BGE 101 Ib 132
 
24. Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. April 1975 i.S. Chemiewerkstoff-Technik GmhH gegen Eidg. Amt für geistiges Eigentum
 
Regeste
Art. 17 Abs. 1 PatG und Art. 4 PVÜ.
 
Sachverhalt


BGE 101 Ib 132 (132):

A.- Die Chemiewerkstoff-Technik GmbH in Wernau (BRD) ersuchte am 22. Juli 1974 das Eidg. Amt für geistiges Eigentum, ihr ein Patent für einen Schleppliftbügel zu erteilen. Sie begründete das Gesuch sinngemäss damit, sie habe am 28. Januar 1974 in der Bundesrepublik Deutschland ein Geschmacksmuster hinterlegt, das sich auf den gleichen Bügel beziehe, weshalb sie ab diesem Datum in der Schweiz ein Prioritätsrecht beanspruchen dürfe.
Das Amt antwortete ihr, dass ihr die Hinterlegung eines Geschmacksmusters in Deutschland nicht Anspruch auf Vormerkung eines Prioritätsrechtes für ein schweizerisches Erfindungspatent gebe. Da die Gesuchstellerin auf ihrem Standpunkt

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beharrte, wies das Amt ihr Begehren um Vormerkung eines Prioritätsrechtes durch Verfügung vom 29. November 1974 ab.
B.- Die Gesuchstellerin führt gegen diese Verfügung Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das Amt anzuweisen, die von ihr beanspruchte Priorität im Register einzutragen.
Das Amt beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Gemäss Art. 4 lit. A PVÜ sodann hat derjenige, der in einem der Verbandsländer die Anmeldung für ein Gebrauchsmuster, ein gewerbliches Muster oder Modell, eine Farbigerer Handelsmarke vorschriftsgemäss hinterlegt hat, für die Hinterlegung in den andern Ländern während bestimmter Fristen ein Prioritätsrecht (Abs. 1). Als prioritätsbegründend wird jede Hinterlegung anerkannt, der nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften jedes Verbandslandes oder nach den zwischen Verbandsländern abgeschlossenen zwei- oder mehrseitigen Verträgen die Bedeutung einer vorschriftsgemässen Hinterlegung zukommt (Abs. 2). Unter vorschriftsgemässer nationaler Hinterlegung ist jede Hinterlegung zu verstehen, die zur Festlegung des Zeitpunktes, an dem sie angemeldet worden ist, ausreicht (Abs. 3). Diese Vorschriften gelten für die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz, da beide Länder die hier massgebende Fassung der PVÜ von Stockholm (1967) ratifiziert haben (AS 1973 S. 1711/12).
Die Beschwerdeführerin vertritt gestützt auf Art. 4 PVÜ und Art. 17 PatG die Auffassung, sie könne aus der Hinterlegung des Geschmacksmusters in Deutschland ein Prioritätsrecht für eine schweizerische Patentanmeldung ableiten, was vom Amt dagegen verneint wird.


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2. Die PVÜ geht über das schweizerische PatG hinaus. Sie stellt Regeln zum Schutze des gewerblichen Eigentums im weitesten Sinne auf (vgl. Art. 1 Abs. 2 und 3), während das PatG nur den Erfindungsschutz ordnet. Dass Art. 4 PVÜ in seinen allgemeinen Vorschriften über das Prioritätsrecht (lit. A) auch Gegenstände des gewerblichen Eigentums nennt, von denen in Art. 17 PatG nicht die Rede ist, ergibt daher noch nichts für die hier streitige Frage. Das steht der Gewährung eines Prioritätsrechtes nicht entgegen, schliesst die Verweigerung eines solchen aber auch nicht aus. Entscheidend für die Streitfrage ist vielmehr, was zum Sinn und Zweck des Prioritätsrechtes in den weiteren Bestimmungen des Art. 4 PVÜ, namentlich unter lit. C, E und I ausgeführt wird.
a) Dabei ist schon nach allgemeiner Betrachtungsweise unverkennbar, dass nicht jede Erstanmeldung in einem Verbandsland, die sich auf einen Schutzgegenstand gemäss PVÜ bezieht, eine auch für die übrigen Gegenstände des gewerblichen Eigentums wirksame Priorität zu begründen vermag.
Dies erhellt vor allem aus dem Erfordernis, dass das Schutzrecht den gleichen Gegenstand betreffen muss (lit. C Abs. 4). Art. 17 PatG stimmt damit überein, da er das Prioritätsrecht von der "Anmeldung der gleichen Erfindungen" abhängig macht. Die beschränkte Bedeutung der Erstanmeldung für den Erwerb eines Prioritätsrechtes in einem andern Verbandsland ergibt sich ferner daraus, dass Art. 4 PVÜ für Muster und Modelle, Gebrauchsmuster, Patente und Erfinderscheine (lit. E und I) sowie für Fälle, in denen mehrere oder von einander abweichende oder bloss Teile von Patentanmeldungen vorliegen (lit. F, G und H), besondere Vorschriften enthält.
Diese Unterschiede werden von BODENHAUSEN (Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums) bereits in den Erläuterungen zu Art. 4 lit. A Abs. 1 hervorgehoben. Er führt dort insbesondere aus, dass die spätere Hinterlegung denselben Gegenstand betreffen muss wie die erste. Das trifft zu, wenn die Hinterlegung sich bei Patenten, Gebrauchsmustern und Erfinderscheinen auf dieselbe Erfindung oder Neuerung, im Falle eines Musters oder Modells auf das gleiche Muster und im Falle einer Fabrik- oder Handelsmarke auf das gleiche Zeichen für dieselben Waren bezieht. Unter Hinweis auf lit. E und I fügt er freilich bei, bei einigen Schutzgegenständen

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könnten Prioritätsrechte untereinander begründet, diese in bestimmten Fällen, wenn Identität des Gegenstandes gegeben und ein Antrag vorliegt, also auch in einer anderen Schutzart beansprucht werden (Anm. e und i zu Art. 4 lit. A Abs. 1). Entgegen der Annahme der Beschwerdeführerin schliesst er damit übergreifende Prioritäten in weiteren Fällen selber aus. Andernfalls wäre insbesondere nicht zu verstehen, dass Art. 4 lit. C für Erfindungspatente und Gebrauchsmuster Prioritätsfristen von zwölf Monaten, für gewerbliche Muster und Modelle sowie für Fabrik- oder Handelsmarken dagegen bloss solche von sechs Monaten vorsieht.
b) Gegen die Auffassung der Beschwerdeführerin spricht ferner der Wortlaut von Art. 4 lit. E PVÜ. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung ist die für gewerbliche Muster oder Modelle bestimmte Prioritätsfrist massgebend, wenn in einem Verbandsland ein solches Muster oder Modell unter Berufung auf die Anmeldung eines Gebrauchsmusters in einem andern Land hinterlegt wird. Gemäss Abs. 2 sodann darf ein Gebrauchsmuster in einem Land unter Inanspruchnahme eines Prioritätsrechtes, das durch die Hinterlegung einer Patentanmeldung in einem andern begründet worden ist, hinterlegt werden und umgekehrt.
Abs. 1 unterscheidet somit zwischen gewerblichen Mustern und Modellen einerseits und Gebrauchsmustern anderseits. Bei den ersteren geht es um den Schutz ihrer ästhetischen Form, bei den letzteren, die auch kleine Erfindungen genannt und in einigen Ländern als solche zugelassen werden, dagegen um den Schutz einer technischen Idee. Gewerbliche Muster und Modelle sind nur als Geschmacksmuster schützbar und zwar nicht bloss nach schweizerischem Recht (BGE 69 II 427 Erw. II, BGE 95 II 473 mit Zitaten), sondern auch nach jenem ausländischer Staaten, die den Muster- und Modellschutz anerkennen (TROLLER, Kurzlehrbuch des Immaterialgüterrechts, S. 83/84). Falls die Priorität für ein gewerbliches Muster oder Modell beansprucht, aber aus der Hinterlegung eines Gebrauchsmusters abgeleitet wird, bestimmt nun lit. E Abs. 1, dass die Frist von sechs Monaten massgebend ist; darin liegt eine Einschränkung, da die Prioritätsfrist für Gebrauchsmuster zwölf Monate beträgt (lit. C Abs. 1). Die Bestimmung sagt dagegen nicht, die Regelung gelte auch für den umgekehrten Fall. Davon ist bloss in Abs. 2 die Rede, wonach bei

