BGE 100 Ia 163
 
24. Auszug aus dem Urteil vom 27. Februar 1974 i.S. Dr. iur. X. gegen Kantonsgericht St. Gallen.
 
Regeste
Handels- und Gewerbefreiheit; Anwalts- und Rechtsagentenmonopol.
2. Ebenso ist es vor Art. 31 BV haltbar, das Anwalts- bzw. Rechtsagentenmonopol auch auf die berufsmässige Erteilung von Rechtsauskunft und ähnliche aussergerichtliche Tätigkeiten (z.B. Beratung bei Errichtung von Gesellschaftsverträgen, Stiftungen und letztwilligen Verfügungen, Durchführung von Erbteilungen, Testamentsvollstreckung) auszudehnen (E. 3 b).
 
Sachverhalt


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Aus dem Tatbestand:
A.- Art. 59 des st. gallischen Gesetzes über die Zivilrechtspflege vom 20. März 1939 (ZP) regelt die Zulassung zum Berufe des Anwalts sowie des Rechtsagenten; Art. 123 ZP umschreibt den Kreis der den Anwälten bzw. Rechtsagenten vorbehaltenen Befugnisse. Art. 1 der vom Kantonsgericht St. Gallen erlassenen Anwaltsordnung (AO) enthält die Voraussetzungen für die Erteilung der Bewilligung zur Ausübung des Anwalts- oder Rechtsagentenberufes. Art. 123 ZP lautet:
"In allen Streitsachen, die von den Einzelrichtern, den Gerichtskommissionen oder der Rekurskommission entschieden werden, in sämtlichen summarischen Streitigkeiten sowie im Verfahren vor Betreibungs- und Konkursamt und vor der Nachlassbehörde ist die berufsmässige Vertretung der Parteien, soweit sie gesetzlich zulässig ist, nur solchen Personen gestattet, die vom Kantonsgerichte die Bewilligung zur Ausübung des Rechtsagenten berufes erhalten haben.
Personen, welche die gesetzliche Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufes im Kanton St. Gallen besitzen, haben dieselbe

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Befugnis und sind ausserdem zur berufsmässigen Vertretung oder Verbeiständung in allen Streitsachen vor den übrigen Gerichtsbehörden berechtigt.
Zu den Geschäften, die den Inhabern der Bewilligung zur Ausübung des Berufes eines Anwaltes oder Rechtsagenten vorbehalten sind, gehören auch die berufsmässige Vorbereitung der Prozesse und die Abfassung schriftlicher Eingaben an die Gerichtsbehörden, vor denen der Rechtsbeistand zugelassen ist, ferner die entgeltliche Besorgung folgender Geschäfte: Erteilung von Rechtsauskunft, Beratung bei Errichtung von Gesellschaftsverträgen, Stiftungen und letztwilligen Verfügungen, Durchführung von Erbteilungen, Testamentsvollstreckung sowie Beratung und Betätigung bei gerichtlichen oder aussergerichtlichen Nachlassverträgen.
Als berufsmässig gilt jede entgeltliche freiwillige Vertretung. Wer ein Vermögen oder eine Liegenschaft verwaltet, bedarf zur Durchführung von Betreibungen, Rechtsöffnungen und Besitzesschutzverfahren keiner Bewilligung, wenn diese Rechtsvorkehr zur Verwaltung gehört.
Bestimmungen von Rechtsschutzversicherungen und ähnlichen Unternehmungen, durch die der Versicherungsnehmer oder das Mitglied für die Prozessführung zum voraus in der freien Anwaltswahl eingeschränkt wird, sowie die Werbetätigkeit für den Abschluss solcher Verträge sind nicht zulässig. Art. 59 Abs. 3 findet Anwendung."
B.- Dr. iur. X. ersuchte am 12. September 1973 das Kantonsgericht St. Gallen, ihm gegenüber zu erklären, dass die Vorbereitung der Prozesse und die Abfassung schriftlicher Eingaben an Gerichtsbehörden (als stiller Vertreter), die entgeltliche Erteilung von Rechtsauskunft, die Beratung bei den in Art. 123 ZP genannten Rechtsgeschäften sowie die Vertretung und Beratung in Sch KG-Sachen keiner Bewilligung bedürfen, oder ihm für die Besorgung der genannten Geschäfte die generelle Bewilligung aufgrund seiner gegenwärtigen Ausbildung, Erfahrung und Fähigkeit zu erteilen.
Ausweise über seine Fähigkeit zur nachgesuchten Berufsausübung legte Dr. X. dem Begehren nicht bei.
C.- Mit Schreiben vom 5. Oktober 1973 verweigerte das Kantonsgericht St. Gallen die Abgabe einer Erklärung, wonach die von Dr. X. erwähnten Tätigkeiten nicht bewilligungsbedürftig seien, mit der Begründung, eine solche Erklärung widerspräche dem klaren Wortlaut und Sinn von Art. 123 ZP. Das Eventualbege.hren um prüfungsfreie Erteilung der betreffenden Berufsausübungsbewilligung wies es ebenfalls ab, da es an den Voraussetzungen für den Erlass der Fähigkeitsprüfung fehle.


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D.- Gegen die.Verweigerung der nachgesuchten Berufs.ausübungsbewilligung führt Dr. X. staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, die Verweigerungsverfügung des Kantonsgerichts St. Gallen vom 5. Oktober 1973 sei aufzuheben und die Bewilligung sei ihm unabhängig von einem Anwalts- oder Rechtsagentenexamen zu erteilen. Er macht Verletzung von Art. 31 und 33 BV sowie Willkür geltend.
Zur Begründung bringt der Beschwerdeführer im wesentlichen vor, der Kanton St. Gallen überschreite dadurch, dass er die Berufsausübung für nichtforensische juristische Tätigkeiten ausschliesslich von der für Anwälte und Rechtsagenten vorgeschriebenen Fähigkeitsprüfung abhängig mache, die Kompetenz gemäss Art. 33 BV und verstosse damit gegen Art. 31 BV. Die Bestimmung über das Erfordernis einer Fähigkeitsprüfung für die Ausübung der in Art. 123 ZP erwähnten aussergerichtlichen Tätigkeiten diene nicht dem Schutz der Bürger vor ungeeigneten Vertretern, sondern sei im Interesse der patentierten Anwälte und Rechtsagenten aufgestellt worden, denn solche Geschäfte könnten auch von nicht patentierten Juristen aufgrund ihres Studiums oder ihrer Praxis bewältigt werden. Die Prüfungspflicht sei somit durch das öffentliche Interesse nicht gerechtfertigt und verletze den Grundsatz der Verhältnismässigkeit.
E.- Das Kantonsgericht St. Gallen beantragt in seiner Vernehmlassung, die Beschwerde sei abzuweisen.
 
Aus den Erwägungen:
1. und 2.- (Prozessuales).
3. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtes geniesst der Anwaltsberuf den Schutz der in Art. 31 BV gewährleisteten Handels- und Gewerbefreiheit (BGE 98 Ia 58 E. 3, 95 I 334 E. 4, 73 I 9 E. 5). Indessen sind die Kantone gemäss Art. 31 Abs. 2 und Art. 33 Abs. 1 BV zum Erlass einer polizeilichen Beschränkung des Rechts auf freie wirtschaftliche Betätigung ermächtigt, insbesondere bleibt es ihnen anheimgestellt, die wissenschaftlichen Berufsarten aus öffentlichen Interessen dem Fähigkeitsausweis zu unterstellen; die Kantone dürfen jedoch die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten nur von solchen Kenntnissen und Fähigkeiten abhängig machen, die zur Erreichung des angestrebten gewerbepolizeilichen Zweckes, nämlich des Schutzes des Publikums vor Un fähigen, notwendig sind, und haben den Grundsatz der Verhältnismässigkeit

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des polizeilichen Eingriffs zu wahren (BGE 95 I 334 E. 4, BGE 94 I 226, BGE 93 I 519 E. 4 b, BGE 73 I 10, LARGIER, Der Fähigkeitsausweis im schweizerischen Wirtschaftsrecht, S. 58/59). Der Beschwerdeführer macht geltend, soweit Art. 123 Abs. 3 ZP in Frage stehe, seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt, weshalb es verfassungswidrig sei, die berufsmässige Ausübung der darin erwähnten Tätigkeiten von einer Bewilligung abhängig zu machen.
a) Der Beschwerdeführer anerkennt, dass die Bewilligungspflicht für die berufsmässige Vertretung der Parteien vor Gericht gemäss Art. 123 Abs. 1 und 2 ZP mit Art. 31 BV im Einklang stehe, also im öffentlichen Interesse liege und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entspreche. Hingegen erblickt er darin eine Verletzung der Art. 31 und 33 BV, dass Art. 123 Abs. 3 ZP auch die Bewilligungspflicht für die berufsmässige Vorbereitung der Prozesse und die Abfassung schriftlicher Eingaben an die Gerichtsbehörden statuiert.
Die Prozessvorbereitung ist unerlässliche Voraussetzung und damit wesentlicher Bestandteil der Prozessführung; das Verfassen von Prozesseingaben ist Prozessführung selbst, auch wenn die Eingaben nicht vom Verfasser - vom Beschwerdeführer "stiller Vertreter" genannt -, sondern von der Prozesspartei unterzeichnet werden. Beides gehört demnach zur Prozessführung. Ist diese, sofern sie berufsmässig ausgeübt wird, bewilligungspflichtig, was der Beschwerdeführer mit Recht anerkennt, gilt das ebenso für die berufsmässige Prozessvorbereitung und die Abfassung von Prozesseingaben. Die bewilligungsfreie Ausübung dieser. Tätigkeiten wäre nichts anderes als die Umgehung der bewilligungspflichtigen berufsmässigen Vertretung vor Gericht. Die Rüge, das in Art. 123 Abs. 3 ZP enthaltene Verbot der berufsmässigen Prozessvorbereitung und der Abfassung schriftlicher Eingaben an die Gerichtsbehörden durch Nichtinhaber der Anwalts- oder Rechtsagentenbewilligung sei durch das öffentliche Interesse nicht gerechtfertigt und unverhältnismässig, weshalb es die Handels- und Gewerbefreiheit verletze, ist daher unbegründet.
b) Der Beruf des Rechtsanwaltes beschränkt sich nicht auf die Prozessführung. Er umfasst auch die aussergerichtliche Rechtsberatung. Dem trägt Art. 123 Abs. 3 ZP Rechnung, indem er allgemein die entgeltliche Erteilung von Rechtsauskünften sowie die entgeltliche Besorgung folgender Geschäfte

