BGer I 307/2006
 
BGer I 307/2006 vom 22.01.2007
Tribunale federale
{T 7}
I 307/06
Urteil vom 22. Januar 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Widmer und Leuzinger,
Gerichtsschreiber Hadorn.
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
H.________, 1995, Beschwerdegegner,
vertreten durch seine Mutter S.________,
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 24. Februar 2006.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 18. Januar 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich ein Gesuch des H.________ (geb. am 23. November 1995) um medizinische Massnahmen zur Behandlung eines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS) ab. Daran hielt die IV-Stelle mit Einspracheentscheid vom 22. März 2005 fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 24. Februar 2006 gut. Es wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit sie nach Prüfung der weiteren Voraussetzungen über medizinische Massnahmen zur Behandlung des erwähnten Geburtsgebrechens neu verfüge.
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
H.________, vertreten durch seine Mutter, schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die IV-Stelle hingegen auf deren Gutheissung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V [ 618/06] Erw. 1.2).
2.
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Gericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach Art. 132 Abs. 1 OG.
3.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Vorschriften zum Anspruch auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 ATSG; Art. 1 ff. GgV), insbesondere bei angeborenem POS (Ziff. 404 GgV Anhang), sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
4.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung eines angeborenen POS.
4.1 In seiner Rechtsprechung (BGE 122 V 113 und zahlreiche seitherige Urteile) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass Ziff. 404 GgV-Anhang gesetzmässig ist. Demnach sind die rechtzeitig vor Vollendung des 9. Altersjahres erhobene Diagnose und der vor demselben Zeitpunkt liegende Behandlungsbeginn Anspruchsvoraussetzungen für medizinische Massnahmen gemäss der erwähnten Ziffer. Auf diese beiden Voraussetzungen kann nicht verzichtet werden. Sie beruhen auf der empirischen Erfahrung, dass ein erst später diagnostiziertes und behandeltes Leiden nicht mehr auf einem angeborenen, sondern einem erworbenen POS beruht, welches nicht von der Invaliden-, sondern von der Krankenversicherung zu übernehmen ist. Erfolgen Diagnose und Behandlungsbeginn erst nach dem vollendeten 9. Altersjahr, besteht die unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass ein erworbenes und kein angeborenes POS vorliegt. Damit entfällt auch der nachträgliche Beweis, dass die Möglichkeit der Diagnosestellung vor Vollendung des 9. Altersjahres bestanden habe. Selbst wenn es, objektiv betrachtet, an sich möglich gewesen wäre, rechtzeitig eine Diagnose zu stellen, dies aber im konkreten Einzelfall - aus welchen Gründen auch immer - nicht geschah, hat die IV unter Ziff. 404 GgV Anhang keine medizinischen Massnahmen zu übernehmen (Urteile A. vom 13. Januar 2003, I 362/02, G. vom 5. September 2001, I 554/00, und S. vom 31. August 2001, I 558/00).
4.2 Das POS ist ein komplexes Leiden. Damit die Voraussetzungen für dessen Diagnose erfüllt sind, müssen kumulativ eine Reihe von Symptomen nachgewiesen sein (BGE 122 V 117 Erw. 2f; Rz 404.5 des Kreisschreibens des BSV über medizinische Eingliederungsmassnahmen [KSME]): Störungen des Verhaltens im Sinne krankhafter Beeinträchtigungen der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive, kognitive oder Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrations- sowie der Merkfähigkeit. Bei allen diesen Symptomen handelt es sich um nicht leicht fass- und messbare Elemente. Obwohl sie zu einem Geburtsgebrechen gehören können, treten sie nicht schon bei Säuglingen, sondern erst in den nachfolgenden Lebensjahren in unterschiedlicher Schwere und zu unterschiedlichen Zeitspannen auf. In vielen Fällen, in welchen schlussendlich ein POS diagnostiziert wird, sind anfänglich nur einzelne der genannten Symptome augenfällig und führen bereits zu Behandlungen, welche mangels ausdrücklicher POS-Diagnose von der Krankenkasse oder gegebenenfalls von der IV, jedoch nicht unter Ziff. 404 GgV Anhang, übernommen werden (Urteil A. vom 19. August 2004, I 508/03).
5.
5.1 Das Bundesamt macht in erster Linie geltend, es liege lediglich ein Symptomenkomplex vor, welcher auf einen Grossteil der Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend gemäss ICD-10 F 90-98 zutreffe. Zu einem POS gehöre aber ein hirnorganischer Schaden als Ursache für die psychischen Störungen. Ein solcher sei nicht ausgewiesen. Gemäss heutigen medizinischen Erkenntnissen resultiere ein POS in der Regel als Folge einer schwerwiegenden Erkrankung während der Schwangerschaft oder einer Komplikation bei der Geburt. Dadurch könne die Diagnose einer hirnorganischen Störung meist relativ rasch, nämlich bereits intrauterin oder kurz nach der Geburt, gestellt werden. Nur wenn ein kongenitaler hirnorganischer Schaden nachgewiesen sei, könne die Diagnose eines POS im Sinne der Ziff. 404 GgV Anhang gestellt werden. Es sei daher an Hand von präpartalen Untersuchungsbefunden, Geburtsprotokollen oder kinderärztlicher Untersuchungen in den ersten Tagen nach der Geburt zu prüfen, ob die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer bei Geburt bestehenden Hirnschädigung vorliege. Bei komplikationsloser Schwangerschaft, problemloser Geburt und unauffälligen kinderärztlichen Untersuchungsbefunden könne eine kongenitale hirnorganische Schädigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.
5.2 Nach der vom BSV selbst formulierten Rz 404.5 KSME können die Voraussetzungen von GgV 404 als erfüllt gelten, wenn die darin genannten Symptome vorliegen. Der Nachweis eines hirnorganischen Schadens auf Grund der bei der Geburt erstellten medizinischen Unterlagen wird in dieser Rz nicht gefordert. In der bisherigen Rechtsprechung war ebenfalls noch nie die Rede davon, dass medizinische Akten aus der Zeit der Geburt beigezogen und an Hand derselben auf das Vorliegen eines hirnorganischen Schadens geschlossen werden müsse. Vielmehr wurde in der Rechtsprechung wiederholt bestätigt, dass das rechtzeitige Vorliegen der Symptome gemäss Rz 404.5 KSME (in Verbindung mit einem rechtzeitigen Behandlungsbeginn) für die Leistungspflicht der Invalidenversicherung bei einem angeborenen POS ausreicht (SVR 2005 IV Nr. 2 S. 8 [Urteil B, vom 3. Mai 2004, I 756/03], Urteil Z. vom 2. Mai 2002, I 373/01). Umgekehrt schaffen fehlende rechtzeitige Diagnose oder fehlender rechtzeitiger Behandlungsbeginn die unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass das POS nicht angeboren ist (BGE 122 V 122f. Erw. 3c/bb). Wenn das BSV nunmehr zur Anerkennung eines POS nach Ziff. 404 GgV Anhang den Nachweis einer hirnorganischen Störung gestützt auf die Unterlagen aus der Zeit der Geburt verlangt, kommt dies einer Verschärfung der bisherigen Beweisanforderungen gleich. Hiezu besteht jedoch kein Anlass. Die vom BSV eingereichten wissenschaftlichen Unterlagen sind nicht geeignet, einer solchen Verschärfung das Wort zu reden. Namentlich findet sich darin keine Aussage in dem Sinne, dass sich mit medizinischen Akten aus der Geburtszeit ein hirnorganischer Schaden leicht nachweisen lasse, wie das BSV behauptet. In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist unter dem Kapitel "2. Störungsspezifische Diagnostik" zu lesen, dass die Bedeutung der Lokalisation von Hirnschädigungen im Kindesalter kontrovers diskutiert werde. Als gesichert könne angesehen werden, dass die klassischen hirnlokalen Ausfälle und Syndrome erst in der Adoleszenz einigermassen sicher diagnostiziert werden könnten. In der Folge werden verschiedene Untersuchungsmethoden beschrieben, darunter auch die Befragung der Eltern oder anderer Bezugspersonen. Ein Schluss von problemloser Geburt auf das Fehlen eines (angeborenen) POS wird jedoch nirgends angedeutet. Gemäss den ebenfalls vom BSV eingereichten Unterlagen ("POS das Psycho-Organische Syndrom" der Website "www.elpos.ch) scheint ausserdem die Vererbung eine grössere Rolle als Ursache eines POS zu spielen als schädigende Einflüsse (z.B. Sauerstoffmangel, Infektionen, Umweltgifte etc.) in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in den ersten Lebensmonaten. Unter solchen Umständen ist nicht dargetan, dass das Vorliegen eines angeborenen POS mit dem Beizug medizinischer Akten über die Geburt zuverlässig erstellt oder ausgeschlossen werden kann.
5.3 Dem Standpunkt des BSV kann aus einem weiteren Grund kein Erfolg beschieden sein. Der Verordnungsgeber lässt es zu, dass ein POS noch während Jahren nach der Geburt erkannt, diagnostiziert, behandelt und zwecks Therapie als Geburtsgebrechen bei der Invalidenversicherung zur Anmeldung gebracht werden kann. Mit der neuen Betrachtungsweise des BSV wird der Rechtssinn von Ziff. 404 GgV Anhang in Frage gestellt. Solange die Verordnung nicht geändert ist, kann eine Beschränkung auf kurze Zeit nach der Geburt manifest gewordene POS, wie es das BSV vertritt, nicht in Frage kommen. Dies wurde im Urteil K. vom 6. Dezember 2006, I 223/06, bestätigt, in welchem das BSV die Gewährung medizinischer Massnahmen zur Behandlung eines angeborenen POS mit im Wesentlichen identischer Begründung angefochten hatte. Demnach hängt der Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang wie bisher einzig davon ab, ob die in Rz 404.5 KSME genannten Symptome vor dem vollendeten 9. Altersjahr nachweisbar waren und mit der Behandlung des Leidens vor diesem Zeitpunkt begonnen wurde.
6.
Die Vorinstanz hat die Akten in umfassender und sorgfältiger Weise gewürdigt und daraus den zutreffenden Schluss gezogen, dass die gesamte Symptomatik gemäss Rz 404.5 KSME vor der Vollendung des 9. Altersjahres rechtsgenüglich nachweisbar war und Diagnosestellung sowie Behandlungsbeginn vor dem vollendeten neunten Altersjahr erfolgt sind. Dem widerspricht auch das BSV nicht, geht es doch auf den Einzelfall in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht ein. Vielmehr begnügt es sich damit, den Nachweis eines hirnorganischen Schadens gestützt auf fehlende medizinische Akten aus der Zeit der Geburt zu bestreiten. Darauf kommt es nach dem Gesagten indessen nicht an. Somit ist der kantonale Entscheid zu bestätigen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und der IV-Stelle des Kantons Zürich zugestellt.
Luzern, 22. Januar 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: