BGer 9C_89/2010
 
BGer 9C_89/2010 vom 30.03.2010
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
9C_89/2010
Urteil vom 30. März 2010
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
Verfahrensbeteiligte
B.________,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 9. Dezember 2009.
Sachverhalt:
A.
A.a B.________, geboren 1964, meldete sich am 7. November 1994 unter Hinweis auf chronische, sehr starke Rückenschmerzen und sehr starke Schmerzen infolge eines blockierten Gelenks zwischen Becken und Steissbein bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Luzern führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch; insbesondere liess sie einen Abklärungsbericht Haushalt vom 12. April 1995 erstellen und veranlasste eine Begutachtung in der Medizinischen Abklärungsstelle MEDAS, vom 18. Oktober 1996. Mit Verfügung vom 20. Mai 1997 sprach sie B.________ eine halbe Rente zu vom 1. November bis 31. Dezember 1993 bei einem Invaliditätsgrad von 60 %, eine ganze Rente (bei einem Invaliditätsgrad von 68 %) vom 1. Januar bis 31. August 1994, eine halbe Rente (Invaliditätsgrad: 50 %) vom 1. September 1994 bis 31. Januar 1997 und ab 1. Februar 1997 eine Viertelsrente (Invaliditätsgrad: 40 %), jeweils zuzüglich einer Kinderrente für den 1993 geborenen Sohn. Eine hiegegen von B.________ erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 20. August 1998 gut, hob die Verfügung vom 20. Mai 1997 insoweit auf, als sie den Zeitraum ab 1. Februar 1997 betraf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit sie nach zusätzlichen Abklärungen zu den Auswirkungen der chronischen Schmerzkrankheit auf die Arbeitsfähigkeit neu verfüge.
In der Folge gab die IV-Stelle eine psychiatrische Begutachtung der B.________ bei Frau Dr. med. I.________, Fachärztin FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 18. Mai 1999, in Auftrag. Diese kam zum Schluss, die psychischen Auffälligkeiten seien "nicht derart, dass ihnen per se Krankheitswert zugesprochen werden könnte". Unter Berücksichtigung physischer und psychischer Faktoren bestehe sowohl als Hausfrau wie auch in einer Bürotätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 50 %. Mit Verfügung vom 12. Juli 1999 sprach die IV-Stelle B.________ eine halbe Rente ab 1. Februar 1997 zu bei einem Invaliditätsgrad von 50 % (bestätigt mit Verfügung vom 5. Juni 2002).
A.b Mit Revisionsgesuch vom 14. Februar 2005 machte B.________, welche im Jahre 2002 Mutter einer Tochter geworden war, geltend, ihr Gesundheitszustand habe sich seit zwei Jahren weiter erheblich verschlechtert. Dadurch sei sie in ihrer täglichen Arbeit als Hausfrau und Mutter zusätzlich eingeschränkt. Aus finanziellen Gründen hätte sie im Gesundheitsfall dringend eine Erwerbstätigkeit von mindestens 70 % annehmen müssen. Die IV-Stelle führte eine weitere Abklärung im Haushalt vom 21. September 2005 durch (Bericht vom 5. Oktober 2005) und veranlasste eine erneute Begutachtung in der MEDAS vom 4. Juni 2007. Mit Verfügung vom 19. Mai 2008 stellte sie die Invalidenrente mangels rentenbegründendem Invaliditätsgrad (von 35 %) ein.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der B.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 9. Dezember 2009 ab.
C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides weiterhin die Zusprechung einer Invalidenrente beantragen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.
Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes oder der erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitszustandes revidierbar (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 mit Hinweisen). Dagegen stellt die unterschiedliche Beurteilung der Auswirkungen eines im Wesentlichen unverändert gebliebenen Gesundheitszustandes auf die Arbeitsfähigkeit keinen Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG dar (Urteil 9C_552/2007 vom 17. Januar 2008 E. 3.1.2 mit Hinweisen). Liegt eine erhebliche Änderung des Sachverhalts vor, ist der Rentenanspruch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht allseitig, d.h. unter Berücksichtigung des gesamten für die Leistungsberechtigung ausschlaggebenden Tatsachenspektrums, zu prüfen (BGE 117 V 198 E. 4b S. 200; SVR 2004 IV Nr. 17 S. 53, I 526/02 E. 2.3; Urteil 9C_744/2008 vom 19. November 2008 E. 3.1.1; vgl. auch BGE 125 V 413 E. 2d S. 417 f.; AHI 2002 S. 164, I 652/00 E. 2a).
3.
3.1 Die Vorinstanz erwog, die IV-Stelle habe in Würdigung der Gesamtsituation bei Verfügungserlass zu Recht eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit auf 70 % als überwiegend wahrscheinlich erachtet und demzufolge die Tätigkeit im Haushalt auf 30 % festgesetzt. Gestützt auf die medizinischen Unterlagen betrage die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Erwerbstätigkeit 50 %. Im Haushaltbereich sei ausgehend vom Abklärungsbericht Haushalt vom 21. September 2005, welcher die in der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen erfülle, eine Einschränkung von 51,5 % ausgewiesen. Insgesamt resultiere in Anwendung der gemischten Bemessungsmethode ein Gesamtinvaliditätsgrad von unter 40 %, weshalb die Einstellung der Invalidenrente zu Recht erfolgt sei.
3.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet weder die vorinstanzlich bestätigte Annahme der Beschwerdegegnerin, wonach sie im Gesundheitsfall nunmehr zu 70 % einer Erwerbstätigkeit nachginge und zu 30 % als Hausfrau und Mutter tätig wäre, noch die gestützt auf das MEDAS-Gutachten vom 4. Juni 2007 festgesetzte Arbeitsunfähigkeit von 50 % im Erwerbsbereich und die Einschränkung im Haushalt von 51,5 % gemäss Abklärungsbericht vom 21. September 2005. Sie rügt aber, die IV-Stelle habe nicht abgeklärt, ob sich die im MEDAS-Gutachten festgehaltene Arbeitsfähigkeit von 50 % auf ein ganzes Pensum oder auf ein 70 %iges Teilzeitpensum beziehe. Zwar lege das Wort "total" nahe, die Gutachter seien davon ausgegangen, das für beide Tätigkeiten zumutbare Pensum könne maximal 50 % betragen. Unter Berücksichtigung des von Vorinstanz und Beschwerdegegnerin im Haushalt auf 15,45 % festgesetzten Invaliditätsgrades (bei einer Einschränkung von 51,5 %) könne im Erwerbsbereich aber nicht eine Arbeitsfähigkeit von 50 % angenommen werden, weil dies im Ergebnis zu einer weit über der von den Gutachtern attestierten Arbeitsfähigkeit von 50 % läge. Richtigerweise müsse die Arbeitsfähigkeit von 50 % auf ein Pensum von 70 % umgerechnet und somit im Erwerbsbereich der Invaliditätsgrad auf 35 % festgesetzt werden, was zu einem Invaliditätsgrad von insgesamt mehr als 50 % führe. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb bei gleich gebliebenem Gesundheitszustand einzig die Erhöhung des Erwerbsanteils zu einer derart grossen Änderung des Invaliditätsgrades führen sollte.
4.
4.1 Die Gutachter der MEDAS hielten am 4. Juni 2007 fest, die Versicherte sei in der Tätigkeit als Hausfrau und Mutter zu 50 % arbeitsfähig. Als kaufmännische Angestellte - wie auch in anderen, damit vergleichbaren ausserhäuslichen Tätigkeiten - bestehe ebenfalls eine Arbeitsfähigkeit von 50 %. Im Begleitschreiben an die Beschwerdegegnerin führten die Ärzte aus, zum Zeitpunkt der ersten Begutachtung (vom 18. Oktober 1996) hätten sie die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit auf 50 % "der Norm" geschätzt, diejenige als Hausfrau auf 70 % "der Norm". Das kantonale Gericht ging ohne Weiterungen davon aus, die im Gutachten attestierte Arbeitsfähigkeit im Haushalt- und Erwerbsbereich beziehe sich auf ein Vollzeitpensum. Zu prüfen ist, ob dies vor Bundesrecht Stand hält.
4.2 In der Rechtsprechung werden die in den ärztlichen Berichten und Gutachten enthaltenen Prozentangaben zur Arbeitsfähigkeit grundsätzlich und unabhängig von der anzuwendenden Bemessungsmethode auf ein Vollzeitpensum bezogen (statt vieler: Urteile 9C_742/2009 vom 25. Februar 2010 E. 3.1, 9C_587/2007 vom 20. März 2008 E. 2.1, I 551/05 vom 29. Januar 2007, in BGE 132 V 368 nicht publizierte E. 9 des Urteils I 158/04 vom 30. Juni 2006), soweit die Ärztin oder der Arzt nicht explizit festhalten, dass sich ihre Angaben an einem Teilzeitpensum messen oder sich dies zweifelsfrei aus dem Kontext ergibt (vgl. Urteil I 194/95 vom 15. November 1996 E. 3b). Das Vollzeitpensum wird denn auch regelmässig als "Norm" bzw. "normal" bezeichnet (z.B. Urteil 9C_368/2009 vom 17. Juli 2009 E. 1, wo ein "Normalarbeitspensum" auf 8,34 Stunden im Tag festgesetzt wurde oder Urteil I 909/05 vom 8. November 2006 E. 4.1, in welchem als "übliches Tagespensum" eine Arbeitszeit zwischen 8 und 9 Stunden, somit ebenfalls ein 100 % Pensum angesehen wird). Davon abgesehen, dass die IV-Stelle bereits bei Erlass der Verfügung vom 12. Juli 1999 die im ersten MEDAS-Gutachten (vom 18. Oktober 1996) attestierte Arbeitsunfähigkeit auf eine Vollzeittätigkeit bezog, ohne dass dies von der Beschwerdeführerin beanstandet worden wäre, fehlen im Gutachten vom 4. Juni 2007 sowohl ärztliche Präzisierungen als auch andere, sich aus den Erläuterungen der Gutachter ergebende Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass die hälftige Arbeitsfähigkeit im Erwerbsbereich auf ein Pensum von 70 % umzurechnen wäre. Es ist daher bereits aus diesen Gründen überwiegend wahrscheinlich, dass die Gutachter mit der im Begleitbrief angesprochenen "Norm" ein Vollpensum meinten. Nichts anderes ergibt sich aus dem Gutachten selbst. Unbestritten arbeitete die Versicherte im massgeblichen Zeitraum (meist) zwei Halbtage pro Woche als kaufmännische Angestellte. Dieses Pensum gewichteten die Gutachter mit 20 % und setzten folglich die "frei verfügbare Arbeitsplatzpräsenz [...] in der häuslich-mütterlichen Einsatzsphäre" auf 80 % fest. Diese Beurteilung lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Prozentangaben auf ein Vollzeitpensum beziehen. Wenn die MEDAS-Experten in der Folge eine 50 %ige Arbeitsfähigkeit attestierten, kann sich diese vernünftigerweise ebenfalls nur auf ein volles Pensum beziehen, denn es ist nicht einzusehen, weshalb die Gutachter zwar die für die Erwerbstätigkeit aufgewendete Zeit mit 20 % hätten veranschlagen, die verbleibende Arbeitsfähigkeit indes auf ein Teilzeitpensum beziehen sollen, ohne dies im Gutachten klar zum Ausdruck zu bringen.
4.3 Die Beschwerdeführerin wendet ein, es sei nicht schlüssig, weshalb lediglich die veränderte Gewichtung der Erwerbstätigkeit mit nunmehr 70 % bei gleich gebliebenem Gesundheitszustand zu einer derart grossen Veränderung des Invaliditätsgrades führe. Ein Blick in die Akten zeigt, dass die IV-Stelle beim Erlass ihrer Verfügung vom 12. Juli 1999 zwar - wie von der Vorinstanz in deren Entscheid vom 20. August 1998 (E. 2c) verlangt - einen Einkommensvergleich durchführte, indes davon ausging, bei einer Erwerbstätigkeit ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen von 50 % und einer 50 %igen Arbeitsfähigkeit sowie einer ebenfalls mit 50 % zu gewichtenden Haushaltstätigkeit bei einer hälftigen Arbeitsfähigkeit betrage der Gesamtinvaliditätsgrad 50 %. Vielmehr wäre der Invaliditätsgrad im Erwerbsbereich mit 0 % zu veranschlagen (100-[100:50x50%]) und die Gesamtinvalidität auf 25 % festzusetzen gewesen. Aus der im Jahre 1999 erfolgten Rentenzusprechung kann die Versicherte daher hinsichtlich ihres Rentenanspruches ab Juli 2008 nichts zu ihren Gunsten ableiten.
5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 30. März 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
Meyer Bollinger Hammerle