BGE 84 II 202
 
29. Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. Mai 1958 i.S. Meier gegen Elektrische Bahn Stansstad-Engelberg AG
 
Regeste
Eisenbahnhaftpflicht, Verjährung.
Unterbrechung der Verjährung durch Betreibung oder Ladung zu einem amtlichen Sühnversuch (Art. 14 Abs. 2 EHG, Art. 135 Ziff. 2 OR).
 
Sachverhalt


BGE 84 II 202 (202):

A.- Am 15. August 1949 stiess das von Eugen Meier geführte Personenauto auf einem unbewachten Bahnübergang in Stansstad mit einem Motorwagen der StansstadEngelberg-Bahn zusammen. Die Ehefrau und der dreijährige Sohn Meiers fanden dabei den Tod. Meier selber und seine sechsjährige Tochter Myrtha erlitten zahlreiche Verletzungen.
Mit Urteil vom 31. Januar 1951 verurteilte das Kantonsgericht Nidwalden den Führer des Motorwagens wegen

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fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs zu einer Geldbusse von Fr. 50.-, sprach Meier, der wegen der gleichen Delikte angeklagt war, mangels eines strafrechtlichen Verschuldens frei und erkannte: "Die zivilrechtlichen Ansprüche der Geschädigten werden gerichtlich gewahrt."
B.- Eugen Meier und die durch ihn vertretene Tochter Myrtha liessen die Bahngesellschaft auf den 13. August 1951 vor den Friedensrichter von Luzern (Sitz der Bahngesellschaft) laden, wo sie das Rechtsbegehren stellten, die Bahngesellschaft habe an Eugen Meier Fr. 100'000.-- und an Myrtha Meier Fr. 5000.-- zu bezahlen (je nebst Zins zu 5% seit 15. August 1949). Die Beklagte erschien nicht.
C.- Nach einem weitern erfolglosen Sühnversuch vom 23. Dezember 1952 reichten Eugen und Myrtha Meier am 19. Januar 1953 beim Amtsgericht Luzern-Stadt Klage gegen die Bahngesellschaft ein mit den Begehren, die Beklagte habe an Eugen Meier Fr. 96'844.13 und an seine Tochter Fr. 10'000.-- (je nebst Zins) zu bezahlen und die Kläger seien als berechtigt zu erklären, auf Abänderung des Urteils zu klagen. Die Forderung Meiers setzte sich aus den Posten Bestattungskosten, Versorgerschaden, Heilungskosten, Verdienstausfall bis Ende 1953 (Fr. 49'555.--), Entschädigung für Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens wegen Entstellung im Gesicht und Schmerzanfälligkeit (Fr. 15'000.--), Sachschaden und Genugtuung zusammen. Das Begehren um Aufnahme eines Nachklagevorbehalts in das Urteil begründete er damit, dass die wirtschaftlichen Folgen der Körperverletzung für die Jahre 1953 und folgende noch nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar seien: "Sollte für das Jahr 1953 die erwartete Besserung und für die Jahre 1954 ff. eine vollständige Besserung nicht eintreten, so müsste man sich vorbehalten, weitere Forderungen geltend zu machen." Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage wegen ausschliesslicher Schuld Eugen Meiers, eventuell Herabsetzung der Klageforderung,

BGE 84 II 202 (204):

