BGer 1B_344/2015
 
BGer 1B_344/2015 vom 11.02.2016
{T 0/2}
1B_344/2015
 
Urteil vom 11. Februar 2016
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Josef Flury,
gegen
Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm,
Untere Grabenstrasse 32, Postfach 1475, 4800 Zofingen.
Gegenstand
Strafverfahren; Einsetzung als amtlicher Verteidiger,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 28. August 2015 des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.
 
Sachverhalt:
A. Mit Strafbefehl vom 6. Juli 2015 verurteilte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm A.________ wegen Betrugs im Sinne von Art. 146 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen à Fr. 60.-- und einer Busse von Fr. 800.--. Sie hielt für erwiesen, dass er die Arbeitslosenkasse der UNIA um Fr. 6'166.95 Arbeitslosenentschädigung betrogen hatte. Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm widerrief zudem die mit ihren Strafbefehlen vom 11. April 2011 (Geldstrafe von 90 Tagessätzen à Fr. 110.-- wegen Tierquälerei) und vom 6. Juli 2011 (Geldstrafe von 5 Tagessätzen à Fr. 110.-- wegen Nichtabgabe von Ausweisen oder Kontrollschildern) bedingt ausgesprochenen Strafen.
Am 10. Juli 2015 erhob A.________ Einsprache gegen den Strafbefehl und ersuchte gleichzeitig um Bewilligung der amtlichen Verteidigung unter Einsetzung seines Rechtsanwaltes als amtlicher Verteidiger.
Am 20. Juli 2015 wies die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm das Gesuch um amtliche Verteidigung ab.
Am 28. August 2015 wies das Obergericht des Kantons Aargau die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde ab (Dispositiv-Ziffer 1). Ausserdem wies es sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verteidigung für das Beschwerdeverfahren ab (Dispositiv-Ziffer 2) und auferlegte ihm die Gerichtskosten (Dispositiv-Ziffer 3).
B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und ihm seinen Verteidiger als amtlichen Anwalt beizugeben. Eventuell sei der Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Für das Verfahren vor Obergericht sei sein Verteidiger voll zu entschädigen, oder eventuell sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Für das Verfahren vor Bundesgericht ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verteidigung.
C. Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm beantragt unter Verweis auf ihre Beschwerdeantwort vom 13. August 2015 und den angefochtenen Entscheid, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
 
Erwägungen:
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem das Obergericht die Abweisung des Gesuchs des Beschuldigten um Einsetzung eines amtlichen Verteidigers schützte; dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 BGG). Er schliesst das Verfahren indessen nicht ab; es handelt sich mithin um einen Zwischenentscheid, gegen den die Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur (BGE 133 IV 139 E. 4) bewirken könnte. Das ist bei der Verweigerung der amtlichen Verteidigung der Fall (BGE 133 IV 335 E. 4 mit Hinweisen; Urteil 1B_436/2011 vom 21. September 2011, E. 1). Der Beschwerdeführer, der im Strafverfahren beschuldigt wird und dessen Gesuch um amtliche Verteidigung abgelehnt wurde, ist zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG).
2. Das Obergericht verneinte im angefochtenen Entscheid einen Anspruch des Beschwerdeführers auf amtliche Verteidigung mit der Begründung, das Verfahren biete weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten, denen er ohne Rechtsbeistand nicht gewachsen wäre. Es liess offen, ob es sich um einen Bagatellfall handle und ob der Beschwerdeführer bedürftig sei.
2.1. Die Verteidigung ist in den Art. 128 ff. StPO geregelt. In besonders schwer wiegenden Straffällen ist sie unter bestimmten Voraussetzungen - etwa wenn die Untersuchungshaft mehr als 10 Tage gedauert hat oder eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr in Aussicht steht (Art. 130 lit. a und b StPO) - notwendig, d.h. der beschuldigten Person muss auf jeden Fall ein Verteidiger zur Seite gestellt werden. Bestimmt sie keinen Wahlverteidiger, muss ihr diesfalls zwingend ein amtlicher Verteidiger bestellt werden (Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO). In Bagatellfällen besteht dagegen grundsätzlich kein Anspruch auf amtliche Verteidigung (Art. 132 Abs. 2 StPO). Steht für den Fall einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe von über 4 Monaten, eine Geldstrafe von über 120 Tagessätzen oder gemeinnützige Arbeit von mehr als 480 Stunden in Aussicht, liegt jedenfalls kein Bagatellfall mehr vor (Art. 132 Abs. 3 StPO). In den dazwischen liegenden Fällen relativer Schwere ist eine amtliche Verteidigung anzuordnen, wenn der Beschuldigte nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung seiner Interessen geboten erscheint (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). Letzteres ist dann der Fall, wenn der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Probleme aufwirft, denen der Beschuldigte allein nicht gewachsen ist (Art. 132 Abs. 2 StPO).
