BGer 1C_660/2015
 
BGer 1C_660/2015 vom 14.06.2016
{T 0/2}
1C_660/2015
 
Urteil vom 14. Juni 2016
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Störi.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecherin Regula Schlegel,
gegen
Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich,
Bereich Administrativmassnahmen,
Lessingstrasse 33, Postfach, 8090 Zürich,
Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich,
Neumühlequai 10, Postfach, 8090 Zürich.
Gegenstand
Vorsorglicher Entzug des Führerausweises; Abklärung der Fahreignung.
Beschwerde gegen das Urteil vom 17. November 2015 des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 1. Abteilung, Einzelrichter.
 
Sachverhalt:
A. Aufgrund der Meldung von B.________, sein Sohn A.________ (Jg. 1974) würde in seiner Wohnung randalieren und Hilfe benötigen, rückte die Kantonspolizei Zürich am 25. Oktober 2014 zu dessen Wohnung in Wädenswil aus. Der beigezogene SOS-Arzt liess A.________ fürsorgerisch unterbringen. Die Beamten stellten zudem eine Indoor-Hanfanlage mit 10 Marihuana-Stauden sicher.
Nach seiner Entlassung aus dem Sanatorium Kilchberg wurde A.________ am 8. Januar 2015 polizeilich befragt. Gestützt auf diesen Polizeirapport entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich A.________ den Führerausweis am 30. Januar 2015 vorsorglich. Nachdem A.________ dagegen rekurriert hatte, zog das Strassenverkehrsamt seine Verfügung wegen inhaltlicher Mängel in Wiedererwägung. Am 14. April 2015 entzog es A.________ den Führerausweis erneut vorsorglich.
Am 10. Juli 2015 wies die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich den Rekurs von A.________ gegen die Entzugsverfügung vom 14. April 2015 ab.
Am 17. November 2015 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde von A.________ gegen diesen Rekursentscheid ab.
B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, die Entscheide des Strassenverkehrsamts, der Sicherheitsdirektion und des Verwaltungsgerichts aufzuheben, ihm die Fahrerlaubnis unverzüglich zu erteilen und seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
C. Die Sicherheitsdirektion und das Verwaltungsgericht verzichten auf Vernehmlassung. Das Strassenverkehrsamt beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
D. Am 21. Januar 2016 wies der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung das Gesuch um aufschiebende Wirkung ab.
E. Das Bundesamt für Strassen ASTRA beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
A.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest.
 
Erwägungen:
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts. Dagegen steht die Beschwerde nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Die kantonalen Instanzen haben dem Beschwerdeführer den Ausweis vorsorglich zur Abklärung der Fahreignung entzogen. Der angefochtene Entscheid schliesst das Verfahren nicht ab; er stellt daher einen Zwischenentscheid dar, der nach der Rechtsprechung anfechtbar ist, da er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinn von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirkt. Beim vorsorglichen Führerausweisentzug handelt es sich um eine vorsorgliche Massnahme nach Art. 98 BGG (Urteile 1C_328/2013 vom 18. September 2013 E. 1.2; 1C_233/2007 vom 14. Februar 2008 E. 1.2; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer kann somit nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügen (Urteil 1C_264/2014 vom 15. Februar 2015 E. 2).
Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde, soweit die Aufhebung der Entscheide des Strassenverkehrsamts und der Sicherheitsdirektion verlangt wird. Diese sind durch das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts ersetzt worden (Devolutiveffekt) und gelten als inhaltlich mitangefochten (BGE 134 II 142 E. 1.4 S. 144).
Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde unter den erwähnten Vorbehalten einzutreten ist.
 
