BGE 103 Ib 35
 
9. Urteil vom 18. März 1977 i.S. Eidg. Polizeiabteilung gegen Küng und Regierungsrat des Kantons Thurgau
 
Regeste
Administrativmassnahme wegen Verletzung von Verkehrsregeln. Entzug des Führerausweises oder Verwarnung?
Gefährdung des Verkehrs (Art. 16 Abs. 2 und Abs. 3 lit. a SVG). "Erhöhte abstrakte Gefährdung" genügt. Wann liegt eine "schwere" Gefährdung, wann ein "leichter Fall" vor? (Erw. 3-5).
 
Sachverhalt


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Rolf Küng verliess am 8. Mai 1976 spätabends das Restaurant "Freihof" in Nussbaumen, um mit seinem Personenwagen Renault 5 TL in Begleitung eines Bekannten auf der Bergstrasse nach Süden wegzufahren. Unmittelbar vorher waren einige Motorradfahrer in der gleichen Richtung aufgebrochen. Küng wollte ihnen nachsetzen und beschleunigte daher sein Fahrzeug stark, sobald er aus dem Parkplatz des Restaurants in die Bergstrasse eingebogen war. Als er sich in der folgenden, abfallenden Linkskurve der Strasse befand, merkte er, dass er zu schnell fuhr. Er bremste brüsk und verlor die Herrschaft über das Fahrzeug. Dieses rutschte in der Kurve geradeaus und prallte am rechten Strassenrand frontal an einen hölzernen Mast einer elektrischen Freileitung. Personen wurden nicht verletzt, auch nicht Küng und sein neben ihm sitzender Begleiter, die beide angegurtet waren. Am Auto brach die vordere Stossstange aus Kunststoff und entstand einiger Blechschaden. Am Mast wurde nur ein leichter Eindruck festgestellt.
Aufgrund dieses Sachverhalts belegte das Bezirksamt Steckborn Küng in Anwendung von Art. 31 Abs. 1, Art. 32 Abs. 1 und Art. 90 Ziff. 1 SVG mit einer Busse von Fr. 100.--. Wegen des gleichen Vorfalls verfügte das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau am 4. Juni 1976 gestützt auf Art. 16 Abs. 3 lit. a und Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG den Entzug des Führerausweises Küngs für die Dauer von sechs Monaten. Es hatte dem Betroffenen schon am 26. Juni 1975 wegen eines Selbstunfalls mit Sachschaden den Führerausweis für zwei Monate entzogen.
Auf Beschwerde Küngs hin hob der Regierungsrat des Kantons Thurgau die Verfügung vom 4. Juni 1976 auf und sprach eine blosse Verwarnung aus. Er nahm an, Küng habe wohl gegen Art. 31 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 SVG verstossen,

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dabei aber weder den Verkehr gefährdet noch andere belästigt. Sein Verhalten sei zwar zu missbilligen, doch liege nur ein leichter Fall im Sinne des Art. 16 Abs. 2 SVG vor.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Eidg. Polizeiabteilung, der Entscheid des Regierungsrates sei aufzuheben und der Führerausweis Küngs für sechs Monate, eventuell für eine gerichtlich zu bestimmende kürzere Dauer, zu entziehen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
In der Vernehmlassung versucht die Vorinstanz jedoch darzutun, dass auf dieses Geständnis nicht abgestellt werden könne. Sie führt dort aus:
"Die kurze Anhaltestrecke, das Fehlen von Bremsspuren, der geringe Sachschaden und der Umstand, dass der Weg von der Einmündung der Parkplatzausfahrt in die Dorfstrasse bis zur Kurve nur ca. 1520 Meter beträgt, deuten auf eine nicht sehr hohe Geschwindigkeit hin. Demzufolge kann Küng auch nicht ein Überschreiten der Geschwindigkeit vorgeworfen werden. Er war höchstens unvorsichtig oder bremste gemessen an der tatsächlichen Geschwindigkeit zu stark, denn man kann mit Fug behaupten, er hätte die Kurve mit Leichtigkeit passieren können, wenn er nur mässig gebremst oder in der Kurve Gas gegeben hätte (der Renault 5 TL ist bekanntlich mit Vorderradantrieb ausgerüstet)."


