BGE 147 I 73
 
5. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Eidgenössische Technische Hochschule ETH Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
2C_769/2019 vom 27. Juli 2020
 
Regeste
Art. 83 lit. t BGG; Art. 8 Abs. 1 und 2 BV; Unzulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide über das Ergebnis von Prüfungen und anderen Fähigkeitsbewertungen; Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbot im Prüfungsrecht.
Aufgrund des Gleichheitssatzes sind die Hochschulen bei der Durchführung ihrer Examen grundsätzlich verpflichtet, für alle Kandidaten möglichst einheitliche Bedingungen herzustellen. Werden bestimmte Personen bzw. Personengruppen dadurch ungerechtfertigt benachteiligt, kann ausnahmsweise die Pflicht bestehen, Ausgleichsmassnahmen zu treffen. Solche Massnahmen dürfen jedoch nicht den Prüfungszweck vereiteln und auch keine Überkompensation zur Folge haben. Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes bzw. des Diskriminierungsverbots liegt nur dann vor, wenn die Verweigerung einer Ausgleichsmassnahme das Prüfungsergebnis entscheidend beeinflussen konnte (E. 6).
 
Sachverhalt


BGE 147 I 73 (74):

A. A. stammt aus dem Tessin und ist italienischer Muttersprache. Sie absolviert an der ETH Zürich den Bachelor-Studiengang Biologie. Am 27. Januar 2018 legte sie in diesem Zusammenhang die Repetitionsprüfung im Fach Physikalische Chemie II ab. Dabei erreichte sie die ungenügende Note 3.25.
B.
B.a Am 28. Februar 2018 wurde A. von der ETH Zürich mitgeteilt, aufgrund der ungenügenden Note in der Repetitionsprüfung zum Fach Physikalische Chemie II könne sie die Bedingungen für die Kategorie "32 Kreditpunkte Kernfächer" nicht mehr erfüllen und folglich das Diplom in Biologie nicht mehr erwerben. Entsprechend verfügte die ETH Zürich den Ausschluss von A. aus diesem Studiengang.


BGE 147 I 73 (75):

B.b Gegen die Verfügung der ETH Zürich vom 28. Februar 2018 erhob A. Beschwerde bei der ETH-Beschwerdekommission. Sie begründete ihre Beschwerde im Wesentlichen damit, bei der Prüfung Physikalische Chemie II sei ihr zu Unrecht der Gebrauch eines Deutsch-Italienisch/Italienisch-Deutsch-Wörterbuchs verweigert worden; im Vergleich insbesondere zu deutschsprachigen Studenten habe sie dadurch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zu gewärtigen gehabt, die einer Diskriminierung gleichkomme.
Mit Entscheid vom 25. Oktober 2018 hiess die ETH-Beschwerdekommission ihre Beschwerde teilweise gut, hob die Verfügung vom 28. Februar 2018 auf und hielt die ETH Zürich an, A. erneut zur Prüfung Physikalische Chemie II zuzulassen und ihr dabei den Gebrauch eines Wörterbuchs zu erlauben; A. sei genügend Zeit zur Vorbereitung der Prüfung zu gewähren; die Dauer des Beschwerdeverfahrens sei nicht an die Studiendauer anzurechnen.
B.c Die ETH Zürich akzeptierte den Entscheid der ETH-Beschwerdekommission nicht, sondern erhob Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses hiess die Beschwerde der ETH Zürich mit Urteil vom 16. Juli 2019 gut und hob den Entscheid der ETH-Beschwerdekommission vom 25. Oktober 2018 auf.
Das Bundesverwaltungsgericht begründete seinen Entscheid im Wesentlichen damit, A. sei der Gebrauch eines Wörterbuchs bei der Prüfung Physikalische Chemie II nicht eigentlich verweigert worden; vielmehr habe sie es versäumt, beim zuständigen Dozenten frühzeitig auf den Gebrauch eines solchen Wörterbuchs hinzuwirken. Die Rüge einer Unregelmässigkeit im Prüfungsablauf erfolge damit verspätet.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 16. September 2019 gelangt A. an das Bundesgericht. Sie beantragt die Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 2019; unter Bestätigung des Entscheids der ETH-Beschwerdekommission sei sie erneut zur Prüfung Physikalische Chemie II zuzulassen; dabei sei ihr der Gebrauch eines Wörterbuchs Deutsch-Italienisch/Italienisch-Deutsch zu gestatten. Sie begründet ihre Beschwerde im Wesentlichen mit den Argumenten, die sie schon im Verfahren vor der ETH-Beschwerdekommission vorgetragen hatte.
Die ETH Zürich beantragt, auf die Beschwerde von A. sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Das Bundesverwaltungsgericht verzichtet auf inhaltliche Stellungnahme und verweist