und machte als "konnexen Gegenanspruch" eine Schadenersatzforderung von Fr. 2268.-- gegen Eugen Meier geltend. Einen Nachklagevorbehalt bezeichnete sie als unnötig, weil es sicher möglich sein werde, durch eine ärztliche Expertise die wirklichen Verhältnisse abzuklären.
Der Sachverständige Dr. Naef kam in seinem Gutachten vom 13. Dezember 1954 zum Schluss, Eugen Meier sei vom Unfalltage bis zum 25. April 1950 voll, von da an bis Ende 1951 zu 2/3, im Jahre 1952 zu 50% und im Jahre 1953 zu 1/3 arbeitsunfähig gewesen. Eine unfallbedingte Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens sei in dem Sinne vorhanden, dass er seine frühere Tätigkeit in der Schuhfabrik Bally habe aufgeben müssen und dass seine Kopfschmerzanfälle auch heute noch seine Arbeitsfähigkeit, d.h. seine Konkurrenzfähigkeit als Vertreter, beschränkten. In Beantwortung der Frage 4, ob nach dem gegenwärtigen Zustand Meiers vom medizinischen Standpunkt aus ein Nachklagevorbehalt gerechtfertigt sei, erklärte der Sachverständige, der gegenwärtige Gesundheitszustand Meiers lasse eine spätere Verschlimmerung (erhöhte Krampfbereitschaft des Nervensystems und der Blutgefässe bei zunehmendem Alter) nicht mit Sicherheit ausschliessen. Auf die letzte Frage, ob der Fall ihm noch zu weitern Feststellungen Anlass gebe, antwortete der Sachverständige, Meier habe ein sehr ausgeprägtes Krankheitsbewusstsein, das seine Leistungsfähigkeit beeinträchtige und von dem er sich kaum befreien könne, solange seine Ansprüche unerledigt seien; da eine weitere Besserung der organischen Schädigung wenig wahrscheinlich sei, erachte er (der Sachverständige) "die Abfindung auf der Grundlage der Annahme einer Dauerinvalidität von 25% für ratsam mit dem Vorbehalt der Antwort auf Frage 4". In seinem Ergänzungsgutachten vom 17. Februar 1955 erklärte er, Meier sei während des ganzen Jahres 1950 (also nicht bloss bis 25. April) vollständig arbeitsunfähig gewesen, und hielt daran fest, dass ab 1. Januar 1954 eine Dauerinvalidität von 25% anzunehmen sei.


BGE 84 II 202 (205):

In seinem Urteil vom 9. Juli 1955 bezifferte das Amtsgericht den Eugen Meier erwachsenen Schaden auf Fr. 54'820. Davon entfallen Fr. 37'870.-- auf die Erwerbseinbusse in der Zeit vom Unfall bis Ende 1953 und Fr. 5000.-- auf die Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens (bleibende Behinderung auf dem Arbeitsmarrkt). Von diesem letzten Punkte abgesehen, berücksichtigte das Amtsgericht die vom Sachverständigen angenommene Dauerinvalidität bei der Schadensberechnung nicht, weil Meier kein entsprechendes Begehren gestellt hatte. Auf Grund der Annahme, dass vom Schaden beider Parteien aus dem Zusammenstoss 3/4 von der Bahn und 1/4 von Meier zu tragen seien, zog es von der Summe von Fr. 54'820.-- 1/4 dieses Betrages (Fr. 13'705.--) sowie 1/4 des der Bahn entstandenen Sachschadens (Fr. 567.--) ab. Als Genugtuung sprach es Meier Fr. 3000.-- zu. Demgemäss verpflichtete es die Beklagte, Meier Fr. 43'548.-- nebst Zins zu bezahlen. Seiner Tochter sprach es Fr. 2000.-- zu. Die anderslautenden und weitergehenden Begehren der Parteien wies es ab, insbesondere also das Begehren, in das Urteil sei ein Nachklagevorbehalt aufzunehmen. Hinsichtlich der Erwerbseinbusse im Jahre 1953 bezeichnete es dieses Begehren als überholt, und für die Folgezeit lehnte es einen Änderungsvorbehalt mit der Begründung ab, dass nur ein Urteil über einen geltend gemachten Anspruch abgeändert werden könne und Schadenersatz für Invalidität von 1954 an nicht verlangt werde.
D.- Eugen Meier und seine Tochter appellierten gegen dieses Urteil an das Obergericht des Kantons Luzern, wobei sie u.a. das Begehren erneuerten, sie seien als berechtigt zu erklären, auf Abänderung des Urteils zu klagen. Die Bahn schloss sich der Appellation an. In der Folge beschränkten die Kläger ihre Appellation auf den Kostenpunkt. Mit Bezug auf den Hauptpunkt wurde die Appellation für Eugen Meier zurückgezogen, während seine Tochter ein Vergleichsangebot der Beklagten auf Bezahlung von Fr. 5000.-- per Saldo aller Ansprüche annahm. Am 20. März 1956 schrieb demgemäss das Obergericht die

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Appellation der Kläger und die Anschlussappellation der Beklagten mit Bezug auf den Hauptpunkt als durch Rückzug bzw. Vergleich erledigt ab und beurteilte die "Kostenappellation".
E.- Noch vor Erledigung des eben erwähnten Appellationsverfahrens hatte Eugen Meier der Beklagten am 14. Dezember 1955 einen Zahlungsbefehl für Fr. 60'000.-- nebst 5% Zins seit 1. Januar 1954 zustellen lassen, worin als Grund der Forderung angegeben war: "Dauerschaden ... aus Unfall vom 15. August 1949 ... für die Jahre 1954 ff." Im Zahlungsbefehl war bemerkt, die Betreibung diene zur Unterbrechung der Verjährung. Die Beklagte erhob Rechtsvorschlag.
F.- Nach gescheitertem Sühneversuch vom 30. April 1956 leitete Eugen Meier gegen die Bahngesellschaft die vorliegende Klage ein, mit der er als Entschädigung für die Nachteile aus der vom Sachverständigen Dr. Naef in den Gutachten vom 13. Dezember 1954/17. Februar 1955 festgestellten Dauerinvalidität von 25% ab 1. Januar 1954, die er im ersten Prozess noch nicht habe einklagen können und die im Urteil des Amtsgerichts vom 9. Juli 1955 nicht berücksichtigt worden sei, unter Berufung auf Art. 1 ff. EHG und Art. 41 ff. OR einen Betrag von Fr. 49, 309.-- nebst Zins verlangte. Die Beklagte bestritt diesen Schaden und erhob die Einreden der abgeurteilten Sache und der Verjährung. Das Amtsgericht Luzern-Stadt wies die Klage in Gutheissung dieser letzten Einrede mit Urteil vom 29. November 1956 ab, worauf der Kläger an das Obergericht appellierte.
Am 3. Januar 1957 ordnete das Bundesgericht auf Begehren von Obligationären die Zwangsliquidation des Vermögens der Beklagten an. Der Masseverwalter entschied am 23. Mai 1957, der hängige Prozess sei seitens der Beklagten fortzusetzen.
Am 24. Oktober 1957 hat das Obergericht des Kantons Luzern (I. Kammer) das Urteil des Amtsgerichts vom 29. November 1956 bestätigt.


BGE 84 II 202 (207):

G.- Mit seiner Berufung an das Bundesgericht beantragt der Kläger, die Beklagte sei zur Bezahlung von Fr. 47'309.-- nebst Zins zu verurteilen; eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Beklagte, der am 4. Februar 1958 eine Nachlassstundung bewilligt wurde, schliesst auf Bestätigung des angefochtenen Urteils.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Unfall, bei dem der Kläger verletzt wurde, hat sich beim Betrieb einer Eisenbahn ereignet. Die Haftpflicht der Bahnunternehmungen für die Folgen solcher Unfälle ist im Bundesgesetz betreffend die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffahrtsunternehmungen und der Post vom 28. März 1905 (EHG) geordnet. Als Sondergesetz geniesst dieses in allen Punkten, die es nach seinem Wortlaut und seinem Sinn selbständig regelt, gegenüber den allgemeinen Bestimmungen des OR den Vorrang. Hieran ändert der vom Kläger hervorgehobene Umstand nichts, dass das geltende OR nach dem EHG erlassen wurde. Ziff. I der Übergangsbestimmungen des OR vom 30. März 1911 bestimmt ausdrücklich, dass (u.a.) die Spezialgesetze betreffend das Eisenbahn-, Dampfschiff- und Postrecht, zu denen das EHG gehört, in Geltung bleiben, wie auch schon Art. 888 des alten OR vom 14. Juni 1881 vorgesehen hatte, dass die Bestimmungen des alten EHG vom 1. Juli 1875 unverändert in Kraft bleiben sollten. Nach dieser eindeutigen gesetzlichen Regelung kann entgegen der Auffassung des Klägers keine Rede davon sein, dass das OR die ihm widersprechenden Bestimmungen des EHG aufgehoben oder abgeändert habe. Vielmehr bleibt das EHG in seinem Geltungsbereich allein massgebend. Art. 41 ff. OR konkurrierend neben Art. 1 ff. EHG anzurufen, ist ausgeschlossen (vgl. BGE 27 II 408 und dort angeführte Entscheide, wo dieser Grundsatz für das Verhältnis zwischen dem alten OR und dem alten EHG sowie dem Fabrikhaftpflichtgesetz ausgesprochen worden war; statt BGE 14 S. 188 ist dort BGE 19 S. 188 zu lesen).


BGE 84 II 202 (208):

2. Art. 14 EHG, der die Verjährung der "durch dieses Gesetz begründeten Schadenersatzklagen" zum Gegenstand hat, erklärt in Abs. 2 für den Stillstand, die Hinderung und die Unterbrechung der Verjährung die Bestimmungen des OR als massgebend. Art. 14 Abs. 1 verweist dagegen für die Dauer und den Beginn der Verjährungsfrist nicht auf das OR, das in seiner heutigen wie in seiner frühern Fassung (Art. 60 bzw. Art. 69) vorsieht, dass der Anspruch auf Schadenersatz oder Genugtuung in einem Jahr von dem Tage hinweg, wo der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, jedenfalls aber mit dem Ablauf von zehn Jahren vom Tage der schädigenden Handlung an verjährt (Abs. 1), dass jedoch dann, wenn die Klage aus einer strafbaren Handlung hergeleitet wird, für die das Strafrecht eine längere Verjährung vorschreibt, diese auch für den Zivilanspruch gilt (Abs. 2). Vielmehr bestimmt Art. 14 Abs. 1 EHG abweichend hievon, dass die Klagen aus dem EHG in zwei Jahren, welche vom Tage des Unfalls an gerechnet werden, verjähren. Diese Bestimmung geht dem Art. 60 OR nach dem in Erwägung 1 Gesagten vor. Sie weist keine Lücke auf, zu deren Ausfüllung Art. 60 OR herangezogen werden könnte. Insbesondere lässt sich nicht sagen, dass Art. 14 Abs. 1 EHG die Frage offen lasse, innert welcher Frist die Ansprüche aus Schäden verjähren, von denen der Verunfallte erst längere Zeit nach dem Unfall Kenntnis erhält (sog. Spätschäden). Art. 14 Abs. 1 bestimmt völlig klar und ohne jeden Vorbehalt, dass die durch das EHG begründeten Schadenersatzklagen innert der angegebenen Frist verjähren, und erfasst somit unzweifelhaft alle derartigen Klagen, auch diejenigen, mit denen der Verunfallte einen sog. Spätschaden geltend machen will. Art. 60 Abs. 1 OR darf also auf eine Schadenersatzklage aus dem EHG selbst dann nicht angewendet werden, wenn man es mit einem solchen Schaden zu tun hat. Dem Kläger kann aber auch darin nicht beigepflichtet werden, dass Art. 60 Abs. 2 OR eingreife, wenn die Bahnunternehmung

BGE 84 II 202 (209):

für die Folgen eines Bahnunfalls haftbar gemacht wird, der von Personen, für die sie einzustehen hat, durch eine strafbare Handlung herbeigeführt wurde. Wie namentlich aus Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 und Art. 8 EHG hervorgeht, richtet sich sie Haftpflicht der Bahnunternehmung auch dann nach diesem Gesetz, wenn der Unfall durch sie selber oder durch ihr Personal oder die zum Betrieb oder Bau der Bahn verwendeten Personen verschuldet wurde. Auch die Klagen aus Unfällen, die durch eine strafbare Handlung eines Bahnangestellten verursacht wurden, gehören folglich zu den durch das EHG begründeten Schadenersatzklagen, für welche die Verjährungsfrist nach Art. 14 Abs. 1 EHG ausnahmslos zwei Jahre vom Unfalltag an beträgt.
Wenn alle Ansprüche gegen die Bahnunternehmung aus einem Bahnunfall innert dieser Frist verjähren, kann es freilich geschehen, dass ein Anspruch bereits verjährt ist, bevor er zur Kenntnis des Geschädigten gelangt. Darin liegt aber nicht etwa eine Anomalie, die unter keinen Umständen geduldet werden könnte. Dass ein Anspruch verjährt, bevor der Gläubiger ihn kennt, kommt vielmehr auch sonst vor, da für den Beginn der Verjährung die Kenntnis des Gläubigers vom Bestehen und von der Fälligkeit des Anspruchs im allgemeinen nicht erforderlich ist (VON TUHR/SIEGWART, OR, § 80 IV S. 664). Im Haftpflichtrecht lässt ausser dem EHG auch das Elektrizitätsgesetz von 1902 (Art. 37) die Verjährung ohne Rücksicht darauf, wann der Verunfallte vom Schaden Kenntnis erhalten hat, mit dem Tag beginnen, an welchem die Schädigung stattgefunden hat. Das durch Art. 128 des KUVG von 1911 aufgehobene Fabrikhaftpflichtgesetz von 1881 enthielt eine entsprechende Bestimmung (Art. 12). Ebenso verjähren die Forderungen aus Versicherungsvertrag nach Art. 46 VVG in zwei Jahren nach Eintritt der Tatsache, welche die Leistungspflicht begründet (vgl. hiezu BGE 68 II 107 ff.). In allen diesen Gesetzen (die wie das EHG für die darin geregelten Verhältnisse ausschliesslich massgebend sind) hat