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den Inhabern einer Anwalts- oder Rechtsagentenbewilligung vorbehält: Beratung bei Errichtung von Gesellschaftsverträgen, Stiftungen und letztwilligen Verfügungen, Durchführung von Erbteilungen, Testamentsvollstreckung sowie Beratung und Betätigung bei geric.htlichen oder aussergerichtlichen Nachlassverträgen. Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist diese Ausdehnung der Bewilligungspflicht auf die nichtforensische juristische Tätigkeit durch das öffentliche Interesse nicht gerechtfertigt und unverhältnismässig.
Von der Rechtsberatung hängen in der Regel bedeutende, oft lebenswichtige Entscheidungen im persönlichen, familiären und beruflichen Bereich der Ratsuchenden ab. Das Publikum hat daher ein elementares und schutzwürdiges Interesse an der Zuverlässigkeit der Rechtsberatung. Die berufsmässige Erteilung von Rechtsauskunft stellt keine geringeren Anforderungen an die Fachkenntnis, die Sorgfalt, die Treue, das Verantwortungsbewusstsein und die Zutrauenswürdigkeit des Beraters als die Prozessführung. Unzuverlässige Beratung führt leicht zu Fehlverhalten des Ratsuchenden, das seinen wohlverstandenen Interessen abträglich ist, und enthält den Keim künftiger Konflikte und Prozesse. Zur zuverlässigen Beratung benötigt der Berater - gleich wie der Anwalt (BGE 91 I 205 /6) - vollen, rückhaltlosen Einblick in alle erheblichen Verhältnisse. Dazu muss er auf das unbedingte Vertrauen des Ratsuchenden zählen können, was voraussetzt, dass dieser seinerseits voll auf die Verschwiegenheit des Beraters vertrauen darf. Allein der patentierte Anwalt - und der Rechtsagent, soweit er ihm gesetzlich gleichgestellt ist - ist von Gesetzes wegen an das Berufsgeheimnis gebunden (Art. 321 StGB, Art. 14 AO) und bietet daher volle Gewähr für Verschwiegenheit. Einzig den Anwälten und Rechtsagenten ist sodann, im Gegensatz zu anderen Ratgebern, untersagt, sich einen Anteil am Erfolg versprechen zu lassen (Art. 9 AO). Über die Erfüllung dieser sowie der weiteren, in den Art. 6 ff. AO aufgezählten, ebenfalls nur die Inhaber einer Anwalts- bzw. Rechtsagentenbewilligung treffenden Berufspflichten (Standespflichten) hat eine Aufsichtskommission zu wachen, welche Pflichtverletzungen durch Disziplinarstrafen (Verweis, Ordnungsbusse, Einstellung im Beruf, Entziehung des Patentes) ahnden kann (Art. 62 ZP, Art. 16 ff. AO). Ist die Höhe der Gebührenforderungen der Anwälte und Rechtsagenten, auf die der amtliche Tarif anzuwenden

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ist, streitig, so entscheidet auf Begehren einer Partei die Rekurskommission des Kantonsgerichts (Moderationsverfahren; Art. 360 ZP).
Nach dem Gesagten erscheint es durchaus vernünftig und jedenfalls vor Art. 31 BV haltbar, das Anwalts- bzw. Rechtsagentenmonopol auch auf die berufsmässige Erteilung von Rechtsauskunft auszudehnen und damit die diese Tätigkeit Ausübenden ebenfalls dem zwischen dem Staat und den Inhabern einer Anwalts- oder Rechtsagentenbewilligung bestehenden, die Disziplinargewalt in sich schliessenden Aufsichtsverhältnis zu unterstellen.
Was für die allgemeine Rechtsberatung gilt, trifft analog für die Besorgung der in Art. 123 Abs. 3 ZP speziell aufgeführten Geschäfte zu. Wenn daher Art. 123 Abs. 3 ZP die erwähnten nichtforensischen juristischen Tätigkeiten den Anwälten und Rechtsagenten vorbehält, so ist das durch den Schutz des Publikums vor ungeeigneten Beratern und Vertretern gerechtfertigt und geht nicht über diesen Zweck hinaus. Demnach sind die beim Erlass einer gestützt auf Art. 31 Abs. 2 und 33 Abs. 1 BV vorgenommenen gewerbepolizeilichen Massnahme zu beachtenden Grundsätze der Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit gewahrt.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, im Sinne der Erwägungen abgewiesen.