederzeit

BGE 102 II 313 (323):

aktualisieren, nicht nur im Falle der Auflösung der Ehe durch Tod eines Ehegatten oder durch Scheidung, sondern auch schon während der Ehe bei Eintritt des ausserordentlichen Güterstandes (Art. 182 ff. ZGB). So können die Gläubiger der Ehefrau nach Art. 185 ZGB die richterliche Anordnung der Gütertrennung verlangen und dadurch auf den Vorschlagsanteil greifen, wenn sie in der Betreibung zu Verlust gekommen sind (LEMP, N. 6 zu Art. 185 ZGB). Nach der Lehre kann die Ehefrau ihre künftige Forderung auf Anteil am Vorschlag sogar an Dritte abtreten (LEMP, N. 88 zu Art. 214 ZGB; KRADOLFER, a.a.O. S. 74). Der Vorschlagsanteil bildet somit schon vor der Auflösung des Güterstandes Bestandteil ihres Vermögens. Es lässt sich daher nicht sagen, durch die Zuweisung des Vorschlages an den Mann für den Fall ihres Vorversterbens verzichte die Ehefrau im Sinne von Art. 239 Abs. 2 OR auf ein Recht, bevor sie es erworben habe.
Dazu kommt, dass sich der Verzicht auf ein noch nicht erworbenes Recht dadurch auszeichnet, dass bei ihm anders als bei der Schenkung kein rechtlicher Zusammenhang zwischen der Entreicherung des Verzichtenden und der Bereicherung des Begünstigten besteht (GUHL/MERZ/KUMMER, Das schweizerische Obligationenrecht, 6. Aufl., S. 341; PIOTET, ZBJV 1976, S. 336, ZSR 1971, S. 40; MOOR, a.a.O. S. 110/111). Aus diesem Grund ist die Nichtannahme einer Vertragsofferte, der Verzicht auf die Anfechtung eines Rechtsgeschäfts oder die Nichtausübung eines Kaufsrechtes nicht als Schenkung zu betrachten (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 8 zu Art. 239 OR), ebensowenig die in Art. 239 Abs. 2 OR besonders erwähnte Ausschlagung einer Erbschaft. In diesen Fällen hat die Begünstigung des "Beschenkten" ihren Rechtsgrund nicht im Verzicht des "Schenkers". Wird z.B. ein an sich wegen Irrtums anfechtbarer Kaufvertrag vom Verkäufer unangefochten gelassen, so erwirbt der Käufer die Kaufsache auf Grund des Vertrages und nicht auf Grund des Verzichts auf Anfechtung. Beim Verzicht der Ehefrau auf ihren Anteil am Vorschlag verhält es sich jedoch anders. Bereicherung und Entreicherung sind hier reziprok; die im Vermögen des Ehemannes eintretende Bereicherung ist die direkte Folge dieses Verzichts und hat keinen andern Rechtsgrund als den Ehevertrag. Dass die ehevertragliche Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden Ehegatten eine Schenkung sei, lässt sich

BGE 102 II 313 (324):

daher nicht mit der Begründung bestreiten, auf Seiten der Frau liege keine Zuwendung "aus ihrem Vermögen" vor.
Im übrigen ist nicht einzusehen, aus welchem Grund der Verzicht der Frau auf Vorschlagsbeteiligung anders behandelt werden sollte als derjenige des Mannes. Als Vorschlag wird das Ergebnis einer bei Auflösung des Güterstandes vorzunehmenden Rechenoperation bezeichnet. An diesem Saldo ist naturgemäss Eigentum nicht denkbar. Der Vorschlag kann demzufolge nicht im Eigentum des Mannes stehen. So gut wie die Frau hat auch der Mann nur die Aussicht, bei Auflösung des Güterstandes dereinst einen Teil des erzielten Vorschlags für sich beanspruchen zu dürfen. Freilich ist richtig, dass der Ehemann Eigentümer der Errungenschaft ist (Art. 195 Abs. 2 ZGB). Daraus folgt aber nur, dass der Anspruch der Ehefrau auf Vorschlagsbeteiligung in der Regel in einer Geldforderung gegen den Mann besteht (BGE 100 II 73). Der Vorschlagsanspruch des Mannes deckt sich deswegen nicht mit seinem Eigentum an der Errungenschaft. Erfährt z.B. eine von der Frau eingebrachte Liegenschaft infolge von Investitionen aus der Errungenschaft eine Wertsteigerung, so ist durchaus denkbar, dass der Mann einen Anspruch auf Beteiligung am Vorschlag hat, ohne Eigentümer von Errungenschaft zu sein. Dieser Anspruch unterscheidet sich qualitativ nicht von demjenigen der Frau.
b) Von einer Schenkung kann sodann nur gesprochen werden, wenn die Zuwendung "ohne entsprechende Gegenleistung", also unentgeltlich, erfolgt ist.
Ehevertragliche Änderungen der Vorschlagsteilung können aus den verschiedensten Motiven vorgenommen werden. Eheleute können sich insbesondere dann veranlasst sehen, von der gesetzlichen Vorschlagsteilung abzuweichen, wenn die Erzielung eines Vorschlages ausschliesslich oder doch vorwiegend bloss dem einen von ihnen zuzuschreiben ist, so etwa, wenn nur dank den Erträgnissen des Frauengutes oder der intensiven Mitarbeit der Ehefrau im Geschäft des Mannes ein Vorschlag geäufnet werden konnte. Es liegt nahe, derart güterrechtlich begründete Zuwendungen als entgeltlich zu betrachten. Bei der Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden Ehegatten fehlt es indessen auf jeden Fall an einer güterrechtlichen Rechtfertigung. Mit einer solchen Vereinbarung bekunden die Ehegatten, dass die Begünstigung nicht von besonderen

BGE 102 II 313 (325):

Verdiensten um das Zustandekommen des Vorschlags, sondern allein von der Zufälligkeit der Absterbeordnung abhängen soll. Die Zuwendung erweist sich damit nicht als Gegenleistung für den Beitrag an der Erzielung des Vorschlags, sondern als reine Liberalität (LEMP, N. 94 zu Art. 214 ZGB; CAVIN, a.a.O. S. 117; KLAUS, a.a.O. S. 81, 123). Freilich kann sich ergeben, dass der Vorschlag schliesslich gerade demjenigen Ehegatten zufällt, der sich durch besonderen Einsatz für die eheliche Gemeinschaft ausgezeichnet hat, wie es die Beklagte 1 im vorliegenden Fall für sich behauptet. Dadurch wird aber die Zuwendung nicht entgeltlich. Dass gerade dieser Ehegatte begünstigt wird, beruht auf Zufall und nicht auf dessen Verdiensten. Wäre dem nicht so, hätte die Zuwendung einen andern Rechtsgrund als die in der Vereinbarung ebenfalls enthaltene, bedingte Zuwendung an den andern Ehegatten. Die Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden Ehegatten kann jedoch nicht auf einem verschiedenen Rechtsgrund beruhen, je nachdem ob der Mann oder die Frau zuerst stirbt. Die Unentgeltlichkeit derartiger Eheverträge wird ferner auch nicht etwa dadurch ausgeschlossen, dass die Zuweisung des Vorschlags gegenseitig ist. Wenn der Mann für den Fall seines Vorversterbens seinen Vorschlagsanteil der Frau zuwendet, so ist dies nicht die Gegenleistung dafür, dass auch die Frau für den Fall ihres Vorversterbens eine entsprechende Zuwendung macht.
c) Gegen die Anwendbarkeit von Art. 245 Abs. 2 OR liesse sich einwenden, die wirtschaftliche Vorsorge für den überlebenden Ehegatten, die mit derartigen Eheverträgen bezweckt werde, könne sittlich geboten sein; die Erfüllung einer sittlichen Pflicht werde aber nach Art. 239 Abs. 3 OR nicht als Schenkung behandelt. Ob eine Schenkung auf den Todesfall deswegen der Herabsetzung entzogen sei, weil sie in Erfüllung einer sittlichen Pflicht erfolgte, beurteilt sich indessen nach Erbrecht und nicht nach Schenkungsrecht. Im Erbrecht wird nun bei der Frage der Herabsetzbarkeit nicht darauf abgestellt, aus welchen Gründen eine Zuwendung gemacht worden ist. So unterliegt z.B. die testamentarische Begünstigung der Ehefrau der Herabsetzung ungeachtet dessen, ob die Sitte den Ehemann zu dieser Verfügung verpflichtete. Schliesst der Ehemann zugunsten der Ehefrau eine Lebensversicherung ab, um sie auf diese Weise für den Fall seines Todes zu sichern, so

BGE 102 II 313 (326):

unterliegt der Versicherungsanspruch nach Art. 529 ZGB mit dem Rückkaufswert ebenfalls der Herabsetzung, ohne dass es auf die Gründe der Begünstigung ankäme. Endlich unterstellt das Gesetz selbst in Art. 527 Ziff. 1 ZGB gewisse Zuwendungen der Herabsetzung, die sehr häufig in Erfüllung einer sittlichen Pflicht gemacht werden, wie z.B. die Ausrichtung einer Aussteuer. Die Herabsetzbarkeit einer Zuwendung hat daher nichts damit zu tun, ob diese in Erfüllung einer sittlichen Pflicht erfolgte oder nicht (PIOTET, Droit successoral, S. 416, ZSR 1971, S. 39 ff.). Dies lässt sich dadurch rechtfertigen, dass der Pflichtteilsschutz nach der Auffassung des Gesetzgebers ebenfalls auf einer sittlichen Grundlage beruht. Die sittliche Pflicht, für den überlebenden Ehegatten vorzusorgen, darf deshalb nicht gegen das im Gesetz verankerte Pflichtteilsrecht ausgespielt werden.
d) Die ehevertragliche Zuweisung des Vorschlags an den "überlebenden Ehegatten" ist somit als Schenkung auf den Todesfall im Sinne von Art. 245 Abs. 2 OR anzusehen. Sie ist daher wie eine Verfügung von Todes wegen herabsetzbar (in diesem Sinne PIOTET, ZBJV 1976 S. 335; DESCHENAUX, SJK 1246, S. 15; MOOR, a.a.O. S. 104 ff.; KLAUS, a.a.O. S. 85 ff.).
5. Für dieses Ergebnis sprechen auch sachliche Überlegungen. Besteht das eheliche Vermögen, wie das häufig der Fall ist, praktisch nur aus Errungenschaft, so können die Nachkommen nach der bisherigen Rechtsprechung durch die Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden Ehegatten völlig von der Erbschaft ausgeschlossen werden. Das ist vor allem dann stossend, wenn wie im vorliegenden Fall Kinder aus einer früheren Ehe vorhanden sind, denen gegenüber der Ehevertrag wie eine Enterbung wirkt (EGGER, a.a.O. S. 180). Aber auch gemeinsame Kinder werden durch eine derartige Vereinbarung in ihrem Erbrecht stark beeinträchtigt. Wohl besteht für sie die Aussicht, dereinst den überlebenden Ehegatten beerben zu können. Bis dies der Fall ist, kann es jedoch Jahre dauern, und das Vermögen kann sich in dieser Zeit vermindern. Zudem kann der Ehegatte über die freie Quote seines Vermögens letztwillig verfügen. Ferner kann er sich ein zweites Mal verheiraten und es können ihm weitere Kinder geboren werden, was die Erbanwartschaft der Kinder aus der ersten Ehe zusätzlich schmälert. Durch ehevertragliche Vereinbarungen über den Vorschlag kann somit das Pflichtteilsrecht

BGE 102 II 313 (327):

illusorisch gemacht werden. Angesichts der hohen Bedeutung, die das Gesetz dem Pflichtteilsschutz beimisst, kann dies nicht zugelassen werden.
Freilich entspricht es einem legitimen Bedürfnis, den überlebenden Ehegatten sicherzustellen und ihm im Alter ein Absinken im Lebensstandard zu ersparen. Die Motive, welche die Eheleute zum Abschluss eines derartigen Ehevertrages veranlassen, können denn auch durchaus achtenswert sein. Die Sicherung des überlebenden Ehegatten darf jedoch nicht auf Kosten der Pflichtteilsrechte gehen. Das Gesetz geht davon aus, dass der überlebende Ehegatte durch seinen Anteil am Vorschlag, durch seinen Erbanspruch und durch allfällige Zuwendungen im Rahmen der verfügbaren Quote hinreichend gesichert ist. Es ist Sache des Gesetzgebers, hier Abhilfe zu schaffen, wenn er dies als erforderlich erachten sollte.
Aus all diesen Gründen ist die ehevertragliche Zuweisung des Vorschlages an den überlebenden Ehegatten in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung der Herabsetzung zu unterstellen. Dabei erscheint es jedoch als gerechtfertigt, den Pflichtteilschutz gegenüber derartigen güterrechtlichen Verfügungen auf die Nachkommen der Ehegatten zu beschränken. Weiter entfernten Pflichtteilserben ist zuzumuten, dass ihnen das, was die Ehegatten während der Ehe gemeinsam erarbeitet haben, entzogen wird. Auf Seiten der Ehefrau haben diese Erben ohnehin keinen Anspruch auf den Vorschlag (Art. 214 Abs. 1 ZGB). Sodann ginge es nicht an, bei Eheverträgen über die Vorschlagsteilung sämtlichen Pflichtteilsberechtigten die Herabsetzungsklage zuzubilligen, während gegenüber ehevertraglichen Vereinbarungen über die Teilung des Gesamtgutes unter dem Güterstand der Gütergemeinschaft nach Art. 226 Abs. 2 ZGB ausdrücklich nur die Nachkommen geschützt sind. Bei krasser Beeinträchtigung der Rechte weiter entfernter Pflichtteilserben hilft weiterhin das Verbot des Rechtsmissbrauchs (vgl. BGE 99 II 9 ff.).
6. Wird die Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden Ehegatten grundsätzlich als herabsetzbar erklärt, so ist die Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird zu prüfen haben, ob die Pflichtteilsrechte der Klägerin verletzt sind. Zu diesem Zweck ist vorerst die Höhe des Vorschlags zu ermitteln. Dabei ist insbesondere abzuklären, ob die vom Erblasser

BGE 102 II 313 (328):

während der Ehe auf die Beklagte 1 übertragene Liegenschaft Notkerstrasse 12 in St. Gallen bei der Vorschlagsberechnung mitzuberücksichtigen ist. Vom Vorschlag fällt ein Drittel von Gesetzes wegen der Beklagten 1 zu. Lediglich die restlichen zwei Drittel sind ihr unentgeltlich zugewendet worden. Nur dieser Teil ist daher für die Berechnung der verfügbaren Quote zum Nachlass hinzuzurechnen. Dazu kommen gegebenenfalls die von der Klägerin behaupteten herabsetzbaren Zuwendungen unter Lebenden. Der Pflichtteil der Klägerin beträgt unbestrittenermassen 9/32.
Wie die Vorinstanz dabei ihre Beweise zu ergänzen hat, regelt sich nach kantonalem Prozessrecht und der Vorschrift des Art. 8 ZGB. Hinsichtlich der künftigen Beweisabnahme hat das Bundesgericht der Vorinstanz keine Weisungen zu erteilen. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in der Berufungsschrift ist deshalb nicht einzutreten. Sollte die Vorinstanz die für sie massgebenden Beweisregeln verletzen, könnte ihr neuer Entscheid mit den zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln angefochten werden.
7. In Ziff. 6b des Ehe- und Erbvertrags verfügte der Erblasser im Sinne einer Teilungsvorschrift, dass seine Ehefrau verschiedene Liegenschaften zum Steuerwert, den von ihm eingebrachten Hausrat sowie die Teppichfirma Müller zu Alleineigentum übernehmen könne. Die Klägerin beantragt, das in dieser Teilungsvorschrift sinngemäss enthaltene Vorausvermächtnis sei der Herabsetzung, eventuell der Ausgleichung zu unterstellen. Die fragliche Teilungsanordnung ist indessen weitgehend gegenstandslos, so dass dadurch zum vorneherein keine Pflichtteilsrechte verletzt sein können. Sämtliche Liegenschaften hat der Erblasser schon zu seinen Lebzeiten veräussert. Auch das Teppichgeschäft war nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz beim Tod des Erblassers nicht mehr vorhanden. Was schliesslich den eingebrachten Hausrat anbetrifft, so bestreitet die Klägerin nicht, dass dieser einzig in einer "Stube" im Wert von Fr. 820.-- besteht. Diesen Betrag hat die Vorinstanz aber in ihrer Nachlassberechnung berücksichtigt.
8. Die Klägerin verlangt ferner, es sei festzustellen, dass der Beklagte 2 für alle vom Erblasser zu dessen Lebzeiten erhaltenen Zuwendungen, insbesondere für eine solche im Werte von Fr. 15'000.--, ausgleichungspflichtig sei. Die Vorinstanz

BGE 102 II 313 (329):

gelangte in ihrem Urteil jedoch zum Ergebnis, eine unentgeltliche Zuwendung des Erblassers an den Beklagten 2 sei nicht bewiesen. Das ist eine Feststellung tatsächlicher Art, die das Bundesgericht bindet. Was die Klägerin dagegen einwendet, richtet sich gegen die vorinstanzliche Beweiswürdigung, die im Berufungsverfahren vor Bundesgericht nicht angefochten werden darf. Die Berufung erweist sich daher auch in diesem Punkt als unbegründet.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen und das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen (I. Zivilkammer) vom 9. Juli 1975 aufgehoben; die Sache wird zur Ergänzung der Akten und zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.