BGE 84 II 202 (210):

der Gesetzgeber die Möglichkeit in Kauf genommen, dass ein Anspruch aus einem Schadensereignis verjähren kann, bevor der Geschädigte den Schaden kennt.
Richtig ist, dass die Sondergesetze über das Haftpflichtrecht im allgemeinen die Tendenz verfolgen, dem Geschädigten eine bessere Stellung einzuräumen, als er sie bei Anwendung der Bestimmungen des OR innehätte. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass anstelle des Sondergesetzes immer das OR gelte, wenn dieses im einzelnen Fall für den Geschädigten günstiger wäre als das Sondergesetz. Was das Sondergesetz mit Bezug auf eine bestimmte Frage eindeutig angeordnet hat, muss vielmehr auch dann gelten, wenn diese Anordnung mit der in andern Bestimmungen des Gesetzes zum Ausdruck gekommenen Tendenz nicht im Einklang steht. Ebensowenig lassen sich klare Vorschriften eines Sondergesetzes mit der Begründung beiseite schieben, dass andere Sondergesetze über ähnliche Materien die betreffende Frage anders regeln, was im Haftpflichtrecht hinsichtlich der Verjährung u.a. insofern der Fall ist, als das MFG von 1932 diese im Gegensatz zum EHG und zum ElG nicht mit dem Unfalltage, sondern wie das OR erst mit dem Tage beginnen lässt, an dem der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erhalten hat (Art. 44). Ob die Erwägungen, die Art. 14 Abs. 1 EHG bzw. den entsprechenden Bestimmungen von Art. 10 Abs. 1 des alten EHG und Art. 12 des Fabrikhaftpflichtgesetzes zugrunde liegen (Wünschbarkeit einer raschen Liquidation der Haftpflichtansprüche im Interesse einer möglichst zuverlässigen Abklärung des Unfallhergangs und einer nicht durch unbestimmte Forderungen beeinträchtigten Erstellung der Unternehmensbilanz, BGE 15 S. 276 Erw. 5, 23 I 942 oben und 31 II 44 oben), die in diesen Bestimmungen getroffene Regelung des Verjährungsbeginns zu rechtfertigen vermögen, hat nicht der Richter, sondern der Gesetzgeber zu entscheiden.
Art. 14 Abs. 1 EHG entgegen seinem klaren Wortlaut auszulegen, ist um so weniger angängig, als bei der Revision

BGE 84 II 202 (211):

dieses Gesetzes im Jahre 1905 der schon im alten EHG und im Fabrikhaftpflichtgesetz niedergelegte Grundsatz, dass die Verjährung der aus diesen Gesetzen sich ergebenden Ansprüche auf Entschädigung für Körperverletzung mit dem Tage des Unfalls beginnt, nicht durch die bereits in Art. 69 aoR enthaltene, auf die Kenntnis vom Schaden abstellende Ordnung der allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts ersetzt, sondern beibehalten wurde, obschon das Bundesgericht jenen Grundsatz wiederholt auch auf Ansprüche aus sog. Spätschäden angewendet hatte (vgl. BGE 15 S. 272 ff., 23 I 930 ff., bes. 942 Erw. 4).
Bei der in Art. 14 Abs. 1 EHG ausgesprochenen Regel, dass die Verjährung vom Unfalltag an läuft, muss es daher sein Bewenden haben, auch wenn diese Lösung sich für den Anspruchsberechtigten hart auswirken kann (vgl. BGE 46 II 188).
Dem Verlust der Ansprüche aus Unfallfolgen, die sich erst nach Ablauf der mit dem Unfall beginnenden zweijährigen Verjährungsfrist zeigen, kann der Verunfallte dadurch einigermassen vorbeugen, dass er gegenüber der Bahnunternehmung vor Fristablauf durch Betreibung oder Ladung zu einem amtlichen Sühnversuch eine Forderung geltend macht, die den in diesem Zeitpunkt erkennbaren Schaden übersteigt. Durch diese - einfache - Vorkehr wird die Verjährung gemäss dem nach Art. 14 Abs. 2 EHG anwendbaren Art. 135 Ziff. 2 OR für den ganzen auf diesem Wege geforderten Betrag unterbrochen. Auf gleiche Weise kann die gemäss Art. 137 OR mit der Unterbrechung neu beginnende Verjährung zu gegebener Zeit von neuem unterbrochen werden. (Vorbehalten bleibt im Falle der Ladung zu einem Sühneversuch die Anwendung kantonaler Prozessvorschriften, wonach der auf diesem Wege geltend gemachte Anspruch nach erfolgloser Klageprovokation oder von Gesetzes wegen verwirkt ist, wenn er nicht innert einer bestimmten Frist vor dem erkennenden Richter weiterverfolgt wird; vgl. BGE 67 II 72 Erw. 2 und GULDENER, Das schweiz. Zivilprozessrecht I 60 Ziff. 3.)


