BGer 6B_626/2015
 
BGer 6B_626/2015 vom 01.10.2015
{T 0/2}
6B_626/2015
 
Urteil vom 1. Oktober 2015
 
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Bundesrichterin Jametti
Gerichtsschreiber Faga.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Heuberger,
Beschwerdeführer,
gegen
1. A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Gian Moeri, Berther Moeri Neuber Rechtsanwälte,
2. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Fahrlässige Körperverletzung; willkürliche Beweiswürdigung,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 23. März 2015.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
B.
 
C.
 
Erwägungen:
 
1.
 
2.
 
3.
3.1. Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. auch Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 139 II 404 E. 10.1 S. 445 mit Hinweisen; vgl. zum Begriff der Willkür BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f.; 139 III 334 E. 3.2.5 S. 339; 138 I 49 E. 7.1 S. 51; je mit Hinweisen).
3.2. Die Vorinstanz spricht A.________ (Beschwerdegegner 1) vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo frei.
3.3. Die Vorinstanz legt im Einzelnen dar, weshalb sie gewichtige Zweifel am angeklagten Sachverhalt hegt und die Beweislage als nicht eindeutig einschätzt. Was der Beschwerdeführer ihrer Beweiswürdigung entgegenhält, vermag keine Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung zu begründen. Der Beschwerdeführer bringt beispielsweise vor, auf die Aussagen des Beschwerdegegners 1 könne angesichts mehrerer Widersprüche nicht abgestellt werden. Dieser habe den Verzicht auf das Vortrittsrecht durch Handzeichen oder Lichthupe erst anlässlich der (ersten) staatsanwaltschaftlichen Einvernahme geschildert, was die Vorinstanz nicht berücksichtigt habe. Die Rüge dringt nicht durch. Die Vorinstanz hält in Anlehnung an die erstinstanzlichen Erwägungen fest, der Beschwerdegegner 1 habe einmal festgehalten, "dass er sich mitten auf der Strasse befunden habe, als die Fahrzeuge gekommen seien, und ein andermal erklärte er, dass er das herannahende Auto bereits bei der Einfahrt gesehen habe". Nach der ersten von der Vorinstanz erwähnten Variante erblickte der Beschwerdegegner 1 das fragliche Fahrzeug erst mitten auf der Strasse und erfolgte die Einfahrt auf die Strasse nicht aufgrund einer Zeichengebung. Der Verzicht auf das Vortrittsrecht war damit Teil der Erwägungen, und die Vorinstanz hat die verschiedenen Unstimmigkeiten in den Aussagen des Beschwerdegegners 1 nicht verkannt. Dass sie die Schilderungen des Beschwerdegegners 1 gleichwohl als glaubhaft einschätzt, kann nicht als unhaltbar bezeichnet werden. Was der Beschwerdeführer vorbringt, erschöpft sich in appellatorischer Kritik an der Beweiswürdigung, die zur Begründung der Willkürrüge nicht genügt. Gleiches gilt, soweit der Beschwerdeführer behauptet, er sei mit Blick auf die Berechnungen im Privatgutachten für den Beschwerdegegner 1 erkennbar gewesen. Mit den entsprechenden vorinstanzlichen Erwägungen zum Privatgutachten setzt er sich nicht auseinander.
 
4.
4.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 17 Abs. 4 VRV. Das Wendemanöver hätte auf keinen Fall durchgeführt werden dürfen. Die Wehntalerstrasse sei an der Unfallstelle bereits bei mittlerem Verkehrsaufkommen unübersichtlich. Indem der Beschwerdegegner 1 an der fraglichen Stelle gewendet habe, habe er unabhängig von seiner Aufmerksamkeit Art. 17 Abs. 4 VRV missachtet und damit eine Körperverletzung begangen. Die Vorinstanz verletze ihre Begründungspflicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG, indem sie die Frage nicht beantwortet habe, ob das Wendemanöver überhaupt hätte durchgeführt werden dürfen (Beschwerde S. 7 ff.).
4.2. Der Argumentation des Beschwerdeführers kann, soweit er dem Beschwerdegegner 1 mit dem blossen Hinweis auf die behauptete Missachtung von Art. 17 Abs. 4 VRV ein Fahrlässigkeitsdelikt vorwirft, in dieser absoluten Form nicht gefolgt werden. Nicht jeder Verstoss gegen eine gesetzliche oder für bestimmte Tätigkeiten allgemein anerkannte Verhaltensnorm begründet den Vorwurf der Fahrlässigkeit (BGE 135 IV 56 E. 2.1 S. 64 mit Hinweisen; vgl. 99 IV 63 E. 3 S. 65 f.; 88 IV 100 E. 2b S. 103 f.). Darauf braucht aus nachfolgenden Gründen nicht näher eingegangen zu werden.
4.3. Der Führer, der sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen, wenden oder rückwärts fahren will, darf andere Strassenbenützer nicht behindern (Art. 36 Abs. 4 SVG). Er vermeidet es, das Fahrzeug auf der Fahrbahn zu wenden. An unübersichtlichen Stellen und bei dichtem Verkehr ist das Wenden untersagt (Art. 17 Abs. 4 VRV). Art. 17 Abs. 4 VRV folgt schon aus der allgemeinen Regel von Art. 36 Abs. 4 SVG und dient deren Konkretisierung, als das Wenden in solchen Situationen üblicherweise nicht ohne Behinderung vollzogen werden kann (Urteil 6S.94/1999 vom 22. April 1999 E. 3a; René Schaffhauser, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band I, Grundlagen, Verkehrszulassung und Verkehrsregeln, 2. Aufl. 2002, N. 781; Hans Giger, Kommentar Strassenverkehrsgesetz, 8. Aufl. 2014, N. 34 zu Art. 36 SVG).
4.4. Die Vorinstanz bezeichnet die besagte Stelle bei mittlerem Verkehrsaufkommen als unübersichtlich. Das Strassenstück ist damit nur in bestimmten Verkehrssituationen und nicht generell (etwa aufgrund von Kurven, Kuppen, Bäumen o.ä.) schlecht überblickbar, weshalb es in der Fahrbahnmitte eine Leit- und keine Sicherheitslinie aufweist. Die vorinstanzlichen Erwägungen zur Verkehrssituation respektive zum hohen Verkehrsaufkommen sind im Übrigen theoretischer Natur und fussen nicht auf einer konkreten Beweiswürdigung (Entscheid S. 8). Zum einen verweist die Vorinstanz vollumfänglich auf die erstinstanzlichen Erwägungen, welche keine Feststellungen zum konkreten Verkehrsaufkommen enthalten. Zum anderen zieht die Vorinstanz zusätzlich eine Fotodokumentation der Stadtpolizei herbei, welcher zur Verkehrsdichte im Unfallzeitpunkt ebenfalls keinerlei Hinweise entnommen werden können.
4.5. Selbst wenn der Beschwerdegegner 1 sein Fahrzeug bei dichtem Verkehr gewendet hätte, könnte ein solcher Vorwurf nicht zu einer Verurteilung führen.
4.5.1. Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK). Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip), nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (vgl. Art. 350 StPO). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe im objektiven und subjektiven Bereich genügend konkretisiert sind. Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 140 IV 188 E. 1.3 S. 190; 133 IV 235 E. 6.2 und 6.3 S. 244 ff.; Urteil 6B_130/2012 vom 22. Oktober 2012 E. 6.2, nicht publ. in: BGE 138 IV 209; je mit Hinweisen). Bei Fahrlässigkeitsdelikten sind die tatsächlichen Umstände anzuführen, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des vorgeworfenen Verhaltens sowie die Voraussehbarkeit und die Vermeidbarkeit des eingetretenen Erfolgs ergeben sollen. Es ist insbesondere auch darzulegen, inwiefern die beschuldigte Person die gebotene Vorsicht nicht beachtet hat (BGE 120 IV 348 E. 3c S. 356 mit Hinweisen).
4.5.2. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Zürich - Limmat vom 16. Juni 2014 legt dem Beschwerdegegner 1 zur Last, unvermittelt und nicht genügend vorsichtig auf die stadtauswärts führenden Spuren gefahren zu sein. Der Beschwerdegegner 1 habe sich zu wenig auf die herannahenden, vortrittsberechtigten Verkehrsteilnehmer konzentriert und den Beschwerdeführer "aufgrund krasser Unvorsichtigkeit" übersehen.
4.6. Laut Vorinstanz erforderte das Wendemanöver besondere Aufmerksamkeit. Es durfte im konkreten Fall durchgeführt werden. Die Vorinstanz musste mit Blick auf den Gegenstand des Gerichtsverfahrens nicht näher beleuchten, ob das Wendemanöver von vornherein eine Verkehrsregelverletzung darstellte. Den Vorwurf einer mangelhaften Begründung erhebt der Beschwerdeführer ohne Grund (vgl. zur Begründungspflicht BGE 139 IV 179 E. 2.2 S. 183; 138 I 232 E. 5.1 S. 237; je mit Hinweisen).
 
5.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. 
2. 
3. 
Lausanne, 1. Oktober 2015
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Faga