BGer 6B_892/2016
 
BGer 6B_892/2016 vom 16.09.2016
{T 0/2}
6B_892/2016
 
Urteil vom 16. September 2016
 
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Stephan Schlegel,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 28. April 2016.
 
Erwägungen:
 
1.
Das Bezirksgericht Rheinfelden verurteilte den Beschwerdeführer am 13. Juni 2007 u.a. wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und Drohung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren. Es ordnete zudem eine ambulante psychiatrisch/psychotherapeutische und suchtspezifische Behandlung nach Art. 63 StGB an.
Am 1. September 2010 wandelte das Bezirksgericht die ambulante Behandlung nachträglich in eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 StGB um. Auf Ersuchen des Amts für Justizvollzug beantragte die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg am 6. Mai 2015 deren Verlängerung um 5 Jahre. Das Bezirksgericht verlängerte die stationäre therapeutische Massnahme am 27. Juli 2015 um 2 ½ Jahre.
Den Parteien ging der schriftlich begründete Entscheid des Bezirksgerichts am 6. August 2015 zu. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen am 20. August 2015 Berufung ein. Sie verlangte erneut eine Massnahmeverlängerung um 5 Jahre.
Das Obergericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft am 28. April 2016 teilweise gut. Es verlängerte die am 1. September 2010 angeordnete stationäre therapeutische Massnahme um 3 Jahre (ab Zeitpunkt der Urteilsfällung).
Mit Beschwerdeeingabe vom 17. August 2016 beantragt der Beschwerdeführer die Aufhebung des Urteils. Er rügt eine Verletzung von Art. 363 ff. StPO, Art. 396 Abs. 1 i.V.m. Art. 385 StPO und Art. 89 ff. StPO. Das Rechtsmittel gegen nachträgliche gerichtliche Entscheide gemäss Art. 363 ff. StPO sei nach der Praxis des Bundesgerichts ausschliesslich die Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft habe Berufung nach Ablauf der 10-tägigen Beschwerdefrist eingelegt. Das Obergericht hätte auf das verspätete Rechtsmittel von Amtes wegen nicht eintreten dürfen.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau schliessen in ihren Vernehmlassungen vom 26. August 2016 und 1. September 2016 auf Beschwerdeabweisung. Sie machen im Wesentlichen geltend, die Beschwerdegegnerin habe Berufung gegen den Entscheid des Bezirksgerichts Rheinfelden vom 27. Juli 2015 eingelegt zu einem Zeitpunkt, als der Grundsatzentscheid BGE 141 IV 396 noch nicht ergangen sei. Gemäss der langjährigen Praxis im Kanton Aargau sei die Berufung das zulässige Rechtsmittel in Nachverfahren gewesen. Die Staatsanwaltschaft habe sich deshalb auf die entsprechende Rechtsmittelbelehrung des Entscheids des Bezirksgerichts vom 27. Juli 2015 verlassen dürfen. Von einer Überweisung an die Beschwerdekammer sei vor Obergericht abgesehen worden, da dem Beschwerdeführer aus der Behandlung der Sache im Berufungsverfahren kein Nachteil erwachsen sei.
 
2.
Die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) trat am 1. Januar 2011 in Kraft. Sie löste die bisherigen kantonalen Strafprozessordnungen ab. Die StPO regelt das Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts in Art. 363 ff. StPO. Welches das zulässige Rechtsmittel gegen solche Entscheide ist, lässt sich den gesetzlichen Bestimmungen nicht unmittelbar entnehmen. Die Frage wurde im Schrifttum kontrovers diskutiert. Eine Mehrheitsmeinung vertrat gestützt insbesondere auf die Gesetzesmaterialien den Standpunkt, die Beschwerde sei das zulässige Rechtsmittel gegen Entscheide im Nachverfahren im Sinne von Art. 363 ff. StPO. Eine Minderheitsmeinung trat demgegenüber für die Berufung als das zu-lässige Rechtsmittel ein. In den Kantonen war die Praxis geteilt. Einzelne Kantone, darunter auch der Kanton Aargau, haben teilweise in Anlehnung an die Minderheitsmeinung in der Lehre, teilweise im Anschluss an frühere Regelungen, die Berufung als das zulässige Rechtsmittel gegen selbstständige nachträgliche gerichtliche Entscheide bezeichnet (vgl. BGE 141 IV 396 E. 3 mit Hinweisen auf die geteilte Meinung im Schrifttum und die Praxis in den Kantonen).
Das Bundesgericht entschied am 3. September 2015 in einer öffentlichen Beratung namentlich gestützt auf den gesetzgeberischen Willen in Übereinstimmung mit der überwiegenden Lehre, dass selbstständige nachträgliche gerichtliche Entscheide im Sinne von Art. 363 ff. StPO mit Beschwerde anzufechten sind. Der Entscheid wurde in der amtlichen Sammlung publiziert (BGE 141 IV 396 E. 4.7). Das Bundesgericht bestätigte damit seine bisherige Rechtsprechung, in welcher es sich unter Hinweis auf die Botschaft und einzelne Autoren mehrfach konstant dafür ausgesprochen hatte, dass die Beschwerde (und nicht die Berufung) das zulässige Rechtsmittel gegen selbstständige gerichtliche Entscheide im Sinne von Art. 363 ff. StPO sei (siehe Urteile 6B_293/2012 vom 21. Februar 2012 E. 2, 6B_425/2013 vom 31. Juli 2013 E. 1.2, 6B_688/2013 vom 28. Oktober 2013 E. 2.1. und 2.2 sowie namentlich 6B_538/2013 vom 14. Oktober 2013 E. 5.2, worin es ausdrücklich heisst, selbständige nachträgliche gerichtliche Entscheide im Sinne von Art. 363 ff. StPO seien "par la voie du recours à l'exclusion de l'appel" anzufechten).
Keines der vor dem Grundsatzentscheid vom 3. September 2015 ergangenen Urteile zum zulässigen Rechtsmittel gegen Entscheide im Nachverfahren wurde in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichts publiziert. Die Urteile vom 21. Februar 2012, 31. Juli 2013, 14. und 28. Oktober 2013 wurden jedoch online aufgeschaltet und waren damit über das Internet zugänglich. Sie hatten überdies Eingang in die Fachliteratur gefunden (siehe Urteil 6B_1182/2015 vom 16. Juni 2016 E. 3.3 mit Hinweisen).
 
