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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_184/2010
Urteil vom 9. September 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiber Christen.
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,
gegen
Staatsanwaltschaft See/Oberland, Weiherallee 15, Postfach, 8610 Uster.
Gegenstand
Amtliche Verteidigung,
Beschwerde gegen die Verfügung vom 6. Mai 2010 des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer.
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft See/Oberland führte eine Strafuntersuchung gegen die brasilianische Staatsangehörige X.________ wegen Widerhandlungen gegen ausländerrechtliche Bestimmungen. Im Juni 2009 erhob sie Anklage beim Bezirksgericht Meilen und beantragte eine bedingte Freiheitsstrafe von acht Monaten.
Mit Präsidialverfügung vom 26. Oktober 2009 lehnte das Bezirksgericht den Antrag von X.________ auf amtliche Verteidigung ab.
Den von X.________ dagegen erhobenen Rekurs wies das Obergericht des Kantons Zürich am 12. November 2009 ab, soweit es darauf eintrat.
B.
Am 18. November 2009 verurteilte das Bezirksgericht X.________ in Abwesenheit wegen verschiedener Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu Fr. 10.--, bedingt bei einer Probezeit von vier Jahren, und zu Fr. 200.-- Busse.
Die Staatsanwaltschaft erhob Berufung beim Obergericht mit dem Antrag, die Strafe auf sechs Monate Freiheitsstrafe zu erhöhen.
X.________ erhob ebenfalls Berufung und ersuchte um amtliche Verteidigung. Mit Präsidialverfügung vom 6. Mai 2010 wies das Obergericht das Gesuch ab.
C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt die Aufhebung der Präsidialverfügung. Ihr sei in der Person von Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth ein amtlicher Verteidiger zu bestellen. Im Verfahren vor Bundesgericht sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu bewilligen.
Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft hat keine Stellungnahme eingereicht.
Erwägungen:
1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG ist im voliegenden Fall die Beschwerde in Strafsachen gegeben.
1.2 Die Vorinstanz hat als oberes kantonal letztinstanzliches Gericht entschieden. Gegen ihren Entscheid ist die Beschwerde zulässig (Art. 80 Abs. 1 BGG).
1.3 Die Beschwerdeführerin wurde im Verfahren vor der ersten Instanz in Abwesenheit verurteilt. Gegen das erstinstanzliche Urteil hat sie Berufung erhoben und um Bewilligung der amtlichen Verteidigung ersucht. Sie hat insofern am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und ist als Beschuldigte zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 1 BGG).
1.4 Der angefochtene Entscheid schliesst das Verfahren gegen die Beschwerdeführerin nicht ab. Er stellt einen Zwischenentscheid dar. Dabei geht es weder um die Zuständigkeit noch den Ausstand. Es handelt sich um einen "anderen" Zwischenentscheid nach Art. 93 BGG.
Gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG ist gegen einen solchen Zwischenentscheid die Beschwerde zulässig, a) wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann; oder b) wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde.
Nach der Rechtsprechung kann die Verweigerung der amtlichen Verteidigung für die Beschwerdeführerin einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zur Folge haben (BGE 133 IV 335 E. 4 S. 338; 129 I 281 E. 1.1 S. 283; 126 I 207 E. 2a S. 210).
1.5 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
2.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, ihr drohe zwar keine schwere freiheitsentziehende Sanktion. Aufgrund der von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafe gehe es aber auch nicht um eine Bagatelle. Sie sei den besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten des Falls nicht gewachsen, da sie aus einfachen Verhältnissen stamme und ihre schulische Bildung bescheiden sei. In juristischen Angelegenheiten sei sie überfordert. Es gehe um die Verjährung, die Tatbestandsmässigkeit ihres Verhaltens, die notwendige Verteidigung und die Verwertbarkeit von Beweismitteln. Die Behauptung der Vorinstanzen, der Fall biete keine grossen Schwierigkeiten, sei widersprüchlich, da die Begründung des erstinstanzlichen Entscheids 56 Seiten umfasse.
2.2 Der Anspruch auf amtliche Verteidigung ergibt sich in erster Linie aus den Vorschriften des kantonalen Rechts (BGE 135 I 91 E. 2.4.2 S. 95). Die Beschwerdeführerin rügt keine willkürliche Anwendung kantonalen Rechts (Art. 106 BGG).
2.3 Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK gewährleistet dem Angeschuldigten im Strafprozess die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.
Nach der Rechtsprechung ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes grundsätzlich geboten, wenn das Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen der Betroffenen eingreift (BGE 129 I 281 E. 3.1 S. 285 mit Hinweisen). Falls kein besonders schwerer Eingriff in die Rechte der Gesuchstellerin droht, müssen besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die Gesuchstellerin - auf sich alleine gestellt - nicht gewachsen wäre. Notwendig zur Rechtswahrung ist die Verbeiständung namentlich dann, wenn sich die aufgeworfenen Rechtsfragen nicht leicht beantworten lassen und die betreffende Person nicht rechtskundig ist (BGE 119 Ia 264 E. 3b S. 266). Dabei sind die konkreten Umstände des Einzelfalls und die Eigenheiten der anwendbaren kantonalen Verfahrensvorschriften zu berücksichtigen. Als besondere Schwierigkeiten fallen nicht nur Umstände wie Kompliziertheit der Rechtsfragen, Unübersichtlichkeit des Sachverhalts und dergleichen in Betracht, sondern insbesondere auch die Fähigkeiten der betroffenen Person, sich im Verfahren zurecht zu finden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 f.; 122 I 49 E. 2c/bb S. 51 f. mit Hinweisen). Bei offensichtlichen Bagatellfällen, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint die Rechtsprechung jeglichen verfassungsmässigen Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 233).
2.4 Der Beschwerdeführerin droht kein besonders starker Eingriff in ihre Rechtsposition. Es handelt sich aber auch nicht um einen Bagatellfall. Es ist deshalb zu prüfen, ob besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten vorliegen, denen die Beschwerdeführerin nicht gewachsen ist.
Die heute 48-jährige Beschwerdeführerin stammt aus Brasilien. Ihr Vater arbeitete als Bauarbeiter und ihre Mutter als Reinigungsangestellte. Die Beschwerdeführerin besuchte die Schule bis zur fünften Klasse, später einen Kurs für Krankenschwestern und lernte Schneiderin. Sie arbeitete indessen nicht auf diesen Berufen, sondern in Restaurants und als Hausmädchen. In der Schweiz arbeitete sie als Putzfrau und Babysitterin. Aufgrund ihrer bescheidenen schulischen Bildung und sozialen Herkunft muss davon ausgegangen werden, dass sie mit Fragen des schweizerischen Rechts grundsätzlich überfordert ist. Zwar ist der ihr vorgeworfene Sachverhalt überschaubar, doch ist dessen rechtliche Würdigung - wie die einlässlichen Erwägungen des Bezirksgerichts (S. 19-38) dazu zeigen - geradezu komplex. Es geht namentlich um Fragen des intertemporalen Rechts (S. 18). Mit ihrer Berufung beantragt die Beschwerdeführerin die Aufhebung des bezirksgerichtlichen Entscheids. Sie rügt die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte und macht die Unverwertbarkeit von Beweismitteln sowie Verjährung geltend. Ohne anwaltlichen Beistand ist die Beschwerdeführerin nicht in der Lage, derartige prozessrechtliche Rügen sachgerecht zu erheben und sie zu begründen. Soll sie nicht lediglich als Objekt, sondern als Subjekt am Rechtsmittelverfahren teilnehmen, ist sie auf anwaltliche Verbeiständung angewiesen. Im Lichte der dargelegten Rechtsprechung, die wesentlich auf die Fähigkeiten der betroffenen Person abstellt, sich im Verfahren zurecht zu finden, ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf amtliche Verteidigung zu bejahen (vgl. BGE 120 Ia 43, wo das Bundesgericht [E. 3c S. 47] die amtliche Verteidigung bei einer ähnlich hilflosen Person als notwendig erachtete).
2.5 Die von der Beschwerdeführerin erhobene Berufung erscheint im Übrigen nicht zum Vornherein aussichtslos (vgl. BGE 128 I 225 E. 2.5.3 S. 235 f.). Mit Blick auf die bescheidene schulische Bildung und soziale Herkunft der Beschwerdeführerin ist es namentlich vertretbar, wenn sie die Frage der genügenden Verteidigung im Untersuchungs- und erstinstanzlichen Verfahren aufwirft und damit die Verwertbarkeit der Beweismittel in Frage stellt.
Nach den Feststellungen des Bezirksgerichts erzielte die Beschwerdeführerin ein Einkommen von maximal Fr. 800.-- pro Monat, weshalb ihre Bedürftigkeit zu bejahen ist.
3.
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Gerichtskosten sind bei diesem Ausgang des Verfahrens nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Vertreter der Beschwerdeführerin eine angemessene Entschädigung für das Verfahren vor Bundesgericht zu entrichten (Art. 68 BGG). Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist deshalb gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich vom 6. Mai 2010 aufgehoben.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Zürich hat dem Vertreter der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth, eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu entrichten.
4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft See/Oberland und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 9. September 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Christen