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stattdessen auf das Urteil vom 16. Juli 2019. A. hält in ihrer Replik an den Beschwerdeanträgen fest.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
1.2.1 Von dieser Ausnahmebestimmung erfasst sind alle Entscheide, die auf einer Bewertung der intellektuellen oder physischen Fähigkeiten einer Kandidatin oder eines Kandidaten beruhen (BGE 138 II 42 E. 1.1 S. 44; BGE 136 I 229 E. 1 S. 231; BGE 136 II 61 E. 1.1.1 S. 63); dies schliesst auch Entscheide ein, welche - wie vorliegend der Ausschluss aus dem betreffenden Studiengang - die direkte Folge eines negativen Prüfungsergebnisses sind (Urteil 2C_560/2007 vom 23. Oktober 2007 E. 2.2). Ausgeschlossen ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten allerdings nur, wenn das eigentliche Ergebnis der Prüfung umstritten ist bzw. wenn ein Entscheid in Frage steht, der auf einer Bewertung der geistigen oder körperlichen Fähigkeiten eines Kandidaten beruht (Urteil 2C_176/ 2007 vom 3. Mai 2007 E. 2). Wenn andere Entscheide im Zusammenhang mit einer Prüfung strittig sind, insbesondere solche organisatorischer oder verfahrensrechtlicher Natur, bleibt das Rechtsmittel zulässig (Urteile 2D_31/2014 vom 22. April 2014 E. 2.2.1 [mit einer Zusammenfassung der Rechtsprechung]; 2D_7/2011 vom 19. Mai 2011 E. 1.2).
1.2.2 Vorliegend beruft sich die Beschwerdeführerin in vertretbarer Weise darauf, die Nichtzulassung eines Wörterbuchs bei der Prüfung Physikalische Chemie II begründe einen Verstoss gegen das Gleichheitsgebot (Art. 8 Abs. 1 BV) bzw. das

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Diskriminierungs verbot (Art. 8 Abs. 2 BV). Damit beanstandet sie nicht das eigentliche Prüfungsergebnis, das zu ihrem Ausschluss aus dem Studiengang Biologie geführt hat, sondern das Prüfungsverfahren. Die Ausnahmebestimmung von Art. 83 lit. t BGG greift deshalb nicht. Entgegen der Auffassung der ETH Zürich ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig.
 
Erwägung 2
2.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Berichtigung oder Ergänzung der vorinstanzlichen Feststellungen ist von Amtes wegen (Art. 105 Abs. 2 BGG) oder auf Rüge hin (Art. 97 Abs. 1 BGG) möglich. Von den tatsächlichen Grundlagen des vorinstanzlichen Urteils weicht das Bundesgericht jedoch nur ab, wenn diese offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang zudem entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 142 I 135 E. 1.6 S. 144 f.). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet "willkürlich" (BGE 140 III 115 E. 2 S. 116). Eine entsprechende Rüge ist hinreichend zu substanziieren (Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 137 II 353 E. 5.1 S. 356; BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 254).
 


BGE 147 I 73 (78):

Erwägung 3
3.1 Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich ist - gleich wie die ETH Lausanne - eine autonome öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes mit Rechtspersönlichkeit. Sie regelt und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig (Art. 5 Abs. 1 und 2 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Eidgenössischen Technischen Hochschulen [ETH-Gesetz; SR 414.110]; vgl. BGE 146 II 56 E. 5.1 S. 59 f.). Ihre Aufgaben in der Lehre erfüllt die ETH Zürich, indem sie Studierende in einem universitären Fachstudium ausbildet, das mit einem akademischen Titel (namentlich Bachelor- und Masterabschluss; vgl. Art. 19 Abs. 1 lit. a bis ETH-Gesetz und Art. 24 Abs. 1 lit. b und c der Verordnung des ETH-Rates vom 13. November 2003 über die Eidgenössischen Technischen Hochschulen Zürich und Lausanne [ETHZ-ETHL-Verordnung; SR 414.110.37]) abgeschlossen werden kann (Art. 8 Abs. 1 lit. a ETH-Gesetz). Welche Lerneinheiten hierfür zu absolvieren und welche Lernkontrollen zu bestehen sind, wird in der Verordnung der ETH Zürich vom 22. Mai 2012 über Lerneinheiten und Leistungskontrollen an der ETH Zürich (Leistungskontrollenverordnung ETH Zürich; SR 414.135.1) sowie den gestützt darauf (Art. 7 Abs. 3 und Art. 31 Abs. 2 lit. d Leistungskontrollenverordnung ETH Zürich) erlassenen Studienreglementen geregelt.
4.1 Die Vorinstanz verneinte die von der Beschwerdeführerin gerügte ungerechtfertigte Ungleichbehandlung. Zum einen stellte sie fest, für fremdsprachige Studierende habe kein generelles Verbot

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bestanden, bei Prüfungen in deutscher Sprache ein Wörterbuch zu benutzen; zum anderen erwog sie, die Beschwerdeführerin habe sich zu spät auf Unregelmässigkeiten im Prüfungsverfahren berufen und sich damit treuwidrig verhalten.
Das Rektorat der ETH Zürich erliess vor der hier fraglichen Prüfungssession Winter 2017/2018 jedoch gestützt auf Art. 22 Abs. 2 Leistungskontrollenverordnung ETH-Zürich (sowie die Ausführungsbestimmungen des Rektors zu dieser Bestimmung vom 30. Januar 2013) Weisungen zum Prüfungsplan. Darin heisst es zum Gebrauch von Hilfsmitteln (unter Ziff. 1.3, Erlaubte Hilfsmittel):
    "
    Erlaubte Hilfsmittel sind im Prüfungsplan angegeben und für alle Sei
    ten verbindlich.
    Falls vor oder zu Beginn einer Prüfung diesbezüglich Unklarheiten bestehen, insbesondere auch darüber, ob fremdsprachige Studierende ein Wörterbuch verwenden dürfen, fragen Sie unbedingt bei den zuständigen Dozierenden bzw. Examinatoren nach oder kontaktieren Sie die Prüfungsplanstelle."


BGE 147 I 73 (80):

In dem für beide Seiten verbindlichen (Art. 22 Abs. 3 Leistungskontrollenverordnung ETH Zürich) persönlichen Prüfungsplan der Beschwerdeführerin, welcher ihr vorgängig per E-Mail zugestellt wurde, ist zu den erlaubten Hilfsmitteln für die Prüfung Physikalische Chemie II das Folgende vermerkt:
    "Max. 4 A4-Seiten mit Formeln und Notizen, Periodensystem Format A4, Taschenrechner mitbringen (programmierbar/graphisch gestattet). Laptop od. Geräte, die eine Verbindung mit Dritten ermöglichen, sind verboten."
Und auf dem Deckblatt der Prüfung vom 27. Januar 2018 heisst es:
    "Bitte beachten Sie:
    - Erlaubt sind 4 Seiten Zusammenfassung.
    - Erlaubt ist ein Taschenrechner.
    - Alle Hilfsmittel, die nicht explizit erlaubt sind, sind verboten!
    -
    [...]
    "
5.2 Gestützt auf diese für sich genommen unbestrittenen Umstände erwog die Vorinstanz, auf dem Deckblatt der Prüfung Physikalische Chemie II habe es zwar unmissverständlich geheissen, dass alle nicht explizit erlaubten Hilfsmittel verboten seien, und ein Wörterbuch sei weder im Prüfungsplan noch in den Weisungen noch auf dem Prüfungsdeckblatt als zulässiges Hilfsmittel aufgeführt gewesen. In den Weisungen zum Prüfungsplan heisse es jedoch, dass man sich bei Unsicherheiten an den zuständigen Examinator oder die Prüfungsplanstelle wenden solle. Dies zeige, dass die Formulierung, wonach nur die auf dem Prüfungsplan angegebenen Hilfsmittel erlaubt seien, nicht absolut zu verstehen sei, sondern dass in Einzelfällen mindestens Rückfragen möglich seien und dass auch Ausnahmeregelungen möglich sein müssten. Damit sei nicht davon auszugehen, dass bei der Prüfung Physikalische Chemie II ein (generelles) Verbot bestanden habe, ein Wörterbuch zu benützen.
5.3 Der Würdigung der Vorinstanz kann nicht gefolgt werden. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend vorbringt, können die Anweisungen auf dem Prüfungsdeckblatt nicht anders interpretiert werden, als dass ihr der Gebrauch eines Wörterbuchs bei der streitbetroffenen Prüfung verboten war. Dies gilt umso mehr, als ein Wörterbuch - anders als bei anderen Prüfungen derselben Prüfungsperiode ("Molecular Disease Mechanisms") - in der Auflistung der zulässigen Hilfsmittel in dem für beide Seiten verbindlichen (Art. 22 Abs. 3 Leistungskontrollenverordnung ETH Zürich) persönlichen Prüfungsplan der Beschwerdeführerin nicht enthalten war.

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Die Erwägung der Vorinstanz, der Gebrauch eines Wörterbuchs sei in der streitbetroffenen Prüfung nicht generell verboten gewesen, überzeugt daher nicht. Die Anweisungen des Dozenten, die der Beschwerdeführerin vor der Prüfung zugestellt bzw. vorgelegt wurden, waren eindeutig und können nicht nachträglich dahingehend uminterpretiert werden, eine Ausnahmebewilligung für Wörterbücher wäre auf Nachfrage hin möglich gewesen. "Unklarheiten" im Sinne der oben zitierten Weisungen des Rektorats zum Prüfungsplan (vgl. E. 5.1 hiervor), die ein Nachfragen der Beschwerdeführerin erforderlich gemacht hätten, bestanden vor der Prüfung nicht.
6.1 Gemäss dem in Art. 8 Abs. 1 BV verankerten Anspruch auf Gleichbehandlung ist Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich zu behandeln, bestehenden Ungleichheiten umgekehrt aber auch durch rechtlich differenzierte Behandlung Rechnung zu tragen. Der Anspruch auf rechtsgleiche Behandlung wird also verletzt, wenn hinsichtlich einer entscheidwesentlichen Tatsache rechtliche Unterscheidungen getroffen werden, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder wenn Unterscheidungen unterlassen werden, die aufgrund der Verhältnisse hätten getroffen werden müssen (BGE 145 II 206 E. 2.4.1 S. 211; BGE 143 V 139 E. 6.2.3 S. 145 f., m.w.H.). Art. 8 Abs. 2 BV ergänzt das allgemeine Gleichheitsgebot um einen besonderen Gleichheitssatz: Nach dieser Bestimmung darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch oder in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder als minderwertig angesehe

BGE 147 I 73 (82):

n wird (BGE 143 I 361 E. 5.1 S. 367 f.; BGE 139 I 169 E. 7.2.1 S. 174). Das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2 BV schliesst die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal indessen nicht absolut aus. Eine solche begründet zunächst lediglich den blossen Verdacht einer unzulässigen Differenzierung. Dieser kann durch eine qualifizierte Rechtfertigung umgestossen werden (BGE 143 I 361 E. 5.1 S. 367 f.; BGE 139 I 169 E. 7.2.3 S. 175, m.w.H.).
6.2 Aus dem Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 Abs. 1 BV) wird für das Prüfungsrecht der Grundsatz der Chancengleichheit abgeleitet (vgl. Urteile 2D_25/2011 vom 21. November 2011 E. 5; 1P.420/2000 vom 3. Oktober 2000 E. 2b). Für die Prüfungsgestaltung ist die Chancengleichheit insofern wegleitend, als für alle Prüfungskandidaten im Sinne formaler Gleichheit möglichst gleiche Bedingungen hergestellt werden sollen (vgl. STEPHAN HÖRDEGEN, Chancengleichheit im Prüfungsrecht, in: Festschrift für Paul Richli, 2011, S. 655 ff., S. 665; HERBERT PLOTKE, Schweizerisches Schulrecht, 2. Aufl. 2003, S. 442 und 444). Dazu zählen bei einer schriftlichen Prüfung neben einer materiell gleichwertigen Aufgabenstellung und einem geordneten Verfahrensablauf auch die Gleichwertigkeit von zusätzlichen Examenshilfen wie abgegebenes Material, spezielle Erläuterungen oder Hinweise vor oder während der Prüfung (vgl. Urteil 2D_6/2010 vom 24. Juni 2010 E. 5.2). Gleiche Bedingungen ermöglichen es allen Kandidatinnen und Kandidaten, einen ihren tatsächlichen Fähigkeiten entsprechenden Leistungsnachweis abzulegen (vgl. HÖRDEGEN, a.a.O., S. 666 f.); ungleiche Bedingungen verletzen dagegen grundsätzlich das Gleichbehandlungsgebot.
Davon ist nach dem anwendbaren Verordnungsrecht aber in Ausnahmefällen abzuweichen, namentlich um die Nachteile auszugleichen, die Studierende aufgrund einer Behinderung zu gewärtigen haben (Art. 5 Abs. 3 Leistungskontrollen-Verordnung ETH Zürich). Der Nachteilsausgleich zugunsten von Studierenden mit

BGE 147 I 73 (83):

Behinde rung ist keine verordnungsrechtliche Besonderheit der ETH Zürich, sondern aufgrund des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV) verfassungsrechtlich vorgegeben (vgl. Urteil 2C_974/2014 vom 27. April 2015 E. 3.4); in bestimmten Konstellationen verlangen das Gleichheitsgebot bzw. das Diskriminierungsverbot also ein Abweichen vom Grundsatz der Herstellung formaler Gleichheit.
Diese Frage wäre an sich in erster Linie nach dem massgeblichen einfachgesetzlichen Prüfungsrecht zu beurteilen. Die anwendbaren Verordnungen der ETH Zürich regeln die Zulassung einzelner Hilfsmittel allerdings nicht allgemein und schweigen sich namentlich auch zu zusätzlichen Hilfsmitteln für fremdsprachige Studierende aus. Vorgegeben ist einzig, dass das für die Prüfungsabnahme zuständige Departement der ETH Zürich auch die zulässigen Hilfsmittel bezeichnet (vgl. E. 3.2 hiervor). Den Departementen und Dozenten steht bei der Auswahl der zulässigen Hilfsmittel damit ein grosses Ermessen zu. Unbesehen der Autonomie der ETH Zürich (vgl. Art. 5 Abs. 2 ETH-Gesetz) darf die konkrete Auswahl der Hilfsmittel jedoch nicht gegen übergeordnetes Recht verstossen; sie muss namentlich dem Diskriminierungsverbot (vgl. E. 6.1 hiervor) Genüge tun. Zu klären ist in diesem Zusammenhang nachfolgend zunächst die Frage, ob die Beschwerdeführerin durch das Verbot des Gebrauchs eines Wörterbuchs während der Prüfung Physikalische Chemie II überhaupt einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung ausgesetzt war.
6.4.1 Zu beachten ist diesbezüglich zunächst, dass die Herstellung einer gleichen Ausgangslage nicht zur Folge haben darf, dass der eigentliche Prüfungszweck vereitelt wird. Aus dem Grundsatz der Chancengleichheit kann nicht abgeleitet werden, dass auf persönliche Nachteile eines Kandidaten Rücksicht zu nehmen wäre, wenn durch das Examen gerade jene Fähigkeiten überprüft werden sollen, die vom Nachteil des betroffenen Kandidaten (besonders)

BGE 147 I 73 (84):

beein trächtigt sind (BGE 122 I 130 E. 3 c) cc) S. 137; vgl. auch CHRISTOPH JEREMIAS, Dauerleiden und Nachteilsausgleich im Prüfungsrecht, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht [NVwZ] 2019, S. 839 ff., 840 f.). Ob etwa bei Lese- und Rechtschreibeschwäche ein Ausgleich durch Nichtbewertung von Rechtschreibfehlern einzuräumen ist, hängt davon ab, ob der Schwerpunkt der Prüfung auf der fachlichen Leistungsfähigkeit liegt (Nachteilsausgleich zulässig) oder ob auch Lese- und Rechtschreibfähigkeiten geprüft werden sollen (Nachteilsausgleich unzulässig). Unzulässig wäre es auch, einem Anwaltsprüfungskandidaten, der pathologische Angst davor hat, vor Leuten zu sprechen, im Unterschied zu anderen Kandidatinnen und Kandidaten die Abnahme seines mündlichen Anwaltsexamens unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu gestatten, wenn durch die Anwaltsprüfung gerade auch dokumentiert werden soll, dass er vor Leuten sprechen und vor Gericht plädieren kann. Ob zur Herstellung einer gleichen Ausgangslage Ausgleichsmassnahmen anzuordnen sind, hängt also von der Natur der in Frage stehenden Prüfung ab.
Zwar gehört auf universitärer Stufe die schriftliche Ausdrucksfähigkeit in den gängigen Wissenschaftssprachen zu den Fähigkeiten, die für den Erwerb eines Bachelor-Diploms vorausgesetzt werden (vgl. mit Blick auf die ETH Zürich Art. 6 ETH-Gesetz und überdies die unter www.ethz.ch/de/die-eth-zuerich/lehre/grundsaetze.html [besucht am 14. September 2020] publizierten Lehrgrundsätze, wonach im Studium unter anderem Methodenkompetenz und überdies die Fähigkeit vermittelt werden soll, sich in mehreren Sprachen auszudrücken). Jedoch liegt auf der Hand, dass die konkret in Frage stehende Prüfung nicht zum zentralen Zweck hatte, Fähigkeiten in deutscher Sprache abzufragen; im Vordergrund stand vielmehr die Überprüfung spezifischer Fachkenntnisse in physikalischer Chemie. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Aussage des für die streitbetroffene Prüfung zuständigen Dozenten, der nachträglich zu Protokoll gab, er hätte der Beschwerdeführerin auf entsprechende Nachfrage hin den Gebrauch eines Wörterbuchs gestattet. Aus dieser Aussage kann abgeleitet werden, dass das Verständnis der deutschsprachigen

BGE 147 I 73 (85):