3.
Die Staatsanwaltschaft als spezialisierte Fachbehörde hätte die im Internet veröffentlichte und in der Fachliteratur diskutierte bundesgerichtliche Rechtsprechung zum zulässigen Rechtsmittel gegen nachträgliche richterliche Entscheide kennen und beachten müssen (siehe Urteil 6B_1182/2015 vom 16. Juni 2016 E. 3.4). Sie hätte daher nicht mehr vorbehaltlos auf die im Kanton Aargau geübte (abweichende) Praxis und auf die Rechtsmittelbelehrung des kantonalen Entscheids des Bezirksgerichts abstellen dürfen. In Anbetracht der im Internet veröffentlichten und in die Fachliteratur aufgenommenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann sie sich nicht darauf berufen, sie habe auf die Richtigkeit der im angefochtenen Entscheid enthaltenen Rechtsmittelbelehrung vertrauen können und es dürfe ihr aus der allenfalls unrichtigen Rechtsmittelbelehrung kein Nachteil erwachsen. Die Voraussetzungen für Vertrauensschutz liegen nicht vor. Dies gilt, auch wenn man aus dem Umstand, dass keines der zitierten Bundesgerichtsurteile in der amtlichen Sammlung publiziert wurde, schliessen wollte, das Bundesgericht habe sich vorbehalten, allenfalls auf seine diesbezügliche Rechtsprechung zurückzukommen. Selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte die Staatsanwaltschaft aufgrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in jedem Fall - vorsichtshalber - innerhalb der dafür vorgesehenen Frist von 10 Tagen auch Beschwerde erheben müssen (siehe Urteil 6B_1182/2015 vom 16. Juni 2016 E. 3.4 und 4).
Das hat sie nicht getan. Der Entscheid des Bezirksgerichts wurde ihr am 6. August 2015 schriftlich und begründet zugestellt. Die 10-tägige Beschwerdefrist (Art. 396 Abs. 1 StPO) begann folglich am 7. August 2015 zu laufen und endete am 17. August 2015 (Art. 90 Abs. 2 StPO). Die Staatsanwaltschaft erklärte am 20. August 2015 (Poststempel) Berufung. Das nach Ablauf der Frist von 10 Tagen erhobene Rechtsmittel kann bzw. konnte daher nicht als Beschwerde entgegengenommen und behandelt werden. Die (sachlich unzuständige) 1. Kammer des Obergerichts hätte auf die verspätete Eingabe der Staatsanwaltschaft von Amtes wegen nicht eintreten dürfen.
Durch das unzulässige Eintreten auf das Rechtsmittel erlitt der Beschwerdeführer einen Nachteil, da im Rechtsmittelverfahren die Massnahmeverlängerung von 2 ½ Jahren auf 3 Jahre ab Urteilsdatum erhöht wurde. Der Einwand, ihm sei durch die Behandlung im Berufungsverfahren verfahrensrechtlich kein Nachteil entstanden, stösst im vorliegenden Kontext ins Leere.
 
4.
Die Beschwerde ist damit im Verfahren nach Art. 109 BGG gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Obergericht des Kantons Aargau zur neuen Beurteilung zurückzuweisen.
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter zuzusprechen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gegenstandslos (BGE 139 III 396 E. 4.1).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 28. April 2016 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Obergericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3. Der Kanton Aargau hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Dr. Stephan Schlegel, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 16. September 2016
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill