BGer I 821/2006
 
BGer I 821/2006 vom 09.10.2007
Tribunale federale
{T 7}
I 821/06
Urteil vom 9. Oktober 2007
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.
Parteien
S.________, 1956, Beschwerdeführer, vertreten durch Herr Guido Bürle Andreoli, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,
gegen
IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 3. August 2006.
Sachverhalt:
A.
Der 1956 geborene S.________ war bis zum 19. Juni 2001 als Plattenleger erwerbstätig. Er leidet unter anderem an einer rezidivierenden depressiven Störung, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, einer koronaren Gefässerkrankung, einem metabolischen Syndrom (umfassend Adipositas, Diabetes mellitus, Dyslipidämie und arterielle Hypertonie), an einem chronischen Lumbovertebralsyndrom, belastungsabhängigen Knieschmerzen und einem leichten zervikovertebralen Schmerzsyndrom. Am 27. August 2002 meldete er sich zum Bezug von Leistungen bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Solothurn klärte den Sachverhalt in erwerblicher und medizinischer Hinsicht ab. Nach Einholung eines interdisziplinären Gutachtens des Instituts X.________, lehnte die Verwaltung einen Leistungsanspruch, insbesondere auch mit Bezug auf berufliche Massnahmen, vorläufig ab (Verfügung vom 31. Juli 2003). Mit Verfügung vom 16. März 2004 bekräftigte sie dieses Erkenntnis mit Bezug auf die Invalidenrente in definitiver Weise. S.________ erhob dagegen Einsprache mit dem Rechtsbegehren, es sei ein ausführlicher Arztbericht einzuholen, eventuell eine erneute Begutachtung im Institut X.________ durchzuführen und es seien ihm die gesetzlichen Leistungen gemäss IVG auszurichten. Im Rahmen des Einspracheverfahrens liess die IV-Stelle das Gutachten durch dieselbe Institution ergänzen und aktualisieren (Dokument vom 19. Mai 2005). Sie wies die Einsprache schliesslich ab (Entscheid vom 27. Juni 2005).
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 3. August 2006).
C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Rechtsbegehren, es seien ihm, nach Aufhebung von vorinstanzlichem und Einspracheentscheid, die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Ergänzung des rechtserheblichen Sachverhalts zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
2.
Strittig ist, ob die Vorinstanz die Arbeitsfähigkeit ohne Verletzung von Bundesrecht beurteilt und daraus die zutreffenden Rechtsfolgen abgeleitet hat.
2.1 Die Rentenfrage stellt sich erst, wenn die Möglichkeiten einer den Erwerbsschaden mindernden Eingliederung ausgeschöpft sind (vgl. Art. 16 ATSG).
2.1.1 Im ersten Gutachten des Instituts X.________ vom 12. Juni 2003 wurde die Bedeutung der beruflichen Rehabilitation hervorgestrichen. Nach Auffassung der Sachverständigen wirke sich das krankheitswertige Leiden (organische psychische Störungen aufgrund einer körperlichen Krankheit, koronare Einasterkrankung, metabolisches Syndrom, chronisches Lumbo- und Zervikovertebralsyndrom ohne radikuläre Ausfälle) aus psychiatrischer Sicht zwar in der Grössenordnung von 50 Prozent auf die Arbeitsfähigkeit aus. Jedoch liessen sich Inkonsistenzen in den Aussagen des Exploranden feststellen. So müsse aufgrund verschiedener Befunde angenommen werden, der Versicherte nehme die Medikamente nicht ordnungsgemäss ein. "Noch gravierender" sei "das Leugnen des Exploranden, dass er seine Hände in arbeitsmässiger Belastung einsetzt. Zweifelsfrei konnte in den somatischen Untersuchungen eine deutliche bis sogar ausgeprägte Handbeschwielung rechts mehr als links festgestellt werden, wie dies nicht bei einem Hobbyhandwerker oder Hobbygärtner festzustellen ist, wie dies nur bei einem Berufsmann beobachtet werden kann." Aus diesen Beobachtungen folgerten die Gutachter (S. 18 f. Ziff. 6.1.6):
"Obwohl wir aufgrund des Verhaltens des Exploranden nicht eine sehr hoffnungsvolle Prognose hinsichtlich beruflicher Massnahmen stellen, erachten wir dem Exploranden eine derartige Massnahme als zumutbar und insbesondere auch notwendig, um seine Situation unter Beobachtung von Fachleuten und im geschützten Rahmen zu dokumentieren, insbesondere auch um die Fragestellung aus dem Bereiche der Simulation und der gleichzeitig vorhandenen objektivierbaren Befunde zu erhellen. Wir schlagen also vor, mit dem Exploranden eine Arbeitsabklärung und ein Arbeitstraining durchzuführen, unter anderem auch als Massnahme zu praktischen Beobachtungen und Exploration und zur Hilfestellung bzw. Klärung der diskrepanten Befunde, die zum jetzigen Zeitpunkt ein endgültiges Urteil bezüglich zumutbarer Tätigkeiten verhindern.
Nach Durchführung dieser Massnahmen, ob diese erfolgreich sind oder nicht, unbesehen ob dazwischen eine hausärztliche Arbeitsunfähigkeitsattestierung erfolgt oder nicht, wird eine Reevaluation, basierend auf diesen Erkenntnissen, vorgeschlagen. (...)
Beim Exploranden besteht in der angestammten Tätigkeit seit dem 22.6.2001 eine bleibende, volle Arbeitsunfähigkeit. Hinsichtlich körperlich leichten und adaptierten Tätigkeiten können wir zum jetzigen Zeitpunkt (...) keine sichere Aussage machen. Wir empfehlen nach Durchführung von konkreten beruflichen Massnahmen oder allfälligen sonstigen Beobachtungen durch die IV-Stelle eine Reevaluation in 1-2 Jahren."
2.1.2 Entgegen dieser gutachtlichen Empfehlung verweigerte die IV-Stelle eine Kostengutsprache für berufliche Massnahmen vorläufig, das heisst bis sich der Versicherte - vor allem mit Blick auf Diabetes, Psyche und Suchtverhalten - "konsequenten ärztlichen Anordnungen" unterzogen habe (Verfügung vom 31. Juli 2003). Gleichzeitig, also lediglich anderthalb Monate nach Erhalt der ersten Expertise, meldete die Verwaltung den Versicherten für eine (sechs bis sieben Monate später stattfinden sollende) neue Begutachtung beim Institut X.________ an. Zu Beginn des Jahres 2004 vereinbarten IV-Stelle und Institut X.________, diese nicht durchzuführen, "da der Versicherte seit der Ablehnung vom 31.7.03 keine neuen Fakten bekanntmachte" (Eintrag im Verlaufsprotokoll der IV-Stelle vom 5. Februar 2004 und Schreiben des Instituts X.________ vom 6. Februar 2004). Am 16. März 2004 verfügte die Verwaltung, es bestehe kein Rentenanspruch, weil sich die gesundheitliche Situation seit dem Gutachten vom 12. Juni 2003 nicht erheblich verändert habe und der Versicherte in der Lage sei, ein rentenausschliessendes Einkommen (im Rahmen von ungefähr 75 Prozent) zu erzielen. Der Versicherte liess Einsprache erheben. Der Hausarzt Dr. A.________ äusserte sich am 2. August 2004 dahingehend, die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit setze vorgängige berufliche Massnahmen voraus. Auf Anregung ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) hin stellte die IV-Stelle am 26. Oktober 2004 den früher annullierten Begutachtungsauftrag an das Institut X.________ wieder her. Dieses erstattete am 19. Mai 2005 Bericht. Es fasste den Gesundheitsschaden nunmehr in die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig leichte Episode), einer Somatisierungsstörung, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, einer koronaren 1-Ast-Erkrankung, eines metabolischen Syndroms (Adipositas, Diabetes mellitus, Dyslipidämie, arterielle Hypertonie), eines chronischen Lumbovertebralsyndroms, anamnestisch belastungsabhängiger Knieschmerzen sowie eines leichten zervikovertebralen Schmerzsyndroms und kam zum Schluss, knapp zwei Jahre nach der letzten Begutachtung ergebe sich jetzt ein insbesondere im Bereich der affektiven Störung stabilisierter Zustand mit einer gegenwärtig nur leichten Episode einer rezidivierenden depressiven Störung. Auch mangels Progredienz stehe nicht mehr "eine organische Persönlichkeitsdiskussion" im Vordergrund, sondern eine somatoforme Schmerzstörung. Die Belastungsfähigkeit des Exploranden sei etwas vermindert, so dass aus psychiatrischer Sicht eine Einbusse von 20 Prozent der Arbeits- bzw. Leistungsfähigkeit "als oberes Limit nachvollzogen werden" könne. In der Konsensbesprechung stelle sich den Untersuchern ein Explorand mit einer deutlichen subjektiven Krankheits- und Behinderungsüberzeugung dar, welche aber keine medizinische Entsprechung finde. So seien dem Versicherten jegliche körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeiten medizinisch-theoretisch ganztägig zumutbar, dies mit einer Leistungseinbusse von maximal 20 Prozent. Aufgrund der subjektiven Krankheits- und Behinderungsüberzeugung und der offensichtlichen Fehlmotivation des Exploranden könnten keine beruflichen Massnahmen vorgeschlagen werden.
2.1.3 Die Sachverständigen haben den beruflichen Massnahmen ursprünglich eine grosse Bedeutung zugeschrieben, um das effektive Ausmass der Arbeitsfähigkeit bzw. den Umfang der Verletzung der Schadenminderungspflicht (namentlich im Zusammenhang mit der sog. Medikamenten-Compliance, dem fortdauernden Nikotinkonsum und der unterbliebenen Gewichtsreduktion) ergründen zu können. Solche "Fragestellungen aus dem Bereiche der Simulation" haben die Gutachter im ersten Bericht vom 12. Juni 2003 dazu bewogen, die abschliessende Stellungnahme zurückzustellen, bis sich aus der Durchführung entsprechender Eingliederungsvorkehren verlässlichere Entscheidungsgrundlagen ergeben haben. Die neue gutachtliche Einschätzung vom 19. Mai 2005 zeigt indes, dass die zwischenzeitlich eingetretene Besserung der Depression die Eingliederungsschwelle (und damit den einschlägigen Massnahmebedarf) massgeblich herabgesetzt hat. Insofern durfte das kantonale Gericht ohne Weiterungen zur Invaliditätsbemessung schreiten.
2.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Einschätzungen des Instituts X.________ seien im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (Einspracheentscheid vom 27. Juni 2005) nicht mehr aktuell gewesen.
2.2.1 Im ersten Gutachten des Instituts X.________ vom 12. Juni 2003 wurden organische psychische Störungen aufgrund einer körperlichen Krankheit (ICD-10 Ziff. F06.8) diagnostiziert. Im psychiatrischen Konsilium findet sich die Diagnose einer depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (ICD-10 Ziff. F32.1), welche "aus psychiatrischer Sicht einen relativ grossen Krankheitswert" habe. Mangels Progredienz, ja wegen Besserung der affektiv-psychischen Störung kamen die Sachverständigen im zweiten Gutachten vom 19. Mai 2005 indes auf diesen Befund zurück und hielten fest, eine "organische Persönlichkeitsdiskussion" stehe nicht mehr im Vordergrund. Dabei ersetzten sie die genannte Diagnose durch diejenigen einer rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig leichtgradige Episode), einer Somatisierungsstörung sowie einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung.
Der Beschwerdeführer war vom 4. bis 6. Juni 2005 im Psychiatriezentrum Y.________ und anschliessend, unterbrochen durch einen Aufenthalt in der Abteilung Medizin des Spitals Z.________ (17. bis 30. Juni 2005), bis zum 19. August 2005 im Departement Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrischen Dienste des Kantons O.________ hospitalisiert. Die beiden Institutionen diagnostizierten übereinstimmend eine mittelgradige depressive Episode mit somatischen Symptomen bei psychosozialer Belastungssituation (Berichte vom 16. Juni und 29. August 2005).
2.2.2 Das kantonale Gericht hat mit Bezug auf diese Dokumente, die mit der Replik im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren eingereicht wurden, erwogen, ihnen sei gemeinsam, dass sie weder Angaben über die Arbeitsfähigkeit enthielten noch vor dem Hintergrund der gesamten medizinischen Aktenlage erstellt worden seien. Die Diagnosen deckten sich grösstenteils mit den bereits bekannten. Schliesslich fänden sich neue Hinweise auf die bereits im Institut X.________ festgestellte mangelhafte Medikamenten-Compliance. Weiteren Abklärungsbedarf hat die Vorinstanz implizit verneint. Diese Beurteilung ist nicht offenkundig unrichtig (vgl. oben E. 1.2). Das kantonale Gericht hat ausserdem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass, sollte sich eine nachhaltige Verschlechterung des Gesundheitszustands ergeben haben, es dem Versicherten frei steht, sich bei der Invalidenversicherung neu anzumelden.
2.3 Die im Gutachten des Instituts X.________ vom 19. Mai 2005 angenommene Leistungseinschränkung von maximal 20 Prozent wurde im angefochtenen Entscheid als nicht im Sinne der Rechtsprechung invalidisierend angesehen. Die rechtsanwendende Behörde darf sich im Wesentlichen nur über die Erkenntnisse in einem beweiswertigen Gutachten hinwegsetzen, wenn deutlich wird, dass beispielsweise (nicht versicherte) psychosoziale Belastungen direkt in die Beurteilung der Leistungsminderung einbezogen worden sind (vgl. BGE 130 V 352 E. 3.3.2 in fine S. 359). Der psychiatrische Teilgutachter spricht von einer "vor allem durch die psychosozialen Belastungsfaktoren ausgelösten rezidivierenden depressiven Störung, die gegenwärtig leichtgradig ausgebildet ist". Die leichtgradige Beeinträchtigung erscheint mithin nicht verselbständigt, sondern geht gewissermassen in den invaliditätsfremden Umständen auf (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299). Zudem wird die Einschränkung um einen Fünftel nicht als feststehende Grösse behandelt, sondern als Obergrenze. Unter Berücksichtigung dieser Fallumstände ist die vorinstanzliche Umsetzung der gutachtlichen Arbeitsfähigkeitseinschätzung nicht zu beanstanden.
3.
Das Verfahren hat Leistungen der Invalidenversicherung zum Gegenstand und ist deshalb kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG, gültig gewesen vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006; vgl. E. 1.2).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn zugestellt.
Luzern, 9. Oktober 2007
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Meyer Traub