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Diese Ausführungen entkräften indessen das Geständnis Küngs nicht. Erklärte der Polizei, er habe den Motorradfahrern, die unmittelbar vor ihm den Parkplatz Verlassen hatten, nachsetzen wollen, und sagte anschliessend aus:
"Beim Wegfahren, sobald ich auf der asphaltierten Strasse war, beschleunigte ich mein Fahrzeug voll. Zirka in der Mitte der Kurve, welche Geschwindigkeit ich in diesem Moment hatte, kann ich nicht sagen, fühlte ich, dass ich für diese Kurve eine zu hohe Geschwindigkeit hatte. Ich machte dann den Fehler und leitete eine Vollbremsung ein. Infolge der Vollbremsung rutschte der Wagen geradeaus und prallte frontal in den Holzmasten. Nach meiner Schätzung hatten wir beim Aufprall nur noch eine geringe Geschwindigkeit."
Es besteht kein Grund, diese eingehende Darstellung in Zweifel zu ziehen. Nach Feststellung der Polizei beträgt die Entfernung zwischen der Einmündung der Parkausfahrt in die Strasse und der Kollisionsstelle immerhin etwa 65 m. Der Wagen Küngs kann demnach bis zum Beginn der "kurzen Anhaltestrecke" infolge der "vollen Beschleunigung" auf der abfallenden Strasse doch eine zu hohe Geschwindigkeit erreicht haben. Die Anhaltestrecke wäre länger gewesen, wenn das Fahrzeug nicht durch den Mast aufgehalten worden wäre. Die Angabe Küngs, dass der Wagen infolge der "Vollbremsung" geradeaus "gerutscht" ist, wird dadurch bestätigt, dass die Polizei eine "Brems-Stoppspur" festgestellt hat. Der Mast wurde allerdings nur leicht beschädigt. Dagegen ist am Auto ein Schaden entstanden, der nicht ganz unbedeutend gewesen sein kann; hat ihn doch die Polizei auf Fr. 1'000.-- geschätzt. Der Zusammenprall mit dem Mast muss demnach doch recht heftig gewesen sein. Er ist einseitig durch die vordere "Knautschzone" des Fahrzeugs aufgefangen worden. Es mag sein, dass Küng die Herrschaft über das Fahrzeug hätte behalten können, wenn er nicht brüsk und anhaltend gebremst hätte. Seine - möglicherweise unrichtige - Reaktion zwingt jedoch zum Schluss, dass er die Geschwindigkeit nicht den gegebenen Strassen- und Sichtverhältnissen angepasst hatte. Bekanntlich reagieren Fahrzeuglenker häufig falsch, wenn sie infolge übersetzter Geschwindigkeit, namentlich in Kurven, in eine schwierige Lage geraten.
Demnach ist davon auszugehen, dass Küng gegen Art. 32 Abs. 1 SVG verstossen hat, wie der Regierungsrat selber im angefochtenen Entscheid - in Übereinstimmung mit dem

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Befund des Bezirksamts Steckborn und des kantonalen Strassenverkehrsamts - festgestellt hat.
b) Diese Behörden haben in ihren Entscheiden dem fehlbaren Lenker auch eine Widerhandlung gegen Art. 31 Abs. 1 SVG zur Last gelegt. Die Vorinstanz lässt diesen Vorwurf in der Vernehmlassung offenbar nicht fallen. Die Eidg. Polizeiabteilung hält ihn jedoch für unbegründet. Sie führt aus, Art. 32 Abs. 1 SVG regle die Fahrgeschwindigkeit als eine Voraussetzung der Fahrzeugbeherrschung gesondert und gehe daher der allgemeinen Bestimmung von Art. 31 Abs. 1 SVG vor. Diese Bestimmung komme also nicht zur Anwendung, wenn das Nichtbeherrschen des Fahrzeugs einzig auf übersetzte Geschwindigkeit zurückzuführen sei. Aufgrund der Akten lasse sich nicht rechtsgenüglich nachweisen, dass Küng zusätzlich einen Fahrfehler begangen und deswegen das Fahrzeug nicht beherrscht habe. Wie es sich damit verhalte, kann indessen offengelassen werden. Die Eidg. Polizeiabteilung bemerkt mit Recht, dass die Frage, ob Küng auch gegen Art. 31 Abs. 1 SVG verstossen habe oder nicht, keinen Einfluss auf den Ausgang dieses Verfahrens hat. Es genügt festzustellen, dass er Art. 32 Abs. 1 SVG missachtet hat.
Man kann allerdings füglich bezweifeln, dass Küng im Sinne dieser Bestimmung andere belästigt hat. Die Frage kann indessen offenbleiben. Auf jeden Fall hat Küng dadurch, dass er zu schnell gefahren ist und infolgedessen die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren hat, den Verkehr gefährdet.
Eine Verkehrsgefährdung im Sinne des Art. 16 SVG ist nicht nur dann anzunehmen, wenn der Lenker durch seine regelwidrige Fahrweise andere Verkehrsteilnehmer einer konkreten Gefahr aussetzt. Es genügt, dass sein Verhalten nach den Umständen geeignet ist, den Verkehr zu gefährden (sog. erhöhte abstrakte Gefährdung).
Die Vorinstanz weist darauf hin, dass auf der in Frage stehenden Strassenstrecke um die kritische Zeit überhaupt kein Verkehr geherrscht habe, auf den Küng hätte achten müssen. Das trifft offenbar zu, schliesst aber eine erhöhte

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abstrakte Gefährdung keineswegs aus. Die Folgen, die eine übersetzte Geschwindigkeit eines Automobils unter den hier gegebenen Umständen haben kann, lassen sich nicht von vornherein abschätzen. Ob Küng zufällig entgegenkommende oder nachfolgende Wagen hätte gefährden können, wie die Eidg. Polizeiabteilung annimmt, mag allerdings zweifelhaft sein, kann indessen dahingestellt bleiben. Jedenfalls hätte sein Verhalten zu einem Zusammenstoss mit Fussgängern oder Radfahrern führen können. Entgegen der Meinung des Regierungsrates ist nicht sicher, dass jeder solche Strassenbenützer, z.B. ein vorausfahrender Radfahrer oder ein gehbehinderter Fussgänger, dem ins Rutschen geratenen Fahrzeug Küngs noch hätte ausweichen können. Die von Küng begangene Verkehrsregelverletzung war nach den Umständen durchaus geeignet, den Verkehr zu gefährden. Zudem lässt die Vorinstanz ausser acht, dass Küng in Begleitung eines Bekannten fuhr, der neben ihm sass. Es ist offensichtlich, dass dieser Mitfahrer, als "anderer" Verkehrsteilnehmer, durch die regelwidrige Fahrweise Küngs sogar konkret gefährdet wurde.
Nach der Rechtsprechung gefährdet ein Fahrzeugführer den Verkehr in schwerer Weise, wenn er durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer hervorruft oder in Kauf nimmt. Im vorliegenden Fall ist nicht festgestellt und lässt sich auch nicht mehr zuverlässig feststellen, wie hoch die Geschwindigkeit war, auf die Küng sein Fahrzeug beschleunigt hat. Die Möglichkeit ist nicht auszuschliessen, dass sie nicht besonders hoch war und dass daher ein einigermassen besonnener und geschickter Fahrer die Situation mit Leichtigkeit hätte meistern können. Sicher ist allerdings, dass Küng etwas zu schnell gefahren ist, und es lässt sich nicht bestreiten, dass sein Verhalten objektiv geeignet war, die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer ernstlich zu gefährden; doch fehlen genügende Anhaltspunkte

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für die Annahme eines groben Verschuldens. Der Vorwurf, Küng habe im Sinne von Art. 16 Abs. 13 lit. a SVG den Verkehr in schwerer Weise gefährdet, erscheint daher nicht als begründet.
Die Eidg. Polizeiabteilung vertritt die Auffassung, der Fall könne auch deshalb nicht als leicht eingestuft werden, weil der automobilistische Leumund Küngs getrübt sei; angesichts dieser Sachlage sei nicht zu erwarten, dass der Fehlbare durch eine blosse Verwarnung dazu gebracht werden könne, sich künftig im Strassenverkehr wohl zu verhalten. Die Vorinstanz wendet ein, es könne nicht der Sinn des Gesetzes sein, dass ein schlecht beleumdeter Motorfahrzeuglenker "nicht mehr verwarnt werden könnte und bei einer noch so kleinen Regelwidrigkeit à tout prix seinen Ausweis abzugeben hätte". Zu diesem Meinungsstreit braucht hier jedoch nicht Stellung genommen zu werden, da der Fall ohnehin, aus den oben angeführten Gründen, nicht als leicht qualifiziert werden kann.


BGE 103 Ib 35 (42):

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache an den Regierungsrat des Kantons Thurgau zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen zurückgewiesen.