Fragestellun gen vorausgesetzt war, um die Prüfung erfolgreich lösen zu können; entsprechend erlitt die Beschwerdeführerin als Tessiner Studentin italienischer Muttersprache einen Nachteil, der einem Ausgleich zugänglich war (vgl. E. 6.4.1 hiervor). Auch in Anbetracht des (unwidersprochen gebliebenen) Umstands, dass die ETH Zürich deutschsprachigen Studentinnen und Studenten in englischsprachigen Prüfungen den Gebrauch von Englisch-Deutsch-Wörterbüchern regelmässig gestattet, ist vorliegend von einer an die Sprache anknüpfenden Ungleichbehandlung (Art. 8 Abs. 2 BV) der Beschwerdeführerin auszugehen.
6.5.2 Hingegen kann sich im Interesse der Chancengleichheit aufdrängen, fremdsprachigen Studentinnen und Studenten im Sinne der Herstellung einer gleichen Ausgangslage den Gebrauch von Wörterbüchern zu gestatten (Art. 35 Abs. 1 BV). Daran ändert nichts, dass die ETH Zürich die Zulassung zu ihren Studiengängen in verfassungsrechtlich zulässiger Weise (vgl. E. 6.5.1 hiervor) vom Nachweis hinreichender Sprachkenntnisse abhängig macht (vgl. Art. 5 Abs. 1, Art. 23 Abs. 2 [für Personen mit schweizerischem Vorbildungsausweis] bzw. Art. 24 Abs. 2 [für Personen mit ausländischem Vorbildungsausweis] der Verordnung der ETH Zürich vom 30. November 2010 über die Zulassung zu den Studien an der ETH Zürich [Zulassungsverordnung ETH Zürich; SR 414.131.52]). Aus diesem Zulassungserfordernis kann nämlich nicht geschlossen

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wer den, dass fremdsprachige Studentinnen und Studenten die deutsche Sprache auf dem Niveau eines Muttersprachlers beherrschen; insoweit bleibt im Kontext von Prüfungssituationen eine ungerechtfertigte Chancenungleichheit möglich, auch wenn die Beherrschung der deutschen Sprache auf einem gewissen Niveau für die Zulassung an die ETH Zürich vorausgesetzt wird.
6.5.3 Die ETH Zürich im vorliegenden Fall zur Zulassung eines Wörterbuchs als Hilfsmittel zu verpflichten, rechtfertigt sich auch, wenn man den sprachenrechtlichen Kontext der vorliegenden Angelegenheit berücksichtigt: Die Verfassung misst den vier Landessprachen grosses Gewicht zu (Art. 4, Art. 70 und Art. 175 Abs. 4 BV); Plurilingualität erscheint mithin als identitätsstiftendes Wesensmerkmal des schweizerischen Bundesstaats (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b des Bundesgesetzes vom 5. Oktober 2007 über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften [Sprachengesetz, SpG; SR 441.1]; vgl. auch BORGHI/PREVITALI, Le droit des langues: un élément constitutif de l'Etat fédéral suisse, in: Bildungs-, Kultur- und Sprachenrecht, Ehrenzeller [Hrsg.], SBVR Bd. IX, 2018, S. 681 ff., S. 681; MARTINA CARONI, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 4 zu Art. 4 BV; REGULA KÄGI-DIENER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 7 zu Art. 4 BV; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 3. Aufl. 1999, S. 305). Auf Gesetzesebene wird der Bund deshalb programmatisch dazu verpflichtet, die vier Landessprachen gleich zu behandeln (Art. 3 Abs. 1 lit. a SpG) und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften zu fördern (Art. 3 Abs. 1 lit. d SpG). In diesem Lichte zu lesen ist auch die Verpflichtung der ETH Zürich, die Nationalsprachen zu pflegen und das Verständnis für deren kulturelle Werte zu fördern (vgl. auch Art. 12 Abs. 3 des ETH-Gesetzes). Diesen Bestimmungen kommt zwar lediglich programmatische Bedeutung zu; für die Beantwortung der Frage, ob die Benachteiligung italienischsprachiger Studentinnen und Studenten aus dem Tessin und Südbünden gerechtfertigt ist, sind sie dennoch von Belang.
Personen italienischer Muttersprache, die über eine schweizerische Matur verfügen, besitzen nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, in der Schweiz in ihrer Muttersprache ein universitäres Studium zu absolvieren: Zwar bietet die Università della Svizzera italiana einige Bachelor-Studiengänge (Architektur; Italienische Sprache,

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Lite ratur und Kultur; Kommunikation; Wirtschaft; Informatik; in Zusammenarbeit mit der Universität Basel Medizin) und verschiedene spezialisierte Master-Studiengänge an (vgl. die Übersicht unter www.usi.ch/en/education/bachelor/medicine [besucht am 14. September 2020]). Im Vergleich mit dem weiten Fächerspektrum, das an den Universitäten der Romandie bzw. der Deutschschweiz zur Verfügung steht, ist die Auswahl jedoch überschaubar. Wollen italienischsprachige Maturandinnen oder Maturanden mit Schweizer Matur in der Schweiz ein Studium in einem der Fächer aufnehmen, das an der Università della Svizzera italiana nicht angeboten wird (dazu gehört namentlich auch das Fach Biologie), haben sie keine andere Wahl, als sich an einer Universität im deutsch- bzw. französischsprachigen Raum zu immatrikulieren. Ihnen in dieser Situation durch Zulassung bestimmter Prüfungshilfsmittel einen Ausgleich für ihre sprachlichen Nachteile zu gewähren, ist auch aus bundesstaatlichen Gründen geboten.
Die bereits oben (vgl. E. 6.4.3 hiervor) wiedergegebene Aussage des Dozenten, er hätte der Beschwerdeführerin auf entsprechende Nachfrage hin den Gebrauch eines Wörterbuchs gestattet, impliziert, dass der Gebrauch eines Wörterbuchs vorliegend gegenüber den anderen Prüflingen nicht zu einer Überkompensation geführt hätte. Da von keiner Verfahrenspartei anderes vorgebracht wird, ist daher als Zwischenergebnis festzuhalten, dass die ETH Zürich unter Gleichheitsgesichtspunkten und auch in Anbetracht des bundesstaatlichen Sprachenrechts verpflichtet gewesen wäre, der Beschwerdeführerin in der streitbetroffenen Prüfung den Gebrauch eines Deutsch-Italienisch/Italienisch-Deutsch-Wörterbuchs zu gestatten.


BGE 147 I 73 (88):

6.7 Nicht jede Unstimmigkeit im Prüfungsverfahren kann freilich zum Anlass genommen werden, das Prüfungsergebnis in Frage zu stellen: Mängel im Prüfungsverfahren sind nur dann rechtserheblich, wenn sie das Prüfungsergebnis entscheidend beeinflussen können oder beeinflusst haben (vgl. Urteile 2D_6/2010 vom 24. Juni 2010 E. 5.2; 1P.420/2000 vom 3. Oktober 2000 E. 4b). Zu prüfen bleibt deshalb im vorliegenden Zusammenhang, ob es einen kausalen Einfluss auf das Prüfungsresultat haben konnte, dass der Beschwerdeführerin der Gebrauch eines Deutsch-Italienisch/Italienisch-Deutsch-Wörterbuchs zu Unrecht verweigert wurde. Dabei muss genügen, dass der ungerechtfertigte Nachteil nach allgemeiner Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet war, sich auf das Prüfungsresultat auszuwirken; ob eine natürliche Kausalität in dem Sinne vorliegt, dass bei verfassungskonformem Ablauf der Prüfung eine genügende Note resultiert hätte, dürfte sich im Regelfall nämlich einem (direkten) Beweis entziehen.
Aus diesem Grund überzeugt der Einwand der ETH Zürich nicht, der zuständige Dozent sei bei der Durchsicht der Antworten der Beschwerdeführerin zum Ergebnis gelangt, die Beschwerdeführerin habe den Einleitungstext zur konkret strittigen Frage 3 sehr wohl verstanden, auf die Frage aber schlicht keine Antwort gewusst. Selbst unter dieser Hypothese bleibt nämlich möglich, dass die Beschwerdeführerin übermässig viel Zeit in Anspruch nehmen musste, um die Frage überhaupt zu verstehen, und dann unter dem Druck der Zeit nicht mehr richtig antworten konnte. So oder anders ist davon auszugehen, dass es sich (positiv) auf das Prüfungsresultat der Beschwerdeführerin hätte auswirken können, wenn ihr entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. E. 6.4-6.6 hiervor) der Gebrauch eines Wörterbuchs gestattet worden wäre. Angesichts der effektiv erzielten Note (3.25) ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass bei verfassungskonformem Prüfungsverfahren eine genügende Note resultiert hätte.