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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
9C_286/2007
Urteil vom 7. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella,
Gerichtsschreiber Fessler.
Parteien
M.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher Marc Dübendorfer, Mellingerstrasse 207, Täfernhof, 5405 Baden,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 13. März 2007.
Sachverhalt:
A.
Die 1959 geborene M.________ meldete sich im Januar 2004 bei der Invalidenversicherung an und beantragte Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (Berufsberatung, Umschulung). Die IV-Stelle des Kantons Aargau klärte die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. Unter anderem liess sie die Versicherte durch den Psychiatrischen Dienst (PD) begutachten (Expertise vom 21. März 2005 und Ergänzungsbericht vom 14. November 2005). Mit Verfügung vom 5. Januar 2006 stellte die IV-Stelle fest, es bestehe kein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung, was sie insbesondere mit Bezug auf eine Rente mit Einspracheentscheid vom 15. Mai 2006 bestätigte.
B.
Die Beschwerde der M.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 13. März 2007 ab.
C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 13. März 2007 sei aufzuheben und das Verfahren sei zur Durchführung einer interdisziplinären medizinischen Begutachtung an die IV-Stelle zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.
Das kantonale Versicherungsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während die IV-Stelle keinen Antrag stellt. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
2.
2.1 Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG). Die Invalidität kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein (Art. 4 Abs. 1 IVG). Krankheit ist jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Art. 3 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG).
Ist ein Versicherter zu mindestens 40 Prozent invalid, so hat er Anspruch auf eine nach dem Grad der Invalidität abgestufte Rente (Art. 28 Abs. 1 IVG).
2.2 Grundlage für die Bemessung der Invalidität bildet die trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung noch bestehende Arbeitsfähigkeit im versicherten Tätigkeitsbereich. Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 ATSG im Besonderen setzt grundsätzlich eine lege artis auf die Vorgaben eines anerkannten Klassifikationssystems abgestützte psychiatrische Diagnose voraus (vgl. BGE 130 V 396). Eine solche Diagnose ist eine rechtlich notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für einen invalidisierenden Gesundheitsschaden (BGE 132 V 65 E. 3.4 S. 69). Entscheidend ist, ob und inwiefern, allenfalls bei geeigneter therapeutischer Behandlung, von der versicherten Person trotz des Leidens willensmässig erwartet werden kann zu arbeiten (BGE 127 V 294 E. 5a S. 299). Diese Frage beurteilt sich wie bei anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen im Sinne von ICD-10 F45.4 und vergleichbaren pathogenetisch (ätiologisch) unklaren syndromalen Zuständen nach einem weitgehend objektivierten Massstab unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 und 2.2.4 S. 353 ff.; BGE 127 V 294 E. 4b/cc S. 297 f. in fine). Umstände, welche die Verwertung der verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt als unzumutbar erscheinen lassen, sind die erhebliche Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer des psychischen Leidens, chronische körperliche Begleiterkrankungen mit mehrjährigem Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, sozialer Rückzug, ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung, unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person (vgl. BGE 132 V 65 E. 4.2.2 S. 71, 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353 ff.).
Bei anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen im Sinne von ICD- 10 F45.4 im Besonderen ist zu beachten, dass psychosoziale Probleme und/oder emotionale Konflikte eine entscheidende Krankheitsursache darstellen können (BGE 130 V 396 E. 6.1 S. 400). Dabei ist zu differenzieren: Soweit psychosoziale und soziokulturelle Faktoren selbstständig und insofern direkte Ursache der Einschränkung der Arbeitsfähigkeit sind, liegt keine Krankheit im Sinne der Invalidenversicherung vor. Wenn und soweit solche Umstände zu einer eigentlichen Beeinträchtigung der psychischen Integrität führen, indem sie einen verselbstständigten Gesundheitsschaden aufrechterhalten oder den Wirkungsgrad seiner Folgen verschlimmern, können sie sich mittelbar invaliditätsbegründend auswirken (Urteil I 514/06 vom 25. Mai 2007 E. 2.2.2.2 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 294 E. 5a S. 299).
3.
Nach Auffassung des kantonalen Gerichts liegt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Gesundheitsschaden in rentenbegründendem Ausmass vor. Die Beschwerdeführerin habe schon aus diesem Grund keinen Anspruch auf eine Rente. In tatsächlicher Hinsicht hat die Vorinstanz festgestellt, aus körperlichen Beeinträchtigungen ergebe sich überwiegend wahrscheinlich keine Arbeitsunfähigkeit. Insbesondere sei die Hypothyreose (Unterfunktion der Schilddrüsen) ohne weiteres behandelbar und die lebenslange Einnahme von entsprechenden Hormonpräparaten zumutbar. Aus psychiatrischer Sicht bestehe gemäss dem PD-Gutachten vom 21. März 2005, welchem «zweifelsfrei» voller Beweiswert zukomme (vgl. BGE 125 V 351 E. 3a S. 352), eine Arbeitsunfähigkeit von rund 70 % für eine angepasste Tätigkeit unter geeigneten Bedingungen. Diese Einschätzung könne indessen nicht unbesehen übernommen werden. Sie werde allein aufgrund der diagnostizierten anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) attestiert, welcher jedoch kein invalidisierender Charakter zukomme. Vorab sei fraglich, ob eine psychische Komorbidität bestehe. Der Einfluss der ebenfalls festgestellten mittelgradigen depressiven Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10 F32.11) auf die Arbeitsfähigkeit sei nicht mit dem notwendigen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausgewiesen. Die weiteren in diesem Zusammenhang massgeblichen Kriterien (vgl. E. 2.2) seien ebenfalls nicht erfüllt. Es komme dazu, dass die behaupteten Schmerzen nicht hätten objektiviert werden können und ihre Ursache (Hyperthyreose und Verlust der Arbeitsstelle) äusserst fragwürdig seien. Gegen die ausnahmsweise Unmöglichkeit, mit eigener Willensanstrengung die somatoforme Schmerzstörung zu überwinden und die verbliebene Arbeitsfähigkeit erwerblich zu verwerten, spreche schliesslich, dass die Leistungseinschränkung auf Aggravation und Selbstlimitierung beruhe. Auch sei die Beschwerdeführerin wiederholt ihrer Selbsteingliederungspflicht nicht nachgekommen (keine Behandlung der Hyperthyreose, mangelnde Compliance im Rahmen des Aufenthalts in der Klinik X.________ vom 2. April bis 28. Mai 2003). Schliesslich hätten sich im Abklärungs- und Behandlungsverfahren klare Hinweise auf das Vorliegen invaliditätsfremder und allenfalls auch psychosozialer und soziokultureller Faktoren ergeben. Sowohl der Verlust der Arbeitsstelle als auch die schlecht bewältigte Jugendzeit würden bei der Beurteilung der Ärzte des PD mitberücksichtigt. Durch ihren Cannabiskonsum betreibe die Versicherte eine Selbstlimitierung mit negativer Auswirkung auf die berufliche Reintegration, Therapierbarkeit und Prognose. Die attestierte Arbeitsunfähigkeit von 70 % im PD-Gutachten vom 21. März 2005 halte gegenüber den sozialversicherungsrechtlichen Kriterien somit nicht stand. Vielmehr sei eine Arbeitsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht anzunehmen.
4.
4.1 Die vorinstanzliche Feststellung, das PD-Gutachten vom 21. März 2005 attestiere allein aufgrund der somatoformen Schmerzstörung eine Arbeitsunfähigkeit von 70 %, ist offensichtlich unrichtig. Die Experten hielten ausdrücklich fest, im Vordergrund stünden eine anhaltende mittelgradig depressive Störung mit somatischem Syndrom und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bei kombinierter Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend histrionischen und teilweise emotional unstabilen Zügen. Im ergänzenden Bericht vom 14. November 2005 bezeichneten sie das Ausmass der Symptomatik in Bezug auf die mittelgradige depressive Episode als beträchtlich und anhaltend. Im Gutachten wurde sodann auch der Persönlichkeitsstörung für sich allein genommen teilweise Krankheitswert zugemessen. Zudem wurde festgehalten, die Störung wirke sich in Kombination mit den übrigen Störungen erheblich und ungünstig auf die Behandlung aus. Die Gutachter bejahten auch die Notwendigkeit, die begonnene Psychotherapie einschliesslich einer zu optimierenden Psychopharmakotherapie weiterzuführen. Abgesehen davon setzt sich das kantonale Gericht mit der Feststellung, die im PD-Gutachten attestierte Arbeitsunfähigkeit beruhe allein auf der somatoformen Schmerzstörung, in Widerspruch zu sich selber, wenn es an anderer Stelle ausführt, eine Tendenz zu aggravatorischem Verhalten sei nicht von der Hand zu weisen, hätten doch die behaupteten Schmerzen nicht objektiviert werden können und sei ihre Ursache (Hyperthyreose und Verlust der Arbeitsstelle) äusserst fragwürdig. Damit stellt sie letztlich die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung in Frage. Die Vorinstanz hat dem Gutachten des PD vom 21. März 2005 ausdrücklich vollen Beweiswert zuerkannt.
4.2 Im Weitern steht fest, dass das kantonale Gericht aufgrund eines offensichtlichen Versehens fälschlicherweise von einer Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) ausgegangen ist. Tatsächlich besteht ein Status nach Hyperthyreose Morbus Basedow. Das ist nicht das Gleiche. Im PD-Gutachten vom 21. März 2005 wurde die Hyperthyreose als auslösender oder begünstigender Faktor der Depressions- und Schmerzproblematik bezeichnet. Ebenfalls wurde in den Berichten der Klinik Y.________, Abteilung Psychosomatik, vom 22. Juni 2004 und der Klinik X.________ vom 4. Juli 2003 die depressive Entwicklung im Zusammenhang mit der Schilddrüsenüberfunktion und der dadurch bedingten Arbeitsunfähigkeit sowie der Kündigung des langjährigen Arbeitsverhältnisses 2001 gesehen. Gemäss dem von der Beschwerdeführerin eingereichten Auszug aus der freien Endzyklopädie Wikipedia sind Symptome der Schilddrüsenüberfunktion unter anderem Depressionen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Basedow-Krankheit). Wenn im Übrigen im angefochtenen Entscheid festgehalten wird, die Beschwerdeführerin betreibe durch ihren Cannabiskonsum eine Selbstlimitierung, welcher eine negative Auswirkung auf die berufliche Integration, Therapierbarkeit und Prognose habe, bleibt unerwähnt, dass im PD-Gutachten vom 21. März 2005 der schädliche Gebrauch von Cannabis als Folge der Persönlichkeitsstörung betrachtet wurde.
4.3 Schliesslich wird in der Beschwerde zu Recht gerügt, die weiteren vom kantonalen Gericht erwähnten Gründe für die Verneinung eines invalidisierenden Gesundheitsschadens (Rentenbegehrlichkeit, Aggravation, Verletzung der Selbsteingliederungspflicht, schlechte Compliance) beruhten teilweise auf willkürlichen und aktenwidrigen Sachverhaltsfeststellungen. Insbesondere trifft nicht zu, die Beschwerdeführerin habe sich nach der Untersuchung in der Klinik Y.________ vom 28. Februar 2003 nicht stationär behandeln lassen. Die Versicherte hielt sich vom 2. April bis 8. Mai 2003 in der Klinik X.________ auf, wie die Vorinstanz zwar selber erwähnt, ohne daraus die entsprechende Schlussfolgerung bezüglich des Morbiditätskriteriums der erfolgten Behandlungen zu ziehen. Sodann kann keine Rede davon sein, die Beschwerdeführerin habe praktisch jährlich ihren Hausarzt gewechselt. Ebenfalls trifft offensichtlich nicht zu, dass die Beschwerdeführerin bis anhin keine Behandlung der Schilddrüsenüberfunktion aufgenommen hat. Aufgrund der Akten kann jedenfalls nicht von einer anspruchsrelevanten Verletzung der Selbsteingliederungspflicht gesprochen werden.
Nach dem Gesagten muss die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung zum Gesundheitszustand und zur zumutbaren Arbeitsfähigkeit als offensichtlich unrichtig bezeichnet werden. Sie ist daher für das Bundesgericht nicht verbindlich (E. 1). Die Akten sind nicht spruchreif. Vielmehr bedarf es, wie in der Beschwerde beantragt, ergänzender Abklärungen durch die IV-Stelle (Einholung eines polydisziplinären Gutachtens), um den streitigen Rentenanspruch beurteilen zu können.
5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat die Verwaltung der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. März 2007 und der Einspracheentscheid vom 15. Mai 2006 werden aufgehoben und die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Aargau auferlegt.
3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.
4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hat die Parteientschädigung für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 7. Januar 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Meyer Fessler