BGer 9C_157/2014
 
BGer 9C_157/2014 vom 24.06.2014
{T 0/2}
9C_157/2014
 
Urteil vom 24. Juni 2014
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiber Schmutz.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Hess,
Beschwerdeführerin,
gegen
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse, Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV (Berechnung des Leistungsanspruchs),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 28. Januar 2014.
 
Sachverhalt:
A. A.________, geboren 1928, zeitweilig in Genf wohnhaft, meldete sich am 6. Juni 2012 bei der AHV-Ausgleichskasse der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden (nachfolgend: Ausgleichskasse) zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Sie erklärte, mit ihrer AHV-Rente von monatlich Fr. 1'054.- kein Auskommen zu haben. Bei der Anmeldung kreuzte sie die Frage, ob sie in früheren Jahren Vermögen, Vermögenswerte oder Grundeigentum an Dritte übertragen, verkauft, als Erbvorempfang abgetreten oder auf Einkünfte verzichtet habe, mit "Ja" an. Die Ausgleichskasse rechnete A.________ wegen des Verzichts auf Nutzniessungserträge aus zwei Wohnungen einen Betrag von insgesamt Fr. 15'076.- an zusätzlichem Einkommen an. Damit beliefen sich die anrechenbaren Einnahmen auf Fr. 27'724.- und resultierte eine Differenz von Fr. 8'306.- zu den anrechenbaren Ausgaben von Fr. 36'030.-. Mit Verfügung vom 26. November 2012 bejahte die Ausgleichskasse den Anspruch auf Ergänzungsleistungen und bezifferte diesen auf Fr. 693.- pro Monat. In der dagegen erhobenen Einsprache machte A.________ geltend, der ihr angelastete Verzicht auf die Nutzniessungsrechte sei nicht unentgeltlich erfolgt, habe ihr doch der Sohn dafür im Jahr 2008 einen Betrag von Fr. 155'640.- bezahlt. Diesen habe sie angesichts der geringen Jahresrente von Fr. 12'648.- und wegen der hohen Kosten der Miete in Genf verbraucht. Mit Einspracheentscheid vom 18. Januar 2013 wies die Ausgleichskasse die Einsprache ab. Sie begründete es damit, A.________ sei rechtlich nicht verpflichtet gewesen, auf den ihr zustehenden Nutzniessungsertrag zu verzichten.
B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 28. Januar 2014 teilweise gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 18. Januar 2013 auf und stellte fest, dass A.________ für die Zeit ab dem 1. Juni 2012 Anspruch auf eine Ergänzungsleistung für das Jahr 2012 von Fr. 932.- pro Monat hat.
C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten einreichen. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Die Ausgleichskasse sei zu verpflichten, die Ergänzungsleistung unter Verzicht auf die Aufrechnung "Einnahmen diverse" im Betrag von Fr. 15'076.- neu zu berechnen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie einzutreten sei. Die Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der Beschwerde. Der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid und die Verfügung zu bestätigen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (nachfolgend: Bundesamt) äussert sich einlässlich in der Sache, verzichtet aber auf einen Antrag.
 
Erwägungen:
1. Auf den in der Beschwerdeantwort gestellten Antrag der Beschwerdegegnerin, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid und die Verfügung zu bestätigen, ist nicht einzutreten, weil das Bundesgerichtsgesetz die Anschlussbeschwerde nicht vorsieht (Art. 90 ff. BGG; BGE 134 III 332 E. 2.5 S. 335; MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar zum BGG, Basel 2011, N. 4 zu Art. 102 BGG). Das Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG), wobei Ausgangspunkt der Bindungswirkung das Rechtsbegehren der beschwerdeführenden Partei, nicht jenes der Beschwerdegegnerin ist ( MEYER/DORMANN, a.a.O., N. 2 zu Art. 107 BGG). Deren Vorbringen sind im Rahmen der Prüfung der Anträge der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen.
2. Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 ELG). Was zu den anerkannten Ausgaben gezählt wird, ist in Art. 10 ELG geregelt, was zu den anrechenbaren Einnahmen in Art. 11 ELG. Da Ergänzungsleistungen die Deckung der laufenden Lebensbedürfnisse bezwecken, dürfen nur tatsächlich vereinnahmte Einkünfte und vorhandene Vermögenswerte berücksichtigt werden, über die der Leistungsansprechende ungeschmälert verfügen kann. Vorbehalten bleibt der Tatbestand des Vermögensverzichts: Als Einnahmen werden angerechnet Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG; BGE 127 V 248 E. 4a S. 249).
3. Die Beschwerdeführerin verkaufte ihrem Sohn am 19. Dezember 1994 die Stockwerkeigentumswohnung Nr. 14 (3 1/2-Zimmer-Wohnung) und Miteigentumsanteile mit Sonderrecht an zwei Autoabstellplätzen in B.________. Am 11. August 2004 verkaufte sie ihm zudem die Stockwerkeigentumswohnung Nr. 10 (1-Zimmer-Wohnung) mit Benützungsrecht an einem Autoabstellplatz und einen Miteigentumsanteil mit Sonderrecht an einer Doppelgarage. Im Gegenzug räumte der Sohn seiner Mutter ein lebenslängliches Nutzungsrecht/Nutzniessungsrecht an diesen Grundstücken ein. Die Nutzniessungsrechte hatten einen Jahreswert von Fr. 15'076.-. Am 22. August 2008 wurden sie im Grundbuch gelöscht. Der Sohn richtete der Beschwerdeführerin dafür eine Entschädigung von insgesamt Fr. 155'640.- aus.
 
4.
4.1. Die Beschwerdegegnerin rechnete der Beschwerdeführerin wegen des Verzichts auf Nutzniessungserträge aus zwei Wohnungen einen Betrag von jährlich insgesamt Fr. 15'076.- an zusätzlichem Einkommen an.
4.2. Die Vorinstanz erwog, in der vorliegenden Konstellation sei der Ertrag aus der konkret erhaltenen Summe von Fr. 155'640.- zu berücksichtigen, welcher der Beschwerdeführerin hypothetisch anzurechnen sei. Bei der Bestimmung dieses Ertrags als anrechenbares Einkommen sei von einem mittleren Zinsfuss auf Eidgenössischen Obligationen und Termingelder ("bon de caisse") für das Jahr, das der Gewährung der Ergänzungsleistung voranging, auszugehen. Abzustellen sei vorliegend auf das Jahr 2011, in dem der entsprechende durchschnittliche Zinssatz für Kassenobligationen bei 1.85 % gelegen sei. Dies ergebe einen für das Jahr 2012 massgeblichen Ertrag von Fr. 2'879.35. Dieser sei vom Mietwert von Fr. 15'076.- abzuziehen. Damit resultiere ein Betrag von Fr. 12'197.-. Nur dieser sei bei der Berechnung der Ergänzungsleistung für das Jahr 2012 als anrechenbare Einnahme zu berücksichtigen. Dies ergebe eine der Beschwerdeführerin zustehende monatliche Ergänzungsleistung für das Jahr 2012 von Fr. 932.-. In diesem Sinne sei die Beschwerde teilweise gutzuheissen.
 
5.
5.1. Wie das Bundesamt in der Vernehmlassung festhält, ist die Frage eines Vermögensverzichtes zu prüfen, wenn die Leistung der versicherten Person in einem Vermögenswert besteht. Besteht die Leistung in der Löschung oder in der Nichtinanspruchnahme eines geldwerten Rechts, ist die Frage eines Einkünfteverzichtes zu prüfen. Wird wie hier ein solches Aktivum gegen Erhalt eines Vermögenswertes gelöscht, dann ist der Vermögenswert in eine wiederkehrende Leistung umzuwandeln, damit er mit der preisgegebenen Position verglichen werden kann. Für die Umrechnung ist die Kapitalisierungstabelle der Eidgenössischen Steuerverwaltung ("Tabelle zur Umrechnung von Kapitalleistungen in lebenslängliche Renten"; vgl. BGE 122 V 394 E. 4b S. 399 f.) anzuwenden. Nach Rz 3481.03 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (WEL) liegt kein Verzicht auf Einkünfte vor, wenn die Gegenleistung mindestens 90 % der Leistung beträgt, weil diesfalls die Gegenleistung als gleichwertig angesehen werden kann. Ist die nach der Tabelle ermittelte Gegenleistung dagegen kleiner als 90 % der Leistung, dann liegt ein Einkünfteverzicht im Umfang der Differenz zwischen Leistung und Gegenleistung vor.
5.2. Im Jahr 2008 hat die Beschwerdeführerin die zwei Nutzniessungen löschen lassen, die einen Jahreswert von Fr. 15'076.- hatten. Als Gegenleistung hat sie Fr. 155'640.- ausbezahlt erhalten. Damit geprüft werden kann, ob die Beschwerdeführerin 2008 als damals 80-Jährige mit der Löschung der Nutzniessung auf Einkünfte verzichtet hat, ist diese Gegenleistung in eine lebenslängliche Rente umzuwandeln. Nach der Kapitalisierungstabelle entsprechen Fr. 1'000.- bei einer Frau mit Alter 80 einer Jahresrente von Fr. 89.58. Die Fr. 155'640.- entsprechen damit einem Entgelt von jährlich Fr. 13'942.-. Fr. 13'942.- entsprechen 92,48 % des Jahreswertes von Fr. 15'076.-. Da der Wert über 90 % liegt, ist nach Rz 3481.03 WEL die Gegenleistung gleichwertig. Demnach liegt kein aufzurechnender Verzicht auf Einkünfte vor.
5.3. Zudem verkennt das kantonale Gericht den Sinn der von ihm angerufenen Rechtsprechung (Urteil 8C_68/2008 vom 27. Januar 2009 E. 4). Dort verzichtete die Anspruchsberechtigte durch den Verkauf der Liegenschaft auf ein mittleres Jahresmieteinkommen von Fr. 39'922.-. Sie legte den Verkaufserlös auf ein Bankkonto, das lediglich zu Fr. 2'160.- pro Jahr verzinst wurde. Dies gab dazu Anlass, der Anspruchsberechtigten ein fiktives Einkommen in Abzug zu bringen, welches dem Zins auf dem Verkehrtwert der Liegenschaft entsprach. Dies betraf somit einen anderen Sachverhalt als hier.
6. Die Beschwerdegegnerin konnte das ihr als Gegenleistung für die Löschung der Nutzniessungen ausbezahlte Kapital von Fr. 155'640.- verbrauchen, ohne dass ihr nun bei der Berechnung der Ergänzungsleistung Einkünfte als Einnahmen anzurechnen sind.
7. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Deren Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor dem Bundesgericht ist demzufolge gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Auf die Anschlussbeschwerde der Beschwerdegegnerin wird nicht eingetreten.
2. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 28. Januar 2014 und der Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse, vom 18. Januar 2013 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse, zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistungen im Sinne der Erwägungen neu verfüge.
3. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
4. Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
5. Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden zurückgewiesen.
6. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 24. Juni 2014
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kernen
Der Gerichtsschreiber: Schmutz