2.
2.1. Führerausweise werden entzogen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG), u.a. wenn die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit einer Person nicht mehr ausreicht, um ein Motorfahrzeug sicher zu führen (Art. 16d Abs. 1 lit. a SVG). Wecken konkrete Anhaltspunkte ernsthafte Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen, ist eine verkehrsmedizinische Abklärung anzuordnen (Art. 15d Abs. 1 SVG, Art. 28a Abs. 1 VZV). Wird eine verkehrsmedizinische Abklärung angeordnet, so ist der Führerausweis nach Art. 30 VZV im Prinzip vorsorglich zu entziehen (BGE 125 II 396 E. 3 S. 401; Entscheide des Bundesgerichts 1C_356/2011 vom 17. Januar 2012 E. 2.2; 1C_420/2007 vom 18. März 2008 E. 3.2 und 6A.17/2006 vom 12. April 2006 E. 3.2; vgl. auch 1C_256/2011 vom 22. September 2011 E. 2.5). Diesfalls steht die Fahreignung des Betroffenen ernsthaft in Frage, weshalb es unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit grundsätzlich nicht zu verantworten ist, ihm den Führerausweis bis zum Vorliegen des Untersuchungsergebnisses zu belassen.
2.2. In sachverhaltlicher Hinsicht beruht der angefochtene Entscheid einzig auf dem Polizeirapport vom 8. Januar 2015, der schwergewichtig die beim Vorfall vom 25. Oktober 2015 sichergestellte Indoor-Hanfanlage zum Gegenstand hat. In Bezug auf die Fahreignung ergibt sich daraus - gestützt auf die sachverhaltlichen Feststellungen der Vorinstanz sowie auf die eigenen Aussagen des Beschwerdeführers - Folgendes: Im Oktober 2014 hatte er sich entschlossen, einen Alkoholentzug durchzuführen. Am 25. Oktober 2014 verlor er nach einem Streit mit seiner Mutter die Fassung, randalierte und wurde fürsorgerisch untergebracht. Daraufhin unterzog sich der Beschwerdeführer im Sanatorium Kilchberg einer Entzugskur. Die von ihm gezogenen Hanfpflanzen hätten gemäss seinen eigenen Angaben nicht der Produktion von Betäubungsmitteln gedient, er konsumiere keine solchen. Hingegen nehme er seit Jahren Pantozol gegen eine chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung ein. Im Sanatorium Kilchberg sei ihm nun Seroquel in hoher Dosierung (4 x 100 mg tagsüber und 2 x 300 mg nachts) verschrieben worden. Eine Entbindung der ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht gegenüber den Untersuchungsbehörden lehnte er ausdrücklich ab.
2.3. Erstellt ist, dass der Beschwerdeführer vor dem Vorfall vom 25. Oktober 2014 grössere Alkoholprobleme hatte, die er nach eigener Einschätzung nicht mehr alleine in den Griff bekommen konnte. Ob seine offenbar seit Jahren bestehende Entzündung der Bauchspeicheldrüse auf (jahrelangen) Alkoholmissbrauch zurückgeführt werden kann, ist nicht erstellt. Die entsprechende Annahme der Vorinstanzen stellt eine Vermutung medizinischer Laien dar, die zutreffen kann oder auch nicht. Unbestritten ist anderseits, dass der automobilistische Leumund des Beschwerdeführers makellos ist, er somit auch während der Zeit seiner Alkoholabhängigkeit im Strassenverkehr nie negativ aufgefallen ist.
Nach seiner Entlassung aus dem Entzug, über dessen Verlauf nichts bekannt ist, nahm der Beschwerdeführer Seroquel in hoher Dosierung zu sich und beabsichtigte, sich einer Psychotherapie zu unterziehen. Das Medikament ist laut Arzneimittel-Kompendium ( www.compendium.ch) indiziert zur Behandlung von Schizophrenie sowie manischen und depressiven Episoden bei bipolaren Störungen. Es wurde offenbar in der Zwischenzeit abgesetzt.
Der Beschwerdeführer war somit vor dem Vorfall vom 25. Oktober 2014 alkoholabhängig und, wie die Notwendigkeit seiner fürsorgerischen Unterbringung zeigt, psychisch instabil. Über seine Behandlung im Sanatorium und deren ambulante Fortführung bzw. die Auswirkungen dieser Massnahmen auf den Zustand des Beschwerdeführers ist nichts Gesichertes bekannt, was auch daran liegt, dass er die behandelnden Ärzte nicht von ihrer Schweigepflicht entbunden hat. Es steht somit nicht sicher fest, dass der Alkoholentzug erfolgreich war und der Beschwerdeführer (wenigstens für eine bestimmte Zeit) abstinent leben kann und will. Die hoch dosierte Verschreibung von Seroquel weist zudem auf psychische Probleme hin, die allenfalls seine Fahreignung beeinträchtigen könnten. Zurzeit steht jedenfalls nicht fest, dass der Beschwerdeführer seine Alkoholsucht überwunden hat und psychisch ausreichend stabil ist, um zuverlässig Gewähr zu bieten, sich nicht in fahrunfähigem Zustand ans Steuer zu setzen. Das Verwaltungsgericht ist somit jedenfalls nicht in Willkür verfallen, indem es zum Schluss kam, es bestünden ernsthafte Zweifel an seiner Fahreignung, welche einen vorsorglichen Führerausweisentzug und die Anordnung einer verkehrsmedizinischen Abklärung rechtfertigten. Eine Verfassungsverletzung im Sinne von Art. 98 BGG ist nicht ersichtlich. Die Beschwerde ist unbegründet.
3. Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da seine Bedürftigkeit ausgewiesen scheint und die Beschwerde nicht geradezu aussichtlos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:
2.1. Es werden keine Kosten erhoben.
2.2. Fürsprecherin Regula Schlegel wird für das bundesgerichtliche Verfahren als amtliche Rechtsvertreterin eingesetzt und mit Fr. 2'000.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, Bereich Administrativmassnahmen, der Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 1. Abteilung, Einzelrichter, dem Bundesamt für Strassen Sekretariat Administrativmassnahmen und dem Regierungsrat des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. Juni 2016
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Störi