BGE 84 II 202 (212):

3. Dass der mit der vorliegenden Klage geltend gemachte Anspruch verjährt ist, wenn mit Bezug auf die Verjährungsfrist ausschliesslich Art. 14 EHG zur Anwendung kommt, bestreitet der Kläger mit Recht nicht. Da sich der Unfall am 15. August 1949 ereignet hatte, lief die Verjährungsfrist nach dieser Bestimmung bis zum 15. August 1951. Innert dieser Frist hat der Kläger zur Unterbrechung der Verjährung des heute eingeklagten Anspruchs nichts vorgekehrt. Selbst wenn der im Strafurteil vom 31. Januar 1951 enthaltene Vorbehalt der Zivilansprüche der Geschädigten darauf zurückgehen sollte, dass der Kläger im Strafverfahren adhäsionsweise solche Ansprüche gestellt hatte, worüber die vorliegenden Akten keinen Aufschluss geben, so wäre dies schon deshalb unerheblich, weil die Beklagte am Strafverfahren nicht beteiligt war, so dass eine mit dem Strafprozess verbundene Zivilklage des Klägers sich nicht gegen sie, sondern nur gegen den angeklagten Motorwagenführer hätte richten können. Die Forderung von Fr. 100'000.--, die der Kläger beim Sühnversuch vom 13. August 1951 stellte, betrifft gemäss Feststellung der Vorinstanz keine weitern als die hernach mit der gerichtlichen Klage vom 19. Januar 1953 geltend gemachten Schadensposten, so dass dieser Sühnversuch die Verjährung nur hinsichtlich dieser Posten, nicht auch hinsichtlich der heute eingeklagten Schadenersatzforderung wegen Dauerinvalidität unterbrach. Diese Forderung war also bereits verjährt, als der Kläger am 19. Januar 1953 erstmals gerichtliche Klage erhob. Indem die Beklagte gegenüber dem vom Kläger damals gestellten Begehren, im Urteil sei für die Ansprüche aus einer über das Jahr 1953 hinaus dauernden Invalidität ein Nachklagevorbehalt anzubringen, nicht die Einrede der Verjährung dieser Ansprüche erhob, sondern jenem Begehren aus andern Gründen entgegentrat, hat sie nicht etwa durch schlüssiges Verhalten auf die eingetretene Verjährung der fraglichen Ansprüche schlechtweg verzichtet, womit eine neue Verjährungsfrist begonnen hätte, sondern sie hat damit lediglich

BGE 84 II 202 (213):

das Risiko auf sich genommen, dass der Richter trotz dem Ablauf der durch den Unfall in Gang gesetzten Verjährungsfrist einen solchen Nachklagevorbehalt ins Urteil aufnehmen könnte, wozu es dann aber nicht gekommen ist. Ob die Gründe, aus denen das Amtsgericht im Urteil vom 9. Juli 1955 den auf einen solchen Vorbehalt abzielenden Antrag abwies, stichhaltig seien oder nicht, und wie es sich verhielte, wenn diesem Antrag entsprochen worden wäre, hat die Vorinstanz richtigerweise nicht untersucht, weil heute an der Tatsache der Abweisung dieses Antrags, mit welcher der Kläger sich seinerzeit abgefunden hat, nichts mehr geändert werden kann. Am Einwand, dass die Beklagte die Verjährung rechtsmissbräuchlich angerufen habe, hält der Kläger vor Bundesgericht mit Recht nicht fest, weil die Voraussetzungen, unter denen die Erhebung dieser Einrede einen Rechtsmissbrauch bedeuten kann (vgl. BGE 69 II 102 ff., BGE 76 II 117 Erw. 5), hier offensichtlich nicht gegeben sind. Diese Einrede ist also zu Recht geschützt worden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil der I. Kammer des Obergerichtes des Kantons Luzern vom 24. Oktober 1957 bestätigt.