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Erfindungspatenten und Gebrauchsmustern Prioritäten untereinander begründet werden dürfen. Für diese Gegenstände sieht lit. C Abs. 1 denn auch eine einheitliche Prioritätsfrist vor.
Wollte man Abs. 1 entgegen seinem Wortlaut auf den umgekehrten Fall ausdehnen, so würde die Bestimmung analog auf das gewerbliche Muster und Modell oder, wie die Beschwerdeführerin sich ausdrückt, auf das Geschmacksmuster angewendet. Eine analoge Anwendung läge auch vor, wenn man mit der Beschwerdeführerin ein Geschmacksmuster für die Begründung eines Prioritätsrechtes gemäss Abs. 2 genügen liesse, da die gewerblichen Muster und Modelle dort nicht erwähnt werden. Eine solche Auslegung widerspräche schon der Entstehung der PVÜ, deren Bestimmungen an den Revisionskonferenzen nur schrittweise erkämpft worden sind. Sie vertrüge sich insbesondere nicht mit der in Art. 4 lit. I enthaltenen Bestimmung, die erst 1967 an der Stockholmer Konferenz in die Übereinkunft aufgenommen worden ist. Danach vermag die Anmeldung eines Erfinderscheines nur dann wie die Patentanmeldung ein Prioritätsrecht zu begründen, wenn der Inhaber im Lande der Erstanmeldung nach seiner Wahl entweder ein Patent oder einen Erfinderschein verlangen durfte (vgl. BODENHAUSEN, a.a.O., Anm. a, c und e zu Art. 4 lit. I). Diese Einschränkung wäre ebenfalls nicht zu verstehen, wenn die Anmeldung eines Geschmacksmusters für die Begründung eines Prioritätsanspruches zum Schutze einer Erfindung ausreichen würde. Sie zeigt im Gegenteil, dass der gleiche Schutz schon in einem andern Land verlangt worden sein muss.
c) Eine analoge Anwendung der für Erfindungen vorgesehenen Regelung auf Geschmacksmuster wäre auch sachlich nicht gerechtfertigt. Die Patentanmeldung muss die Erfindung als technische Lehre in einer Beschreibung so offenbaren, dass der Fachmann sie ausführen kann (Art. 50 PatG). Gleich verhält es sich nach § 26 Abs. 1 des deutschen Patentgesetzes. Art. 4 lit. H PVÜ stimmt damit in dem Sinne überein, dass "die Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen" die Merkmale der Erfindung deutlich offenbaren muss. Das Geschmacksmuster schliesst eine Erfindung jedoch aus, da damit bloss eine ästhetische Formgebung geschützt werden kann. Seine Unterlagen taugen daher selbst bei offener Hinterlegung nicht, die

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Merkmale einer Erfindung darzutun. Das Amt hält der Beschwerdeführerin denn auch entgegen, dass die von ihr eingereichten Belege über wesentliche Merkmale der beanspruchten Erfindung keine Auskunft geben.
Eine Gleichstellung von Geschmacksmuster und Gebrauchsmuster liefe zudem darauf hinaus, einem Ausländer auf dem Umwege über die PVÜ Vorteile einzuräumen, die einem Inländer nicht zuständen, da der Gebrauchsmusterschutz in der Schweiz nicht gesetzlich ausgestaltet ist. Das widerspräche dem Sinn und Zweck der Übereinkunft, welche die Verbandsländer in Art. 2 bloss verpflichtet, Angehörige anderer Verbandsländer gleich zu behandeln wie die eigenen Staatsangehörigen.
Die Frage, ob der Beschwerdeführerin das von ihr beanspruchte Prioritätsrecht zustehe, wird durch die angefochtene Verfügung jedoch nicht präjudiziert. Darüber hat im Streitfall vielmehr der Richter zu entscheiden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.