BGer 5A_188/2007
 
BGer 5A_188/2007 vom 13.06.2007
Tribunale federale
{T 0/2}
5A_188/2007 /bnm
Urteil vom 13. Juni 2007
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Escher, Hohl,
Gerichtsschreiber Zbinden.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Lisa Zaugg,
gegen
Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau,
Y.________, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas H. Brodbeck,
Z.________, vertreten durch Advokat Dr. Erik Johner,
Verfahrensbeteiligte,
Gegenstand
Kindesschutzmassnahmen,
Beschwerde in Zivilsachen gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde, vom 12. März 2007.
Sachverhalt:
A.
A.a Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden vom 13. September 1995 wurden die Eheleute Y.________ und Z.________ geschieden. Die elterliche Gewalt über die gemeinsame Tochter X.________, geb. 16. Januar 1994, wurde der Mutter zugeteilt, welche in der Folge mit dem Kind nach Brasilien zog. Am 5. Dezember 2006 reiste sie mit dem Kind in die Schweiz, um der Tochter einen Ferienaufenthalt beim Vater zu ermöglichen. Mit dem Kindsvater war vereinbart worden, dass dieser das Kind bis zum 17. Januar 2007 bei sich zu Besuch haben dürfe; die Rückreise von Mutter und Kind war auf den 18. Januar 2007 geplant.
A.b Mit Schreiben vom 1. Januar 2007 meldete der Kindsvater der Vormundschaftsbehörde der Gemeinde A.________ (nachfolgend: Vormundschaftsbehörde), seine Tochter werde ihren Aussagen zufolge von ihrer Mutter physisch und psychisch misshandelt; ausserdem unterbreche die Mutter den Schulbesuch des Kindes durch Nichtbezahlen des Schulgeldes. Der Vater ersuchte "um eine sofortige Schutzmassnahme" für seine Tochter durch eine "sofortige professionelle, psychologische Abklärung". Die Vormundschaftsbehörde trat mit Beschluss vom 8. Januar 2007 auf das Begehren wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit nicht ein.
A.c Am 17. Januar 2007 meldete der Vater das Kind bei der Polizei A.________ als vermisst.
A.d Am 19. Januar 2007 meldete Rechtsanwältin Zaugg der Polizeidienststelle A.________, das Kind sei untergetaucht und werde an einem sicheren Ort gut versorgt.
A.e Mit Eingabe vom 9. Februar 2007 leitete die Mutter beim Gerichtspräsidium A.________ ein Verfahren auf Rückführung des Kindes gemäss dem Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ein.
A.f Mit Präsidialverfügung vom 19. Februar 2007 ordnete die Kammer für Vormundschaftswesen eine dringliche Kindesschutzmassnahme an (Art. 392 Ziff. 3 und Art. 308 ZGB). Die Vormundschaftsbehörde wurde angewiesen, durch vorsorglich sofortige Präsidialverfügung für das Kind eine Beistandschaft (Art. 308 Abs. 2 ZGB) anzuordnen und den einzusetzenden Beistand zu beauftragen, das Kind und die Kindesinteressen durch die dafür notwendigen oder sachdienlichen Anordnungen zu vertreten. Mit superprovisorischer Präsidialverfügung der Vormundschaftsbehörde vom 20. Februar 2007 wurde ein Beistand eingesetzt. Das mit der Präsidialverfügung der Vormundschaftsbehörde vom 20. Februar 2007 eingeleitete Kindesschutzverfahren ist noch hängig.
B.
B.a Am 21. Januar 2007 erhoben Rechtsanwältin Zaugg im Namen des Kindes sowie der Vater beim Bezirksamt A.________ Beschwerde gegen den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 8. Januar 2007. Darin ersuchten sie um Aufhebung des Beschlusses, ferner darum, dem Antrag des Vaters auf Einleitung eines Kindesschutzverfahrens stattzugeben. Während der Dauer des Kindesschutzverfahrens sei der Mutter die Obhut über die Tochter zu entziehen und dem Vater zu übertragen. Einem allfälligen Rechtsmittel sei die aufschiebende Wirkung zu entziehen. Gleichzeitig verlangten sie, der Mutter superprovisorisch die Obhut zu entziehen.
Die angerufene Instanz wies die Beschwerde mit Entscheid vom 25. Januar 2007 ab, wobei auch sie die örtliche Zuständigkeit zum Erlass der beantragten Massnahme verneinte.
B.b Gegen diesen Entscheid gelangte die Anwältin im Namen des Kindes mit Beschwerde an das Obergericht des Kantons Aargau mit dem Begehren, den angefochtenen Entscheid des Bezirksamtes vom 25. Januar 2007 aufzuheben; im Übrigen stellte sie die bereits vor dem Bezirksamt gestellten Anträge und verlangte insbesondere, während der Dauer des Kindesschutzverfahrens der Mutter die Obhut über das Kind zu entziehen und dieses unter die Obhut des Vaters zu stellen. Gleichzeitig stellte die Beschwerdeführerin das Gesuch um superprovisorische Massnahmen mit dem Antrag, der Mutter unverzüglich ohne vorherige Anhörung für die Dauer des Kindesschutzverfahrens die Obhut zu entziehen und sie dem Vater zu übertragen. Diesen Antrag wies der Präsident des Obergerichts mit Verfügung vom 2. Februar 2007 ab.
Das Obergericht hob am 12. März 2007 den angefochtenen Entscheid des Bezirksamtes vom 25. Januar 2007 von Amtes wegen auf und erkannte in Abänderung dieses Entscheides, dass auf die Beschwerde (gegen den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 8. Januar 2007) nicht eingetreten werde (Ziff. 1.1). Ferner trat es auf die gegen den Entscheid des Bezirksamts vom 25. Januar 2007 erhobene Beschwerde nicht ein (Ziff. 1.2). Im Weiteren erliess das Obergericht Weisungen an das Bezirksamt bezüglich der Verfahrenskosten und der Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege (Ziff. 2), wies das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das Beschwerdeverfahren vor Obergericht ab (Ziff. 3), auferlegte die Verfahrenskosten des Beschwerdeverfahrens vor Obergericht Rechtsanwältin Zaugg (Ziff. 4) und verpflichtete diese, die Verfahrensbeteiligten für das Beschwerdeverfahren zu entschädigen (Ziff. 5). Schliesslich schrieb das Obergericht das von den Verfahrensbeteiligten gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos ab (Ziff. 6).
C.
Das durch Rechtsanwältin Zaugg vertretene Kind gelangt mit Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht. Es beantragt, den obergerichtlichen Entscheid vom 12. März 2007 aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vormundschaftsbehörde zurückzuweisen mit der Auflage, geeignete Kindesschutzmassnahmen zu ergreifen (act. 1). Für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht es um unentgeltliche Rechtspflege. Der Beschwerde wurde eine Bestätigung bezüglich der Urteilsfähigkeit der Beschwerdeführerin beigelegt (act. 3).
Es ist keine Vernehmlassung eingeholt worden.
D.
Die Beschwerdeführerin ersuchte am 10. Mai 2007 um Erlass superprovisorischer Massnahmen, mit dem Antrag, es sei dem Obergericht sowie sämtlichen involvierten Behörden zu untersagen, sie während der in der Schweiz hängigen Verfahren nach Brasilien zurückzuführen. Dem Gesuch legte sie einen kinderpsychiatrischen Bericht und eine kinderpsychiatrische Einschätzung bei (act. 8 und 9). Dem Gesuch der Beschwerdeführerin wurde mit Verfügung vom 14. Mai 2007 nicht entsprochen (act. 10).
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht in Kraft getreten (BGG; SR 173.110; AS 2006 1205, 1243). Der angefochtene Entscheid ist nach Inkrafttreten des Gesetzes ergangen, weshalb dieses Gesetz anzuwenden ist (Art. 132 Abs. 1 BGG).
2.
Im vorliegenden Fall geht es um eine Kindesschutzmassnahme, mithin um eine Zivilsache (Art. 72 Abs. 2 Ziff. 7 BGG) nicht vermögensrechtlicher Natur. Der angefochtene Entscheid ist ein letztinstanzlicher (Art. 75 Abs. 1 BGG) Endentscheid (Art. 90 BGG), so dass die Beschwerde in Zivilsachen grundsätzlich gegeben ist.
3.
Im vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob die Beschwerdeführerin als Minderjährige überhaupt zur Beschwerde in Zivilsachen berechtigt ist. Wie sich aus der folgenden Erwägung ergibt, ist auf die Beschwerde aus einem anderen Grund nicht einzutreten.
4.
Zur Beschwerde ist nur berechtigt, wer ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheides hat (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG).
4.1 Wie das Obergericht im angefochtenen Entscheid ausführt, befahl die Kammer für Vormundschaftswesen mit Präsidialverfügung vom 19. Februar 2007 eine dringliche Kindesschutzmassnahme (Art. 392 Ziff. 3 und Art. 308 ZGB) und wies damit die Vormundschaftsbehörde an, durch vorsorglich sofortige Präsidialverfügung für die Beschwerdeführerin eine Beistandschaft (Art. 308 Abs. 2 ZGB) anzuordnen und den einzusetzenden Beistand zu beauftragen, sie und die Kindesinteressen durch die dafür notwendigen oder sachdienlichen Anordnungen zu vertreten. Mit superprovisorischer Präsidialverfügung der Vormundschaftsbehörde vom 20. Februar 2007 wurde ein Beistand eingesetzt. Das mit der Präsidialverfügung der Vormundschaftsbehörde vom 20. Februar 2007 eingeleitete Kindesschutzverfahren ist nach Angaben des Obergerichts im angefochtenen Urteil noch hängig.
4.2 Die Mutter der Beschwerdeführerin hat beim Gerichtspräsidium A.________ gestützt auf das Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ; SR 0.211.230.02) ein Verfahren auf Rückführung der Beschwerdeführerin nach Brasilien eingeleitet. Ist den Gerichten oder den Verwaltungsbehörden des Vertragsstaates, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wird, das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinn des Artikels 3 des Übereinkommens mitgeteilt worden, so dürfen sie keine Sachentscheidung über das Sorgerecht treffen, solange nicht entschieden ist, dass das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben ist, oder sofern innerhalb angemessener Frist nach der Mitteilung kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt wird (Art. 16 des Übereinkommens). Die Mitteilung des Verbringens oder Zurückhaltens an die Gerichte oder Behörden eines Staates bewirkt, dass in einem dort anhängigen Sorgerechtsverfahren keine Sachentscheidung über das Sorgerecht mehr ergehen darf. Ein hängiges Verfahren ist zumindest auszusetzen; ein neues Sorgerechtsverfahren darf nicht mehr eingeleitet werden (Staudinger/Pirrung, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 1994, Vorbemerkungen zu Art. 19 EGBGB, Rz. 692). Das Übereinkommen schliesst indes dringliche Kindesschutzmassnahmen nicht aus, für die nach Art. 315a Abs. 3 Ziff. 2 ZGB die Vormundschaftsbehörde zuständig ist, es sei denn, das mit der Rückführungsklage befasste Gericht wäre hierfür zuständig, was von der kantonalen Gerichtsorganisation abhängt.
4.3 Hat aber die Vormundschaftsbehörde das Kindesschutzverfahren, für welches sie sich ursprünglich als örtlich unzuständig erachtete, inzwischen eingeleitet und ist dieses Verfahren nach den Feststellungen des angefochtenen Entscheides noch hängig, fehlt es der Beschwerdeführerin am rechtlich geschützten Interesse an der Behandlung des vor Bundesgericht mit der vorliegenden Beschwerde gestellten Begehrens um Aufhebung des Entscheides des Obergerichts vom 12. März 2007 und um Rückweisung der Sache an die Vormundschaftsbehörde mit der Auflage, geeignete Kindesschutzmassnahmen zu ergreifen. Auf die Beschwerde ist nicht einzutreten.
5.
Die Anwältin der Beschwerdeführerin hat das vorliegende Verfahren und die damit verbundenen Kosten unnötig verursacht. Es wäre vermeidbar gewesen, wird doch das hängige Kindesschutzverfahren im angefochtenen Entscheid ausdrücklich erwähnt. Aus diesen Gründen sind die Kosten des vorliegenden Verfahrens ihr aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 3 BGG).
6.
Die Beschwerde hat sich als von vornherein aussichtslos erwiesen; das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ist somit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird Rechtsanwältin Lisa Zaugg auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, den Verfahrensbeteiligten und dem Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 13. Juni 2007
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: