BGer U 71/2005
 
BGer U 71/2005 vom 09.08.2006
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
U 71/05
Urteil vom 9. August 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Berger Götz
Parteien
V.________, 1944, Beschwerdeführerin,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 29. Dezember 2004)
Sachverhalt:
A.
Die 1944 geborene V.________ war seit 16. Oktober 1983 teilzeitlich als Fachlehrkraft an der Berufs- und Frauenfachschule Q.________ (nachfolgend: BFS), tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am 27. Mai 2002 meldete die damalige Arbeitgeberin, V.________ sei während ihres Aufenthaltes vom 20. Februar 2001 im Schulzimmer 104 der BFS durch Neonröhren bestrahlt worden. Ab 1. Februar 2002 habe sie zufolge dieses Ereignisses mit der Arbeit ausgesetzt. Gemäss Bericht des Dr. med. B.________, Allgemeinmedizin/Ganzheitliche Medizin, Klinik X.________, vom 21. Juni 2002 ist es unmittelbar nach der Konferenzteilnahme in der Schulaula der BFS vom 20. Februar 2001 - infolge einer exogen induzierten Elektrosensibilität - zu dramatischem Haarausfall (traumatische passagere Alopecia totalis capitis) gekommen; ausserdem klage die Patientin seitdem über diverse vegetativ geprägte Allgemeinsymptome (unter anderem Konzentrationsstörungen, Denkblockaden, schlechte Merkfähigkeit, Stimmungsschwankungen, trockene Nase, Bluthochdruck, allgemeine Schwäche, innere Gehetztheit, Antriebslosigkeit). Die SUVA klärte ihre Leistungspflicht ab, zog zu diesem Zweck die Berichte der behandelnden medizinischen Fachpersonen bei, liess am 20. Januar 2003 von der SUVA-Abteilung Arbeitssicherheit, Bereich Physik, die Strahlenbelastung am ehemaligen Arbeitsplatz der Versicherten messen (Bericht vom 24. Januar 2003) und holte bei PD Dr. med. T.________, Leitender Arzt der Dermatologischen Klinik des Spitals Y.________, ein Gutachten ein, welches am 13. Oktober 2003 erstattet wurde. Mit Verfügung vom 11. Dezember 2003 verneinte sie den Anspruch auf Versicherungsleistungen. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 17. März 2004).
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 29. Dezember 2004).
C.
V.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es seien "weitere medizinische und wissenschaftliche Berichte von tatsächlich unabhängigen Fachleuten einzuholen und Abklärungen zu tätigen"; eventualiter seien ihr "Leistungen aus der Unfallversicherung, Lohnausfall bis zum Pensionierungsalter, Entschädigungsleistungen für die Expertise und die enorm grosse Recherchierarbeit (...) sowie eine Integritätsentschädigung zuzusprechen". Der Beschwerdeschrift liegen verschiedene Unterlagen zum Thema "Elektrosmog" sowie eine Rechnung des Enzym-Labors Z.________ AG vom 4. Mai 2001 über eine Blutanalyse bei.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung verzichtet.
D.
Mit Eingaben vom 18. und 26. Februar 2005 hat V.________ zusätzliche themenbezogene Informationsbroschüren und Abhandlungen zu den Akten gereicht.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach Art. 6 Abs. 1 UVG werden Versicherungsleistungen, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, bei Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten gewährt.
2.
Den Angaben der Beschwerdeführerin zufolge war sie am 20. Februar 2001 während einer Semester-Abteilungssitzung in der Aula der BFS (Raum 107) von 11.00 Uhr bis 13.00 Uhr Elektrosmog, hervorgerufen durch eine Swisscom-Aussenantenne, ausgesetzt. Anschliessend hat sie sich mit drei Arbeitskolleginnen zur weiteren Besprechung in den Raum 104 begeben. Dort nahm sie unter den an der Decke montierten Leuchtstoffröhren Platz, deren Raster an diesem Tag ausnahmsweise entfernt waren. Elektrosmog sei von der Antenne, von den kleinen Halogenleuchten auf den Tischen im Raum 104 und insbesondere von den Transformern, welche am metallenen Tischgestell montiert seien, ausgegangen.
3.
Streitig und zu prüfen ist zunächst, ob das Geschehnis vom 20. Februar 2001 die Merkmale der Ungewöhnlichkeit und der Plötzlichkeit erfüllt und mithin ein Unfall im Rechtssinne vorliegt.
3.1 Das kantonale Gericht hat die Rechtsgrundlagen bezüglich des Unfallbegriffs zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass sich der mangelhafte Nachweis eines die Merkmale des Unfalles erfüllenden Ereignisses nur selten durch medizinische Feststellungen ersetzen lässt. Diesen kommt im Rahmen der Beweiswürdigung für oder gegen das Vorliegen eines unfallmässigen Geschehens in der Regel nur die Bedeutung von Indizien zu (RKUV 2003 Nr. U 485 S. 260 Erw. 5 [Urteil G. vom 22. April 2003, U 307/01 und U 308/01], 1990 Nr. U 86 S. 51 Erw. 2).
3.2 Im angefochtenen Entscheid wird richtig ausgeführt, dass die Versicherte vorliegend den äusseren, allenfalls schädigenden Faktoren (Elektrosmog) während längerer Zeit ausgesetzt war und diese nicht plötzlich auf sie einwirkten. Mit dem Erfordernis der Plötzlichkeit ist rechtsprechungsgemäss zwar nicht notwendig verbunden, dass die schädigende Einwirkung auf einen blossen Augenblick beschränkt sei, wohl aber muss sie plötzlich eingesetzt haben und eine einmalige gewesen sein (EVGE 1943 S. 69; Urteil M. vom 1. Dezember 2005, U 245/05, Erw. 1.1). Da unter den gegebenen Umständen somit bereits das Element der Plötzlichkeit fehlt, ist das Vorliegen eines Unfallereignisses zu verneinen. Die abweichende Meinung des Dr. med. B.________, welcher in seinem Bericht vom 21. Juni 2002 von einer traumatischen Alopezie ausgeht, vermag daran nichts zu ändern (vgl. Erw. 3.1 hiervor). Bei dieser Sachlage kann mit der Vorinstanz offen gelassen werden, ob die übrigen Voraussetzungen für die Annahme eines Unfalles im Rechtssinne erfüllt sind.
4.
Als Anspruchsgrundlage zu prüfen ist weiter das Vorliegen einer Berufskrankheit gemäss Art. 9 UVG.
4.1 In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 130 V 447 Erw. 1.2.1, 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1 und 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Weil sich der als Anspruchsgrundlage angerufene Sachverhalt vor dem 1. Januar 2003 verwirklicht hat, finden die auf diesen Zeitpunkt in Kraft getretenen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und der dazugehörigen Verordnung vom 11. September 2002 (ATSV), einschliesslich der damit verbundenen Änderungen des UVG, keine Anwendung. Daran vermag der Umstand, dass der Einspracheentscheid nach dem 31. Dezember 2002 erlassen worden ist, nichts zu ändern.
4.2 Als Berufskrankheiten gelten nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 UVG Krankheiten, die bei der beruflichen Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten verursacht worden sind. Laut dem vom Bundesrat gestützt auf die ihm in Art. 9 Abs. 1 Satz 2 UVG und Art. 14 UVV eingeräumte Befugnis erlassenen Anhang 1 zur UVV gelten als arbeitsbedingte Erkrankungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVG unter anderem solche durch ionisierende und nicht ionisierende Strahlen (Ziff. 2 lit. a Anhang 1 zur UVV). Soweit nichts anderes bestimmt ist, sind Berufskrankheiten gemäss Art. 9 Abs. 3 Satz 1 UVG von ihrem Ausbruch an einem Berufsunfall gleichgestellt.
Nach der Rechtsprechung ist eine "vorwiegende" Verursachung von Krankheiten durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten nur dann gegeben, wenn diese mehr wiegen als alle andern mitbeteiligten Ursachen, mithin im gesamten Ursachenspektrum mehr als 50 % ausmachen. "Ausschliessliche" Verursachung hingegen meint praktisch 100 % des ursächlichen Anteils schädigender Stoffe oder bestimmter Arbeiten an der Berufskrankheit (BGE 119 V 200 Erw. 2a mit Hinweis). Ob dies im Einzelfall so ist, muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dargetan sein (BGE 114 V 111 Erw. 3c; RKUV 2006 Nr. U 578 S. 174 Erw. 3.2 [Urteil M. vom 1. Dezember 2005, U 245/05]). Die Verschlimmerung einer vorbestandenen Krankheit durch berufliche Arbeiten wird der Verursachung einer Krankheit gleichgestellt (BGE 117 V 356 Erw. 4c, 108 V 160 f. Erw. 1).
