BGer 9C_201/2016
 
BGer 9C_201/2016 vom 18.07.2016
{T 0/2}
9C_201/2016
 
Urteil vom 18. Juli 2016
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch CAP Rechtsschutz-Versicherungsgesellschaft AG,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des
Kantonsgerichts Luzern vom 8. Februar 2016.
 
Sachverhalt:
A. Die IV-Stelle Luzern sprach dem im Juni 1954 geborenen A.________ mit Verfügungen vom 12. Dezember 2012 und 4. Februar 2013 eine ganze Rente ab August 2009 resp. eine halbe Rente ab Juni 2012 zu (Invaliditätsgrad 100 resp. 50 %). Im August 2013 leitete sie ein Revisionsverfahren ein. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob sie die Rente mit Verfügung vom 11. Dezember 2014 auf Ende Januar 2015 auf mit der Begründung, dem Versicherten sei infolge Verbesserung seines Gesundheitszustandes die angestammte Tätigkeit wieder uneingeschränkt zumutbar.
B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 8. Februar 2016 ab.
C. A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 8. Februar 2016 sei ihm eine ganze Rente zuzusprechen; eventualiter sei die bisherige Rente zu bestätigen und die Sache zur weiteren Abklärung und Prüfung eines höheren als des bisherigen Anspruchs an die IV-Stelle zurückzuweisen.
A.________ hat Gelegenheit erhalten, sich zur Zulässigkeit einer Rentenaufhebung mit substituierter Begründung zu äussern, und lässt eine weitere Eingaben einreichen.
 
Erwägungen:
1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Es wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Folglich ist das Bundesgericht weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen, und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen).
2. Das kantonale Gericht hat dem psychiatrischen Gutachten des Dr. med. B.________ vom 8. September 2014 Beweiskraft beigemessen und gestützt darauf eine nunmehr uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf als kaufmännischer Mitarbeiter und in angepassten Tätigkeiten festgestellt. Sodann ist es von einer Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes im Vergleich zum Zeitpunkt bei der Rentenzusprache ausgegangen, weshalb es die Voraussetzungen für eine Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG bejaht hat. Folglich hat es die Rentenaufhebung bestätigt.
Der Beschwerdeführer bestreitet die Beweiskraft des Gutachtens des Dr. med. B.________ und das Vorliegen eines Revisionsgrundes; die wiedererwägungsweise Rentenaufhebung hält er ebenfalls für unzulässig. Zudem bestreitet er die Verwertbarkeit der (Rest-) Arbeitsfähigkeit.
 
3.
3.1. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis).
3.2. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG [SR 830.1]; vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen) darf sich die Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder über die (den beweisrechtlichen Anforderungen genügenden; vgl. BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis) medizinischen Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Die rechtsanwendenden Behörden haben diesfalls mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auch invaliditätsfremde Gesichtspunkte (insbesondere psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren) mitberücksichtigt, die vom invaliditätsrechtlichen Standpunkt aus unbeachtlich sind (vgl. BGE 140 V 193; 130 V 352 E. 2.2.5 S. 355 f.; Urteil 9C_146/2015 vom 19. Januar 2016 E. 3.1).
3.3. Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 1). Die konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen) wie auch die Frage nach der rechtlichen Relevanz einer attestierten Arbeitsunfähigkeit (BGE 140 V 193) frei überprüfbare Rechtsfrage.
 
