BGer 5A_579/2014
 
BGer 5A_579/2014 vom 18.08.2014
{T 0/2}
5A_579/2014
 
Urteil vom 18. August 2014
 
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,
Gerichtsschreiber von Roten.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokat Silvan Ulrich,
Beschwerdeführerin,
gegen
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) E.________,
B.________.
Gegenstand
Vorsorglicher Obhutsentzug ohne vorgängige Anhörung,
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Präsidentin, vom 12. Juni 2014.
 
Sachverhalt:
 
A.
A.________ (Beschwerdeführerin), Jahrgang 1973, ist die Mutter des Kindes C.________, geboren 2014. Vor dessen Geburt informierten der mutmassliche Kindsvater B.________ und die Hebamme D.________ die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) E.________ insbesondere über die schwierigen Wohnverhältnisse, in denen die schwangere Beschwerdeführerin lebe und künftig mit dem Neugeborenen zu leben beabsichtige. An einem unangemeldeten Hausbesuch konnte die KESB mit der Beschwerdeführerin ein Gespräch führen, erhielt aber keinen Einblick in die Wohnverhältnisse.
 
B.
Mit Entscheid vom 9. Mai 2014 hob die KESB die Obhut der Beschwerdeführerin über ihr Kind per sofort vorläufig auf (Dispositiv-Ziff. 1). Sie platzierte das Kind per sofort vorläufig in der Wöchnerinnen-Station des Kantonsspitals Liestal (Dispositiv-Ziff. 2), errichtete eine Beistandschaft für das Kind (Dispositiv-Ziff. 3), bezeichnete die Person des Beistands und umschrieb dessen Aufgaben (Dispositiv-Ziff. 4) und entzog einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung (Dispositiv-Ziff. 5). Die KESB hielt fest, dass vorliegend wegen der besonderen Dringlichkeit ein vorsorglicher Entscheid ohne Anhörung der Kindsmutter und des Kindsvaters erfolgt, dass die KESB beiden jedoch die Gelegenheit zur Stellungnahme gibt und dass danach, falls notwendig, neu entschieden wird (E. 10 S. 3 des Entscheids vom 9. Mai 2014). Die Anhörung der Beschwerdeführerin ist am 12. Mai 2014 mündlich erfolgt. Einen Tag zuvor hatte die Beschwerdeführerin auf Einladung der KESB auch schriftlich Stellung genommen. Die Besichtigung der Wohnverhältnisse durch die KESB fand am 14. Mai 2014 im Beisein der Beschwerdeführerin statt.
 
C.
Die Beschwerdeführerin erhob gegen den Entscheid der KESB vom 9. Mai 2014 eine Beschwerde und beantragte zur Hauptsache, den angefochtenen Entscheid aufzuheben. Die KESB und B.________ schlossen auf Abweisung der Beschwerde. Alle Verfahrensbeteiligten hielten an der Parteiverhandlung an ihren Standpunkten fest. Das Kantonsgericht Basel-Landschaft wies die Beschwerde ab. Die Rechtsmittelbelehrung verweist auf die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht (Urteil vom 12. Juni 2014).
 
D.
Mit Eingabe vom 15. Juli 2014 beantragt die Beschwerdeführerin dem Bundesgericht, das Urteil des Kantonsgerichts vom 12. Juni 2014 und den Entscheid der KESB vom 9. Mai 2014 aufzuheben. Sie ersucht um aufschiebende Wirkung in Bezug auf den Entscheid der KESB und um unentgeltliche Rechtspflege. Der Präsident der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hat das Gesuch um aufschiebende Wirkung abgewiesen (Verfügung vom 16. Juli 2014). Es sind die kantonalen Akten, hingegen keine Vernehmlassungen eingeholt worden.
 
Erwägungen:
 
1.
Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der ihm unterbreiteten Rechtsmittel frei und von Amtes wegen (BGE 139 III 252 E. 1.1 S. 253). Nicht die formelle Bezeichnung des angefochtenen Urteils, sondern dessen materieller Inhalt ist entscheidend (BGE 136 III 200 E. 2.3.3 S. 205). Für die Beurteilung der Frage nach der Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs (Art. 75 Abs. 1 BGG) im Besonderen kommt es nicht darauf an, ob eine kantonale Instanz auf ein Rechtsmittel eingetreten ist oder nicht. Vielmehr muss aufgrund der massgebenden Bestimmungen geprüft werden, ob ein Entscheid einem kantonalen Rechtsmittel unterliegt oder kantonal letztinstanzlich ist (vgl. BGE 116 Ia 394 E. 1a S. 396).
 
2.
Die Zulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht hängt davon ab, ob eine superprovisorisch angeordnete vorsorgliche Massnahme oder eine vorsorgliche Massnahme angefochten ist.
2.1. Das Kantonsgericht hat dazu festgehalten, der Entscheid der KESB sei superprovisorisch ergangen, d.h. ohne vorgängige Anhörung der am Verfahren beteiligten Personen. Diesen sei indes nachträglich gestützt auf Art. 445 Abs. 2 ZGB Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt worden, wovon die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 11. Mai 2014 Gebrauch gemacht habe. Die Beschwerdeführerin sei zudem am 12. Mai 2014 mündlich durch die KESB angehört worden. Die KESB habe in ihrer Vernehmlassung vom 3. Juni 2014 (im Beschwerdeverfahren) einlässlich dargelegt, dass und aus welchen Gründen an den angeordneten Massnahmen festgehalten werde. Die Beschwerdeführerin habe sich dazu anlässlich der Parteiverhandlung äussern können. Den Anforderungen an die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs sei damit vollumfänglich entsprochen worden und die strittigen Anordnungen hätten unter den gegebenen Umständen als (ordentliche) vorsorgliche Massnahmen zu gelten (E. 4.1.2 S. 5 des angefochtenen Urteils).
2.2. So geht es aus folgenden Gründen nicht:
2.2.1. Mit der Marginalie "Vorsorgliche Massnahmen" bestimmt Art. 445 ZGB, dass die Erwachsenenschutzbehörde auf Antrag einer am Verfahren beteiligten Person oder von Amtes wegen alle für die Dauer des Verfahrens notwendigen vorsorglichen Massnahmen trifft (Abs. 1) und dass sie bei besonderer Dringlichkeit vorsorgliche Massnahmen sofort ohne Anhörung der am Verfahren beteiligten Personen treffen kann, diesen gleichzeitig Gelegenheit zur Stellungnahme gibt und anschliessend neu entscheidet (Abs. 2). Die Bestimmung ist im Kindesschutzverfahren sinngemäss anwendbar (Art. 314 Abs. 1 ZGB). Die Regelung des Verfahrens für den Erlass sog. superprovisorischer Massnahmen gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB entspricht Art. 265 ZPO (vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht] vom 28. Juni 2006, BBl 2006 7001 S. 7077 und S. 7101). Allgemeine Prozessrechtsgrundsätze sind zu beachten.
2.2.2. Das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht kennt kein auf superprovisorische Massnahmen beschränktes Verfahren. Die KESB eröffnet auf Antrag einer am Verfahren beteiligten Person oder von Amtes wegen ein Verfahren, in dem sie die notwendigen vorsorglichen Massnahmen trifft (Art. 445 Abs. 1 ZGB). Im Rahmen dieses Verfahrens betreffend vorsorgliche Massnahmen sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, dass die KESB bei besonderer Dringlichkeit sofort und ohne Anhörung der am Verfahren beteiligten Personen vorsorgliche Massnahmen trifft und anschliessend die Verfahrensbeteiligten anhört und entscheidet (Art. 445 Abs. 2 ZGB). Das Verfahren ist zwar zweistufig, aber eine Einheit. Der superprovisorischen Anordnung der vorsorglichen Massnahme wegen besonderer Dringlichkeit (Dringlichkeitsentscheid) folgt zwingend - nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten - der Entscheid über die vorsorgliche Massnahme (ordentlicher Massnahmenentscheid), der die zuvor angeordnete superprovisorische Massnahme bestätigt, ändert oder aufhebt und damit ersetzt. Nicht schon mit der nachträglichen Anhörung der Verfahrensbeteiligten ist das Verfahren auf Erlass vorsorglicher Massnahmen abgeschlossen. Nach der mündlichen Anhörung oder nach Eingang der schriftlichen Stellungnahme und nach allfälligen Beweisabnahmen (hier nach Durchführung eines Augenscheins betreffend Wohnverhältnisse der Beschwerdeführerin) trifft die nach Art. 445 Abs. 1 ZGB sachlich zuständige Behörde vielmehr den neuen Entscheid gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB über den Erlass einer ordentlichen vorsorglichen Massnahme, die an die Stelle der superprovisorisch angeordneten vorsorglichen Massnahme tritt (vgl. STECK, in: FamKomm Erwachsenenschutz, 2013, N. 16, und AUER/MARTI, Basler Kommentar, 2012, N. 19 a.E., je zu Art. 445 ZGB; vgl. zu den Etappen im Verfahrensablauf gemäss Art. 265 ZPO: HOHL, Procédure civile, t. II, 2. Aufl. 2010, N. 1872 S. 342).
2.2.3. Entgegen der Auffassung des Kantonsgerichts wird die superprovisorisch angeordnete vorsorgliche Massnahme nicht dadurch zur vorsorglichen Massnahme, dass die Verfahrensbeteiligten die superprovisorische Massnahme bei der gerichtlichen Beschwerdeinstanz anfechten und sich damit Gehör verschaffen, dass die KESB in ihrer Beschwerdeantwort erklärt, aus welchen Gründen sie an den superprovisorisch angeordneten vorsorglichen Massnahmen festhalten werde, und dass die Verfahrensbeteiligten zu diesen Gründen nochmals - hier mündlich - Stellung nehmen können. Die Anhörung muss gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB vielmehr durch die KESB erfolgen und findet nicht in einem Beschwerdeverfahren statt, und das Verfahren auf Erlass vorsorglicher Massnahmen ist gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB durch einen förmlichen Entscheid der KESB abzuschliessen und nicht im Beschwerdeverfahren informell beizulegen. Davon abgesehen, verletzt die kantonsgerichtliche Vorgehensweise die Verfahrensrechte der Beteiligten, wie sie durch die Bundesverfassung und die gesetzlichen Vorschriften über den Inhalt, die Eröffnung und die Begründung von Entscheiden geschützt werden (Art. 238 f. ZPO i.V.m. Art. 450f ZGB; Botschaft, a.a.O., S. 7088). Namentlich ist eine mündliche Replik kein gleichwertiger Ersatz für das Recht, gegen den Entscheid über die vorsorgliche Massnahme innert zehn Tagen nach dessen Mitteilung eine Beschwerde zu erheben (Art. 445 Abs. 3 ZGB).
2.3. Die KESB hat die Beschwerdeführerin zwar nach der superprovisorischen Anordnung vorsorglicher Massnahmen angehört, aber noch keinen neuen Entscheid über vorsorgliche Massnahmen getroffen, wie ihn Art. 445 Abs. 2 ZGB "anschliessend" vorschreibt. Beschwerdegegenstand war damit vor Kantonsgericht und ist folglich auch vor Bundesgericht einzig die superprovisorische Massnahme der KESB betreffend Obhutsentzug gegenüber der Beschwerdeführerin verbunden mit der Fremdplatzierung und Verbeiständung ihres wenige Monate alten Sohnes.
 
3.
Auf Beschwerden gegen Entscheide betreffend superprovisorische Massnahmen tritt das Bundesgericht grundsätzlich nicht ein, weil es an der Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs fehlt. Kantonal letztinstanzlich ist ein Entscheid nur, wenn für die gegen ihn erhobenen Rügen kein kantonales Rechtsmittel mehr offen steht (Art. 75 Abs. 1 BGG). Der Begriff des Rechtsmittels umfasst jeden Rechtsbehelf, der der Beschwerdeführerin einen Anspruch auf einen Entscheid der angerufenen Behörde gibt und geeignet ist, den behaupteten rechtlichen Nachteil zu beseitigen. Deshalb wird von der Beschwerdeführerin vor der Ergreifung der Beschwerde an das Bundesgericht verlangt, dass sie das kontradiktorische Verfahren vor dem Massnahmengericht durchläuft, dessen Entscheid über die vorsorgliche Massnahme die zuvor angeordnete superprovisorische Massnahme bestätigt, ändert oder aufhebt und damit ersetzt (vgl. BGE 137 III 417 E. 1.2 S. 418 f.; 139 III 86 E. 1.1.1 S. 87 f. und 516 E. 1.1 S. 518 f.). Diese Rechtsprechung gilt auch für superprovisorische Massnahmen gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB, die deshalb mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs der Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich nicht unterliegen (zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil 5A_268/2014 vom 19. Juni 2014 E. 1.1).
 
4.
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um eine superprovisorische Massnahme im Sinne von Art. 445 Abs. 2 ZGB (i.V.m. Art. 314 Abs. 1 ZGB). Die Beschwerdeführerin hatte gemäss den kantonsgerichtlichen Feststellungen in der gesetzlich vorgesehenen Anhörung durch die KESB bereits die Gelegenheit wahrgenommen, zum Obhutsentzug sowie zur Fremdplatzierung und Verbeiständung ihres Kindes Stellung zu nehmen. Der anschliessende - allenfalls inzwischen ergangene - Entscheid der KESB über vorsorgliche Massnahmen unterliegt der Beschwerde gemäss Art. 445 Abs. 3 ZGB. Aus den dargelegten Gründen kann auf die Beschwerde gegen die superprovisorische Massnahme und sämtliche damit in Zusammenhang stehenden Rügen und Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht eingetreten werden.
 
5.
Mit Bezug auf die Kosten- und Entschädigungspflicht ist zu berücksichtigen, dass das Kantonsgericht die Beschwerdeführerin durch eine unrichtige Feststellung des Beschwerdegegenstands und durch eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung zur Erhebung ihrer Beschwerde bewogen hat. Es rechtfertigt sich deshalb, den Kanton zu einer Parteientschädigung an die Beschwerdeführerin zu verpflichten (Art. 68 Abs. 4 i.V.m. Art. 66 Abs. 3 BGG; GEISER, Basler Kommentar, 2011, N. 25 zu Art. 66 BGG, mit Hinweisen in Fn. 53), hingegen nicht Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos (Art. 64 BGG; vgl. BGE 133 I 234 E. 3 S. 248).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3. Der Kanton Basel-Landschaft hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
4. Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) E.________, B.________ und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Präsidentin, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 18. August 2014
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: von Werdt
Der Gerichtsschreiber: von Roten