BGE 85 II 233
 
37. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 15. Oktober 1959 i.S. C. gegen Vormundschaftsbehörde O.
 
Regeste
Die Beistandschaft gemäss Art. 393 Ziff. 2 ZGB kann nicht dazu dienen, einer Person Fürsorge in persönlichen Angelegenheiten angedeihen zu lassen und sie an einer unvernünftigen Verwendung ihrer Mittel zu hindern.
 
Sachverhalt


BGE 85 II 233 (234):

Der früher in der Landwirtschaft, dann als Bau-, Wald- und Gelegenheitsarbeiter und Angestellter einer Sesselbahn tätig gewesene, im Frühjahr 1954 an schwerer Lungentuberkulose erkrankte C. wurde Ende 1956 klinisch geheilt aus der Sanatoriumsbehandlung entlassen. Da er in der Folge, obwohl nach ärztlichem Urteil zu leichter Arbeit fähig, "nicht viel arbeitete" und deshalb mit seiner Familie öffentlich unterstützt werden musste, liess ihn die Vormundschaftsbehörde im Herbst 1958 psychiatrisch begutachten. Das Gutachten stellte bei ihm eine hysterische Neurose fest und befürwortete seine Entmündigung wegen Geistesschwäche im Sinne von Art. 369 ZGB. Darauf bestellte ihm die Vormundschaftsbehörde gestützt auf Art. 393 ZGB einen Beistand mit dem Auftrag, ihn zur Annahme einer ihm zumutbaren Arbeit zu veranlassen. Für den Fall, dass er sich weigern sollte, eine solche anzunehmen, stellte sie ihm die Umwandlung der Beistandschaft in eine Vormundschaft und die Einweisung in eine Heilanstalt zur psychotherapeutischen Behandlung in Aussicht.
Die obern kantonalen Behörden haben die Anordnung der Beistandschaft bestätigt. Das Bundesgericht hebt diese Massnahme auf.
 
Begründung:
Die Vorinstanz will wie schon die Vormundschaftsbehörde Art. 393 ZGB, insbesondere Ziff. 2 dieser Bestimmung, zur Anwendung bringen. Darnach ist ein Beistand zu ernennen, wenn einem Vermögen die nötige Verwaltung fehlt, namentlich wenn eine Person unfähig ist, die Verwaltung ihres Vermögens selbst zu besorgen oder einen Vertreter zu bestellen. Die Beistandschaft im Sinne von Art. 393 Ziff. 2 ZGB bezieht sich also, wie auch schon der Randtitel besagt, nur auf die Vermögensverwaltung. Sie kann zudem nur gegenüber Personen angeordnet werden, die faktisch nicht in der Lage sind, die in Art. 393 Ziff. 2 ZGB genannten Handlungen vorzunehmen (BGE 80 II

BGE 85 II 233 (235):

198). Auf jeden Fall kann sie nicht zum Schutze von Personen dienen, die nicht nur die tatsächliche Möglichkeit, sondern auch den Willen haben, ihr Vermögen selber zu verwalten oder durch einen selbstgewählten Vertreter verwalten zu lassen, dies aber nicht in vernünftiger Weise zu tun vermögen; denn eine blosse Beistandschaft hat gemäss Art. 417 ZGB auf die Handlungsfähigkeit der verbeiständeten Person keinen Einfluss, so dass ein Verbeiständeter, der imstande und gewillt ist, selber zu handeln, die Handlungen des Beistandes durchkreuzen oder ihnen zuvorkommen kann (BGE 71 II 20).
Im vorliegenden Falle geht es den kantonalen Behörden mindestens in erster Linie nicht um die Sorge für die gehörige Verwaltung vorhandener Vermögenswerte, sondern darum, für C. einen Betreuer zu bestellen, der ihn zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit veranlassen soll. Sie wollen ihm also persönliche Fürsorge angedeihen lassen. Hiezu ist die Anordnung einer Beistandschaft schlechterdings untauglich. Solche Fürsorge zu gewähren, ist unter den vormundschaftlichen Organen einzig der Vormund berufen (Art. 406 ZGB).
Als Angelegenheit der "Vermögensverwaltung", der sich die kantonalen Behörden möglicherweise neben der Person C. annehmen möchten, kommt höchstens die Verwendung der Einkünfte in Betracht, die der Familie C. aus der Erwerbstätigkeit der Ehefrau (und später vielleicht des Ehemannes) sowie aus Armenunterstützung zufliessen. Nach den Akten der Vormundschaftsbehörde haben die Eheleute C. den im Jahre 1943 geborenen Sohn auswärts in einer Privatschule untergebracht, was pro Quartal Fr. 530.-- kostet, während dieser Knabe nach der Auffassung der Behörden ebensogut die öffentliche Schule am Wohnort der Eltern besuchen könnte. Eine Beistandschaft bietet jedoch, wie bereits festgestellt, keine Handhabe, um jemanden an einer unvernünftigen Verwendung seiner Mittel zu hindern. Auch zu diesem Zweck darf daher eine Beistandschaft nicht angeordnet werden.


BGE 85 II 233 (236):

Aus diesen Gründen ist die von den kantonalen Behörden getroffene Massnahme aufzuheben. Es bleibt diesen Behörden vorbehalten, die Frage zu prüfen, ob eine Entmündigung geboten sei oder ob sich eine solche erübrige, nachdem C. gemäss seiner Darstellung eine Tätigkeit ergriffen hat, welche die Vormundschaftsbehörde, nach ihren Vernehmlassungen zu schliessen, anscheinend als für ihn geeignet gelten lassen will (Besorgung des Haushalts einschliesslich der Zubereitung sämtlicher Mahlzeiten für die Familie und einige Pensionäre).