4.
4.1. Im Hinblick auf die Rentenrevision gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG (vgl. SVR 2011 IV Nr. 1 S. 1, 8C_972/2009 E. 3.2; Urteil 9C_379/2014 vom 26. August 2014 E. 3.2) ist in der Tat zweifelhaft, ob sich die gesundheitliche Situation seit der (auf dem Gutachten des Dr. med. C.________ vom 16. Januar und 2. März 2012 beruhenden; vgl. E. 4.4) Rentenzusprache in anspruchsrevelanter Weise (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 und E. 3.2 S. 12) veränderte resp. ob sich eine solche Veränderung aus dem Gutachten des Dr. med. B.________ ergibt. Dieser hielt denn auch explizit fest, dass er "zusammenfassend" in Bezug auf den medizinischen Sachverhalt die Auffassung des Dr. med. C.________ "vollständig" teile. Wie es sich damit verhält, kann indessen offenbleiben, wie sich aus dem Folgenden ergibt.
4.2. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG (SR 830.1) in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG kann die IV-Stelle jederzeit auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Mit der gleichen (substituierten) Begründung kann die Beschwerdeinstanz die zunächst auf Art. 17 ATSG gestützte Rentenaufhebung schützen (SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53, 9C_303/2010 E. 4; Urteil 9C_770/2015 vom 24. März 2016 E. 2.1). Das gilt auch für das Bundesgericht (vgl. Urteil 9C_765/2015 vom 21. April 2016 E. 3.2), sofern den Beteiligten dazu das rechtliche Gehör gewährt wurde. Dieses Vorgehen setzt weder ein Wiedererwägungsgesuch des Versicherten noch einen entsprechenden Antrag des Versicherers voraus, sondern ergibt sich daraus, dass die Gerichte das Recht von Amtes wegen anzuwenden haben (Art. 106 Abs. 1 und Art. 110 BGG; BGE 125 V 368; Urteile 9C_203/2010 vom 21. September 2010 E. 3.1.3; 9C_303/2010 vom 5. Juli 2010 E. 4).
4.3. Die Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts (BGE 117 V 8 E. 2c S. 17 mit Hinweis; Urteile 9C_290/2009 vom 25. September 2009 E. 3.1.3; 9C_215/2007 vom 2. Juli 2007 E. 3.1). Darunter fällt insbesondere eine unvollständige Sachverhaltsabklärung aufgrund einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG und Art. 61 lit. c ATSG; Urteile 9C_877/2011 vom 22. Mai 2012 E. 3.1; 9C_466/2010 vom 23. August 2010 E. 3.2.2). Eine auf keiner nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der massgeblichen Arbeitsfähigkeit beruhende Invaliditätsbemessung ist nicht rechtskonform und die entsprechende Verfügung zweifellos unrichtig im wiedererwägungsrechtlichen Sinne (Plädoyer 2011/1 S. 65, 9C_760/2010 E. 2 mit Hinweisen; Urteil 9C_290/2009 vom 25. September 2009 E. 3.1.3 mit Hinweisen).
Ob die Verwaltung bei der Rentenzusprache den Untersuchungsgrundsatz (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG; BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.) und andere bundesrechtliche Vorschriften beachtet hat, ist frei überprüfbare Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteile 9C_882/2014 vom 23. Juni 2015 E. 3.2; 9C_397/2012 vom 30. Oktober 2012 E. 3.2).
4.4. Laut verbindlicher (E. 1) vorinstanzlicher Feststellung beruhte die Rentenzusprache im Wesentlichen auf den Einschätzungen des Dr. med. C.________. Dieser erhob weitgehend unauffällige objektive Befunde und diagnostizierte mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit einzig eine "rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig allenfalls leichtgradig bis weitgehend remittiert gemäss ICD-10 F33.4". Weiter führte er aus: "Bedingt durch die grenzwertige depressive Symptomatik [...] kann heutzutage nicht von einer Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden." Eine Rückkehr zur letzten Arbeitstätigkeit hielt er "aufgrund der entstandenen Dekonditionierung" für kaum mehr möglich. Er ging von einer "mindestens 50%igen Arbeitsmöglichkeit für leichtere kaufmännische Tätigkeiten" aus. In der Folge anerkannte die IV-Stelle eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 50 %.
Bei diesen Gegebenheiten lässt sich eine rechtlich relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nicht nachvollziehen: Einerseits gelten leichte bis höchstens mittelschwere depressive Leiden grundsätzlich als therapeutisch angehbar (Urteile 9C_13/2016 vom 14. April 2016 E. 4.2; 9C_250/2012 vom 29. November 2012 E. 5). Anderseits fehlt es bei "weitgehend remittierter" Symptomatik ohnehin an einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (vgl. auch Art. 88a Abs. 1 IVV [SR 831.201]).
4.5. Nach dem Gesagten beruhte die Rentenzusprache auf einer offensichtlich ungenügenden (E. 3.1 und 3.2) Grundlage, weshalb die (unbefristete) Verfügung vom 12. Dezember 2012 zweifellos unrichtig war. Sodann ist die Berichtigung einer zweifellos unrichtigen Verfügung stets von erheblicher Bedeutung, wenn sie periodische Leistungen zum Gegenstand hat (BGE 140 V 85 E. 4.4 S. 87 f.; 119 V 475 E. 1c S. 480). Das gilt auch hier, wo eine halbe Invalidenrente bis zum Vollenden des 65. Altersjahres, mithin über rund viereinhalb Jahre umstritten ist. Somit war die Rentenaufhebung grundsätzlich zulässig. Zu prüfen bleibt der Rentenanspruch ex nunc et pro futuro resp. bei Erlass der rentenaufhebenden Verfügung vom 11. Dezember 2014.
4.6. Was der Beschwerdeführer gegen das Gutachten des Dr. med. B.________ vorbringt, hält nicht stand: Selbst wenn aufgrund der Medikation von einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auszugehen wäre, könnte daraus - wie auch aus dem Umstand, dass der Versicherte "zurückgezogen lebt", nicht auf eine Arbeitsunfähigkeit geschlossen werden. Dass Dr. med. B.________ die Untersuchung nur teilweise selber durchführte und im Übrigen das Gutachten in Zusammenarbeit mit einem Psychologen verfasste, schadet nicht, zumal auch reine Aktengutachten beweiskräftig sein können (Urteil 9C_223/2014 vom 4. Juni 2014 E. 6.1 mit Hinweisen). Zudem stehen die medizinischen Einschätzungen des Dr. med. B.________ im Einklang mit jenen des Dr. med. C.________, der lediglich eine "grenzwertige depressive Symptomatik" feststellen konnte (E. 4.4). Sodann beruhte die Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 17. Juni 2014 nicht auf einer eigenen Untersuchung, sondern auf zwei Berichten des Hausarztes; dementsprechend wurde keine Arbeitsunfähigkeit attestiert, sondern eine Begutachtung empfohlen und anschliessend bei Dr. med. B.________ in Auftrag gegeben. Dass die Arbeitsfähigkeit in somatischer Hinsicht eingeschränkt sein soll, legt der Beschwerdeführer nicht substanziiert dar; zudem befasst er sich auch nicht mit der entsprechenden vorinstanzlichen Erwägung. Ohnehin beschränkt er sich auf weiten Strecken darauf, lediglich die medizinischen Unterlagen abweichend von der Vorinstanz zu würdigen und daraus andere Schlüsse zu ziehen, was nicht genügt (Urteile 9C_794/2012 vom 4. März 2013 E. 4.1; 9C_65/2012 vom 28. Februar 2012 E. 4.3 mit Hinweisen). Das Gutachten des Dr. med. B.________ erfüllt die bundesrechtlichen Anforderungen an die Beweiskraft (E. 3.1).
4.7. Bei diesem (Zwischen-) Ergebnis bleiben die auf dem Gutachten des Dr. med. B.________ beruhenden vorinstanzlichen Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit (E. 2) verbindlich (E. 1). Was die Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit anbelangt, so ist grundsätzlich nicht der tatsächliche, sondern der hypothetische ausgeglichene Arbeitsmarkt entscheidend (vgl. Art. 7 Abs. 1 und Art. 16 ATSG). Weder der Verlust des früheren Arbeitsplatzes noch die verbleibende Aktivitätsdauer von rund vier Jahren und neun Monaten (vgl. BGE 138 V 457 E. 3 S. 459 ff.) spricht gegen die Verwertbarkeit. Die Vorinstanz hat die Rentenaufhebung zu Recht bestätigt; die Beschwerde ist unbegründet.
5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 18. Juli 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Glanzmann
Die Gerichtsschreiberin: Dormann