2.2. Die Staatsanwaltschaft hat den Beschwerdeführer zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen verurteilt. Damit stellt der Vorfall, für sich allein betrachtet, einen Bagatellfall dar (Art. 132 Abs. 3 BGG e contrario). Der Beschwerdeführer macht indessen geltend, bei der Beurteilung der Frage, ob ein Bagatellfall vorliege oder nicht, seien auch frühere, bedingt ausgesprochene Strafen, deren Widerruf in Betracht falle, zum drohenden Strafmass hinzuzuzählen. Diesfalls läge das dem Beschwerdeführer drohende Strafmass bei 175 Tagessätzen, womit die gesetzliche Grenze des Bagatellfalls nach Art. 132 Abs. 3 StPO überschritten wäre.
Das Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang bisher nur entschieden, dass bei der Prüfung der Frage, ob ein Beschuldigter notwendig zu verteidigen sei, weil ihm eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr droht (Art. 130 lit. b StPO), die Widerrufsmöglichkeit bedingter Freiheitsstrafen, nicht aber diejenige bedingter Geldstrafen mitzuberücksichtigen ist (Urteil 1B_444/2013 vom 31. Januar 2014 E. 2, in: Pra 2014 Nr. 61 S. 456). Es hat dabei erwogen, es erscheine plausibel, dass der Gesetzgeber die notwendige Verteidigung nur für die schwerste Sanktionsart - die Freiheitsstrafe - habe vorsehen wollen, nicht aber für Geldstrafen; hätte er diesbezüglich Freiheitsstrafe, Geldstrafe und gemeinnützige Arbeit gleichstellen wollen, hätte er dies durch eine entsprechende Formulierung von Art. 130 lit. b StPO leicht tun können. Genau dies hat der Gesetzgeber in Art. 132 Abs. 3 StPO betreffend die  amtliche Verteidigung und den Bagatellfall getan. Nach dieser Bestimmung kann nicht nur eine Freiheitsstrafe, sondern auch eine hohe Busse oder langdauernde gemeinnützige Arbeit den Rahmen des Bagatellfalles sprengen. Insofern ist folgerichtig für die Abgrenzung des Bagatellfalls vom relativ schweren Fall die Widerrufsmöglichkeit dieser drei Strafarten miteinzubeziehen.
Damit ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer der Widerruf von 95 Tagessätzen Geldstrafe sowie eine neue Verurteilung zu einer Geldstrafe in der Grössenordnung von 80 Tagessätzen droht. Damit liegt kein Bagatellfall mehr vor, sondern ein relativer schwerer Fall. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft im Strafbefehl vom 6. Juli 2015 die Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt; damit droht dem Beschwerdeführer der Vollzug von 95 Tagessätzen Geldstrafe, was aber unbeachtlich bleibt für die Frage, ob die Schwelle zum relativ schweren Fall überschritten ist. Auch wenn es sich beim hier zu beurteilenden Vorfall somit nicht mehr um einen Bagatellfall handelt, so liegt er jedenfalls im unteren Bereich dessen, was bereits als relativ schwerer Fall gilt.
2.3. Nach dem Strafbefehl soll der Beschwerdeführer die Formulare, gestützt auf die ihm die Arbeitslosenkasse die Arbeitslosenentschädigung auszahlte, wahrheitswidrig ausgefüllt haben, indem er nicht alle von ihm in der relevanten Periode für Temporärfirmen geleisteten Arbeitseinsätze anführte. Dies im Wissen darum, dass die Arbeitslosenkasse diese Angaben wegen des dafür erforderlichen Aufwands nicht überprüfen und ihm dementsprechend eine zu hohe Arbeitslosenentschädigung ausrichten würde. Dieser Tatvorwurf ist einfach und auch für den Beschwerdeführer, der deutsch versteht und spricht, nachvollziehbar, selbst wenn er offenbar nur über eine schulische Grundausbildung verfügt. Er ist damit auch in der Lage, mögliche Einwände wie die bereits vorgebrachten - er habe die Formulare bloss irrtümlich falsch ausgefüllt, oder er sei davon ausgegangen, dass die Temporärfirmen seine Arbeitseinsätze direkt der Arbeitslosenkasse gemeldet hätten und die Formulare somit für die Bemessung seiner Arbeitslosenentschädigung nicht massgebend gewesen seien - alleine zu erheben.
Einen Betrug im Sinn von Art. 146 Abs. 1 StGB begeht u.a., wer in der Absicht, sich unrechtmässig zu bereichern, jemanden durch Vorspiegelung oder Unterdrückung von Tatsachen arglistig irreführt und den Irrenden zu einem Verhalten bestimmt, wodurch er sich am Vermögen schädigt. Dieser Betrugstatbestand kann zwar in rechtlicher Hinsicht schwierige Fragen aufwerfen, denen ein Laie von vornherein nicht gewachsen ist. Vorliegend sind solche jedoch nicht erkennbar. Trifft der Tatvorwurf zu und hat der Beschwerdeführer im Wissen darum, dass die Arbeitslosenkasse ihm die Arbeitslosenentschädigung aufgrund der von ihm ausgefüllten Formulare ohne weitere Überprüfung auszahlen würde, diese vorsätzlich falsch ausgefüllt in der Absicht, eine überhöhte Arbeitslosenentschädigung erhältlich zu machen, ist der Betrugstatbestand von Art. 146 Abs. 1 StGB wohl ohne weiteres erfüllt. Gelingt es dem Beschwerdeführer jedoch, einem der Tatbestandselemente die tatsächliche Grundlage zu entziehen, liesse sich damit auch der Betrugsvorwurf nicht aufrechterhalten. Zur Erhebung solcher sachlicher Einwände, wie im obenstehenden Abschnitt beispielhaft angeführt, braucht es keine besonderen juristischen Kenntnisse, über die der Beschwerdeführer nicht verfügt.
2.4. Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten vorliegen, denen der Beschwerdeführer alleine nicht gewachsen wäre. Das Obergericht hat kein Bundesrecht verletzt, indem es dem Beschwerdeführer die amtliche Verbeiständung verweigerte.
3. Insbesondere im Hinblick auf die mit Betrugsvorwürfen gelegentlich verbundenen schwierigen Rechtsfragen war es nicht von vornherein klar, dass die Voraussetzungen für eine amtliche Verbeiständung im Strafverfahren nicht gegeben sind. Dementsprechend war die Beschwerde gegen die Abweisung des Gesuchs um amtliche Verbeiständung nicht von vornherein aussichtslos. Da die Ergreifung von (nicht aussichtslosen) Rechtsmitteln zur gebotenen Wahrung von Parteiinteressen im Sinn von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO gehört, hat das Obergericht Bundesrecht verletzt, indem es dem Beschwerdeführer die amtliche Verbeiständung wegen Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels verweigerte. Allerdings konnte es unter diesen Umständen die Frage offen lassen, ob der Beschwerdeführer bedürftig sei. Das ist indessen zu bejahen. Nach den plausiblen und im Wesentlichen belegten Ausführungen des Beschwerdeführers bezieht er Sozialhilfe, verfügt über kein steuerbares Vermögen und hat hohe Schulden. Eine Erhöhung der auf seiner Liegenschaft lastenden Hypothek von Fr. 470'000.-- erscheint unrealistisch, dazu würde bei diesen prekären finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers wohl keine Bank Hand bieten. Dass die beiden auf ihn eingelösten Personenwagen nicht ihm, sondern seinem Sohn bzw. seinem Schwiegersohn gehören, ergibt sich aus den ins Recht gelegten Kaufverträgen. Die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers erscheint damit ausgewiesen. Wie das Obergericht unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts zutreffend darlegt (E. 3.2 S. 6), beschränkt sich die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege an den Beschuldigten in von der StPO beherrschten Verfahren auf die Befreiung von Kostenvorschüssen und auf die amtliche Verbeiständung; sie beinhaltet dagegen keine definitive Befreiung von den Verfahrenskosten (zuletzt Urteil 1B_203/2015 vom 1. Juli 2015 E. 6.2). Damit bleibt es bei der obergerichtlichen Kostenauflage (Dispositiv-Ziffer 3).
4. Die Beschwerde ist somit teilweise gutzuheissen und Dispositiv-Ziffer 2 des obergerichtlichen Urteils aufzuheben; im Übrigen ist sie abzuweisen. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege ist nach den Ausführungen in E. 3 gutzuheissen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Damit sind keine Kosten zu erheben (Art. 64 Abs. 1 und Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Auf eine Rückweisung der Sache ans Obergericht zur Ausrichtung einer Parteientschädigung kann verzichtet werden, indem die Parteientschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen erhöht und nach dem Ausgang des Verfahrens auf den Kanton Aargau und das Bundesgericht aufgeteilt wird.
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und Dispositiv-Ziffer 2 des angefochtenen Urteils des Obergerichts des Kantons Aargau vom 28. August 2015 aufgehoben; im Übrigen wird sie abgewiesen.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
2.2. Rechtsanwalt Josef Flury wird als amtlicher Anwalt eingesetzt und für das obergerichtliche und das bundesgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 2'500.-- entschädigt, wovon Fr. 1'500.-- der Kanton Aargau und Fr. 1'000.-- das Bundesgericht bezahlen.
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 11. Februar 2016
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Störi