BGer I 714/2006
 
BGer I 714/2006 vom 20.04.2007
Tribunale federale
{T 7}
I 714/06
Urteil vom 20. April 2007
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen, Seiler,
Ersatzrichter Maeschi,
Gerichtsschreiber Fessler.
Parteien
W.________, 1946, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Michael Kull, Nigon Kull & Partner, Marktplatz 18, 4001 Basel,
gegen
IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 29. März 2006.
Sachverhalt:
A.
Der 1946 geborene W.________ bezog ab 1. September 1996 eine halbe und ab 1. Oktober 1999 eine ganze Rente der Invalidenversicherung nebst einer Zusatzrente für Ehegatten. Vom 1. Juni 2004 bis 30. April 2005 hatte auch seine Ehefrau Anspruch auf eine ganze Rente. Für diesen Zeitraum wurde daher W.________ keine Zusatzrente ausgerichtet. Mit Verfügung vom 8. Juli 2005 setzte die IV-Stelle Basel-Landschaft die ganze Rente ab 1. Mai 2005 neu fest unter Hinweis darauf, dass nach den Bestimmungen der 4. IV-Revision ab 1. Januar 2004 kein neuer Anspruch auf eine Zusatzrente mehr entstehen könne. Mit Einspracheentscheid vom 6. Oktober 2005 hielt die Verwaltung daran fest, dass ab 1. Mai 2005 kein Anspruch auf eine Zusatzrente für die Ehefrau bestehe.
B.
Die Beschwerde des W.________ wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, mit Entscheid vom 29. März 2006 ab, soweit es darauf eintrat.
C.
W.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei ihm für die Zeit ab 1. Mai 2005 eine Zusatzrente für die Ehefrau zuzusprechen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Der angefochtene Entscheid ist am 29. März 2006 ergangen. Das Verfahren richtet sich somit nach dem Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG). Das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [AS 2006 1205 ff., 1243]) ist insoweit nicht anwendbar (Art. 132 Abs. 1 BGG).
1.2 Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach dem 1. Juli 2006 anhängig gemacht worden ist, bestimmt sich die Kognition im vorliegenden Streit um eine Zusatzrente der Invalidenversicherung ab 1. Mai 2005 nach Art. 132 OG in der seit 1. Juli 2006 geltenden Fassung (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
2.
Gemäss Art. 34 Abs. 1 IVG, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2003, hatten rentenberechtigte verheiratete Personen, die unmittelbar vor ihrer Arbeitsunfähigkeit eine Erwerbstätigkeit ausübten, Anspruch auf eine Zusatzrente für ihren Ehegatten, sofern diesem kein Anspruch auf eine Alters- oder Invalidenrente zustand. Die Zusatzrente wurde nur ausgerichtet, wenn der andere Ehegatte mindestens ein volles Beitragsjahr aufwies (lit. a) oder seinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hatte (lit. b).
Art. 34 IVG ist im Rahmen der am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderung des IVG gemäss Bundesgesetz vom 21. März 2003 (4. IV-Revision; AS 2003 3837 ff.) ersatzlos gestrichen worden. Nach lit. e der Schlussbestimmungen zu dieser Gesetzesnovelle werden nach bisherigem Recht zugesprochene Zusatzrenten auch nach Inkrafttreten der Änderung unter den bisherigen Voraussetzungen weitergewährt.
3.
Vorliegend ist streitig, ob der Anspruch auf eine gestützt auf lit. e der Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 21. März 2003 auch nach dem 1. Januar 2004 weiter ausgerichtete Zusatzrente ein für allemal erlischt, wenn und sobald der Ehegatte selber eine Rente der Invalidenversicherung bezieht, oder ob der Anspruch mit der Aufhebung der Rente des Ehegatten wieder auflebt.
3.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente; dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, den Sinn der Norm zu erkennen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen (BGE 132 V 93 E. 5.2.1 S. 101 mit Hinweisen).
3.2 Lit. e der Schlussbestimmungen zur 4. IV-Revision ist mit «Besitzstandswahrung bei laufenden Zusatzrenten» («garantie des droits acquis», «garanzia dei diritti acquisti» in der französischen und italienischen Textfassung) überschrieben. Der Begriff der Besitzstandswahrung knüpft an einem bestehenden Anspruch an und bedeutet, dass Bezügerinnen und Bezüger einer Zusatzrente durch das Inkrafttreten des neuen Rechts nicht schlechter gestellt werden. Sind die Voraussetzungen nach alt Art. 34 Abs. 1 IVG für den Anspruch auf eine Zusatzrente erst in einem Zeitpunkt ab 1. Januar 2004 gegeben, besteht die Besitzstandsgarantie nach lit. e der Schlussbestimmungen der Änderung vom 21. März 2003 dagegen nicht mehr. In der Botschaft vom 21. Februar 2001 über die 4. Revision des IVG (BBl 2001 3205 ff.) wird dazu ausgeführt, dass nach dem Inkrafttreten der Gesetzesnovelle keine neuen Zusatzrenten mehr zugesprochen und laufende Zusatzrenten so lange weiter ausgerichtet werden, als die bisherigen Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind (BBl 2001 3235 und 3298). Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf eine Zusatzrente nach alt Art. 34 Abs. 1 IVG zählt u.a., dass dem Ehegatten keine Rente der Alters- oder Invalidenversicherung zusteht. Wenn und sobald es an diesem Erfordernis fehlt, ist die Anspruchsberechtigung nicht mehr gegeben und die Zusatzrente gelangt nicht mehr zur Ausrichtung. Weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck von lit. e der Schlussbestimmungen zur 4. IV-Revision oder den Materialien ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Anspruch mit der Aufhebung der Alters- oder Invalidenrente des Ehegatten wiederauflebt oder sogar bis dahin die Zusatzrente lediglich ruht. Gegen diese Rechtsauffassung spricht auch die vom Gesetzgeber mit der sukzessiven, nichtsdestoweniger prinzipiellen Aufhebung der Zusatzrenten für Ehegatten in der Invalidenversicherung verfolgten Ziele, nämlich zivilstandsabhängige Leistungsarten abzuschaffen und einen Beitrag zur finanziellen Konsolidierung des Sozialwerks zu leisten (BBl a.a.O. sowie Amtl. Bull. 2001 N 1947 f., insbesondere Votum Bundesrätin Dreifuss; vgl. auch BGE 129 V 1 E. 4.3 S. 8). Für ein Wiederaufleben der Zusatzrente nach dem Wegfall der eigenen Invalidenrente der Ehefrau fehlt es somit an einer gesetzlichen Grundlage (vgl. BGE 118 V 1 E. 4a S. 4). Eine echte Gesetzeslücke in Bezug auf die sich stellende Rechtsfrage, welche vom Richter unter Rückgriff auf die ratio legis zu schliessen wäre (BGE 129 V 1 E. 4.1.1 S. 6 mit Hinweisen), liegt entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht vor. Dass vorliegend die ab 1. Juni 2004 laufende Invalidenrente seiner Ehefrau bis Ende April 2005 befristet war, ist im Übrigen nicht von Belang. Es kann schon aus Gründen der Gleichbehandlung der Versicherten nicht darauf ankommen, ob bereits bei Zusprechung der Rente deren Dauer festgesetzt (vgl. BGE 109 V 125) oder die Aufhebung der Leistung später - in einem separaten Revisionsverfahren - verfügt wird. Nach dem Wegfall der Invalidenrente der Ehefrau Ende April 2005 war der Anspruch auf Zusatzrente grundsätzlich neu zu prüfen und gestützt auf das geänderte Recht zu verneinen (BGE 131 V 107 E. 1 S. 108 mit Hinweisen). Soweit dieses Ergebnis sachlich unbefriedigend ist, liegt allenfalls eine unechte Gesetzeslücke vor, deren Korrektur den rechtsanwendenden Organen grundsätzlich nicht oder nur unter strengen - hier nicht gegebenen - Voraussetzungen erlaubt ist (BGE 127 V 38 E. 4b/cc S. 41 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 118 V 1 E. 3 S. 4).
4.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eine Verletzung der Aufklärungspflicht nach Art. 27 ATSG gerügt. Die IV-Stelle habe es unterlassen, auf die Folgen der Rentenzusprechung an die Ehefrau aufmerksam zu machen. Bei Kenntnis der Fakten hätten die Ehegatten das IV-Gesuch zurückgezogen oder auf die Ausrichtung einer temporären Rente verzichtet.
4.1 Nach Art. 27 Abs. 2 ATSG hat jede Person Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Sinn und Zweck der Beratungspflicht ist, die betreffende Person in die Lage zu versetzen, sich so zu verhalten, dass eine den gesetzgeberischen Zielen des jeweiligen Erlasses entsprechende Rechtsfolge eintritt (BGE 131 V 472 E. 4.3 S. 478; Ulrich Meyer, Grundlagen, Begriff und Grenzen der Beratungspflicht der Sozialversicherungsträger nach Art. 27 Abs. 2 ATSG, in: René Schaffhauser/Franz Schlauri [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2006, S. 9 ff., insbes. S. 14 u. 25).
4.2 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers war die IV-Stelle zur geltend gemachten Beratung nicht verpflichtet. Zwar kann die versicherte Person grundsätzlich selbst nach erfolgter Anmeldung auf einen Leistungsanspruch verzichten (Art. 23 Abs. 1 ATSG). Voraussetzung ist indessen, dass dem Verzicht keine schutzwürdigen Interessen Dritter entgegenstehen und damit keine Umgehung gesetzlicher Vorschriften bezweckt wird (Art. 23 Abs. 2 ATSG). Eine Umgehung gesetzlicher Vorschriften liegt nach der Rechtsprechung beispielsweise vor, wenn durch den Verzicht auf die eigene Altersrente die Weiterausrichtung der (betragsmässig höheren) Zusatzrente des Ehegatten erwirkt werden soll (SVR 2006 AHV Nr. 2 [H 234/04]; vgl. auch BGE 129 V 1; Ueli Kieser, Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], in: SBVR/Soziale Sicherheit, 2. Aufl., S. 256). Als unzulässig hätte auch der im vorliegenden Fall in Betracht gezogene Verzicht auf den eigenen Rentenanspruch der Ehefrau im Hinblick auf den Weiterbezug der Zusatzrente zu gelten, dies insbesondere mit Blick auf die vom Gesetzgeber beabsichtigte prinzipielle Abschaffung der Zusatzrenten für Ehegatten und das damit verfolgte Ziel, einen Beitrag zur finanziellen Konsolidierung des Sozialwerks zu leisten.
Der angefochtene Entscheid ist somit rechtens.
5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 zweiter Satz OG in der seit 1. Juli 2006 geltenden Fassung). Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss in dieser Höhe verrechnet.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes, Basel, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 20. April 2007
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: