BGE 82 II 473
 
64. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. Dezember 1956 i.S. Leuenberger gegen Würsch.
 
Regeste
Abänderung eines Scheidungsurteils (Kindeszuteilung); Art. 157 Z GB.
 
Sachverhalt


BGE 82 II 473 (473):

Aus dem Tatbestand:
Bei der Scheidung der Parteien wurde der im Jahre 1942 geborene Knabe der Mutter zugewiesen. Diese liess ihn in dem Kinderheim, in dem er während des Prozesses untergebracht worden war. Der wieder verheiratete Vater verlangte mit einer im Sinne von Art. 157 ZGB erhobenen Klage die Zuweisung des Knaben an ihn. Das Obergericht entzog zwar der Mutter die elterliche Gewalt, wies aber das Begehren des Vaters ab. Dieser hält mit seiner Berufung an das Bundesgericht an der Klage fest.
 


BGE 82 II 473 (474):

Aus den Erwagungen:
3. Bei dieser Sachlage hat der Kläger Anspruch auf Zuweisung des Knaben an ihn selbst, sofern keine schwerwiegenden Gründe - im Sinne von Art. 285 und 286 ZGB - vorliegen, ihm die elterliche Gewalt vorzuenthalten. Die Vorinstanz scheint dies zu verkennen, da sie, ohne auf die erwähnten Vorschriften Bezug zu nehmen, sich mit einer Abwägung von Zweckmässigkeitsgründen begnügt. Während der Ehe waren beide Parteien im gemeinsamen Besitz der elterlichen Gewalt (Art. 274 Abs. 1 ZGB), und es hatte zu einem Entzug nach Art. 285 ZGB keine Veranlassung bestanden. Bei der Scheidung musste der heutige Kläger diese Gewalt notwendig verlieren, da das Kind der Beklagten zugewiesen wurde und eine gemeinsame Ausübung der elterlichen Gewalt hinfort nicht mehr möglich war (Art. 274 Abs. 3 und Art. 156 ZGB). Das bedeutete keine Disqualifikation des Klägers; es blieb offen, ob man das Kind nicht ihm hätte zuweisen können und müssen, wenn die von beiden Parteien dem Scheidungsgerichte beantragte Zuweisung an die Beklagte als untunlich erschienen wäre. In der Tat hätte das Kind in einem solchen Falle dem Vater nicht vorenthalten werden dürfen, sofern gegen die Belassung seiner elterlichen Gewalt keine Gründe gemäss Art. 285 ZGB vorlagen. Somit ist nun auch heute, nach Wegfall der elterlichen Gewalt der Mutter, der Vater unter derselben Voraussetzung wieder in seine elterlichen Rechte einzusetzen, es wäre denn, der besondere Umstand seiner bereits im Herbst 1952 erfolgten Wiederverheiratung "erfordere" die Verweigerung der elterlichen Gewalt (Art. 286 ZGB, worüber

BGE 82 II 473 (475):

gleichfalls im vorliegenden Verfahren zu entscheiden ist, vgl.BGE 69 II 129).
4. Art. 285 ZGB fasst zunächst den Fall ins Auge, dass die Eltern "nicht imstande" sind, die elterliche Gewalt auszuüben (was der französische Text mit dem engern Ausdruck "incapables" wiedergibt, während der italienische Text allgemeiner und zutreffend sagt "non sono in grado"). Hier ist nun nicht erwiesen, dass der Kläger unfähig sei, den Knaben zu erziehen und in jeder Hinsicht gehörig für ihn zu sorgen, aber auch nicht, dass äussere Umstände die Erfüllung der Vaterpflichten unmöglich machen. Es sind lediglich gewisse Bedenken in wirtschaftlicher Hinsicht am Platze, wie sich aus den vorinstanzlichen Feststellungen über den häufigen Stellenwechsel des Klägers, seine oftmals ungesicherten Einkommensverhältnisse und die weitgehende Säumnis in der Alimentenzahlung ergibt. Indessen darf daraus keineswegs auf Gleichgültigkeit gegenüber dem Knaben geschlossen werden, den er vielmehr jeweilen gern bei sich aufgenommen hat, und um dessen Wohl er besorgt ist, wie denn auch der Knabe das Heim verlassen und zum Vater gehen möchte. Die zeitweiligen Ausfälle bei den Alimenten waren eben durch die misslichen Erwerbsverhältnisse bedingt, und seit dem September 1955 hat der Kläger seine Unterhaltspflicht nun regelmässig erfüllt.
Keineswegs geht es an, ihm die Zuweisung des Knaben aus der Überlegung zu verweigern, damit würde sich seine finanzielle Lage wieder verschärfen, da er dann entweder jemand zur Betreuung des Knaben zu sich nehmen oder anstellen oder aber seiner Ehefrau die auswärtige Erwerbsbetätigung untersagen müsste. Denn der Vater hat, wenn der Mutter die elterliche Gewalt entzogen wird, grundsätzlich ein Recht darauf, dass sie nunmehr ihm übertragen werde, und unverschuldete Armut kann hieran nichts ändern.
Auch die weitern von der Vorinstanz berücksichtigten Momente sind nicht entscheidend. Dass die beiden geschiedenen

BGE 82 II 473 (476):

Eheleute einander in der Ausübung des Besuchsrechtes Schwierigkeiten machten, wäre kein Grund gewesen, das Kind der Mutter zu entziehen, und ist auch kein Grund, es dem Vater nicht zuzuweisen. In dieser Hinsicht haben die vormundschaftlichen Behörden gemäss Art. 283 ZGB zum rechten zu sehen. Und wenn der Kläger - offenbar auf Fragen und Bitten des Knaben wegen der Unterbringung in dem ihm nicht zusagenden Kinderheim - sagte, er habe ihn ja nicht dorthin gebracht, so entsprach dies der Wahrheit und rechtfertigt nicht den Vorwurf der Erweckung unbegründeter Hoffnungen und der Aufhetzung gegen die Mutter.
5. Dass die neue Ehe des Klägers der von diesem beantragten Zuweisung des Knaben entgegenstehe (was, wie dargetan, auf Grund von Art. 286 ZGB zu beurteilen ist), nimmt die Vorinstanz an, weil die neue Ehefrau bei der Scheidung ihrer frühern Ehe im Jahre 1949 als zur Betreuung von Kindern wenig geeignet erschien. Gewiss spielt nun auch für die Frage, ob der Knabe im Haushalt seines Vaters gut aufgehoben sei, die Persönlichkeit der Stiefmutter eine wesentliche Rolle, und das Scheidungsurteil vom 21. September 1949 wirft ihr einen "leichtfertigen Lebenswandel" vor. Als junge Frau war sie offenbar, "eine leichte, lebenslustige Natur", auf häufiges Ausgehen bedacht, derweil der Ehemann Etter, "ein strebsamer ernster Mann", abends zu seiner Weiterbildung für sich arbeitete. Sie war an der Zerrüttung der Ehe überwiegend schuld und begann schliesslich ein ehebrecherisches Verhältnis. Grobe Versäumung der Mutterpflichten ist aber nicht festgestellt. Das Urteil begründet die Zuweisung der Kinder an den Vater wie folgt:
"Die Tatsache, dass sie während der Ehe gelegentlich ihre kleinen Kinder sich selbst überliess, ferner dass sie einmal unerwartet in den Tessin in die Ferien fuhr und ihre Familie allein liess, endlich, dass sie überhaupt über die Massen oft ausging, lassen sie in Bezug auf ihre Eigenschaften als Erzieherin in einem schlechten Licht erscheinen. Da es überdies im Interesse der Kinder liegt, dass sie alle drei gemeinsam, in geschwisterlichem Einvernehmen erzogen werden, sind sie alle dem gleichen Elternteil zuzuweisen."


BGE 82 II 473 (477):

Die gerügten Fehler dürften in beträchtlichem Masse dem damaligen jugendlichen Alter dieser Frau (sie war bei der Scheidung der ersten Ehe 28 Jahre alt) und dem ihren Wünschen wenig entsprechenden Verhalten des ersten Mannes zuzuschreiben sein. Sie deuten nicht auf tief verwurzelte schlechte Charakterzüge oder dauernde Untauglichkeit zur Kindererziehung hin, und ihre Lebensführung seit der Scheidung hat zu keinen Klagen Anlass geboten. Unter diesen Umständen ist es nicht gerechtfertigt, dem Kläger die elterliche Gewalt wegen seiner jetzigen ehelichen Verhältnisse zu verweigern. Übrigens handelt es sich nicht etwa darum, seine jetzige Ehefrau zur Mitinhaberin dieser Gewalt zu machen. Die ihre Person betreffende Kritik fällt nur insofern in Betracht, als sich bei Zuweisung des Knaben an den Kläger ein nachteiliger Einfluss ihrerseits geltend machen müsste. Nun erscheint sie aber (im Unterschiede zum Falle Schneider, BGE 82 II 181 ff.) nicht zum vorneherein als untaugliche Erzieherin, und auch der Kläger weist keine so schwerwiegenden Fehler auf; insbesondere darf nicht ohne weiteres angenommen werden, er sei nicht imstande, die Frau, wenn es nötig sein sollte, zur Ordnung anzuhalten. Seinem Begehren ist somit zu entsprechen. Jeder Zweifel lässt sich allerdings angesichts der vorinstanzlichen Feststellungen nicht von der Hand weisen. Doch genügt es bei der gegenwärtigen Sachlage vollauf, zum Schutze des Kindes eine vormundschaftliche Aufsicht anzuordnen (vgl.BGE 60 II 16).