4.2.1 Wie das kantonale Gericht zu Recht schliesst, scheitert im vorliegenden Fall der entsprechende Nachweis einer ausschliesslichen oder vorwiegenden Verursachung der Alopezie und der diversen unspezifischen Begleiterscheinungen durch Elektrosmog. Denn einerseits legt PD Dr. med. T.________ in seinem Gutachten vom 13. Oktober 2003 schlüssig und nachvollziehbar dar, dass die Glatzenbildung weder auf den Einfluss elektromagnetischer Felder noch auf eine anderweitige exogene Ursache zurückgeführt werden kann. Anderseits haben auch die Resultate der von der SUVA veranlassten physikalischen (Bericht vom 24. Januar 2003) und der im Auftrag der Beschwerdeführerin am 1. Februar 2002 durchgeführten elektrobiologischen Messungen am Arbeitsplatz (Bericht R.________ AG vom 15. April 2002) die Schädlichkeit der elektromagnetischen Felder nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegen können.
4.2.2 Zusätzliche Beweismassnahmen, insbesondere die beantragte Einholung weiterer medizinischer und wissenschaftlicher Berichte, erübrigen sich, da der Sachverhalt hinreichend geklärt ist und ergänzende Untersuchungen nichts am fehlenden Nachweis einer mehr als 50%igen beruflichen Einwirkung zu ändern vermögen (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 124 V 94 Erw. 4b; RKUV 2003 Nr. U 473 S. 50 Erw. 3.4 [Urteil R. vom 6. November 2002, U 131/02]). Eine Listenkrankheit nach Art. 9 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Anhang 1 zur UVV fällt somit ausser Betracht. Bei diesem Ergebnis sind Ausführungen zur Frage, wem die Kosten für allfällige weitere Expertisen aufzuerlegen wären, obsolet.
4.3 Die Voraussetzung des ausschliesslichen oder stark überwiegenden Zusammenhanges gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG ist nach ständiger Rechtsprechung erfüllt, wenn die Berufskrankheit mindestens zu 75 % durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden ist. Die Anerkennung von Beschwerden im Rahmen dieser von der Gerichtspraxis als "Generalklausel" bezeichneten Anspruchsgrundlage ist - entsprechend der in BGE 114 V 111 Erw. 3c auf Grund der Materialien eingehend dargelegten legislatorischen Absicht, die Grenze zwischen krankenversicherungsrechtlicher Krankheit und unfallversicherungsrechtlicher Berufskrankheit nicht zu verwässern - an relativ strenge Beweisanforderungen gebunden. Verlangt wird, dass die versicherte Person für eine gewisse Dauer einem typischen Berufsrisiko ausgesetzt ist (zum Ganzen: BGE 126 V 186 Erw. 2b mit Hinweis).
4.3.1 Im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 UVG ist grundsätzlich in jedem Einzelfall darüber Beweis zu führen, ob die geforderte stark überwiegende (mehr als 75%ige) bis ausschliessliche berufliche Verursachung vorliegt (BGE 126 V 189 Erw. 4b am Ende). Angesichts des empirischen Charakters der medizinischen Wissenschaft (BGE 126 V 189 Erw. 4c am Anfang) spielt es indessen für den Beweis im Einzelfall eine entscheidende Rolle, ob und inwieweit die Medizin, je nach ihrem Wissensstand in der fraglichen Disziplin, über die Genese einer Krankheit im Allgemeinen Auskunft zu geben oder (noch) nicht zu geben vermag. Wenn auf Grund medizinischer Forschungsergebnisse ein Erfahrungswert dafür besteht, dass eine berufsbedingte Entstehung eines bestimmten Leidens von seiner Natur her nicht nachgewiesen werden kann, dann schliesst dies den (positiven) Beweis auf qualifizierte Ursächlichkeit im Einzelfall aus. Oder mit andern Worten: Sofern der Nachweis eines qualifizierten (zumindest stark überwiegenden [Anteil von mindestens 75 %]) Kausalzusammenhanges nach der medizinischen Empirie allgemein nicht geleistet werden kann (z.B. wegen der weiten Verbreitung einer Krankheit in der Gesamtbevölkerung, welche es ausschliesst, dass eine eine bestimmte versicherte Berufstätigkeit ausübende Person zumindest vier Mal häufiger von einem Leiden betroffen ist als die Bevölkerung im Durchschnitt), scheidet die Anerkennung im Einzelfall aus. Sind anderseits die allgemeinen medizinischen Erkenntnisse mit dem gesetzlichen Erfordernis einer stark überwiegenden (bis ausschliesslichen) Verursachung des Leidens durch eine (bestimmte) berufliche Tätigkeit vereinbar, besteht Raum für nähere Abklärungen zwecks Nachweises des qualifizierten Kausalzusammenhanges im Einzelfall (BGE 126 V 189 Erw. 4c mit Hinweisen).
4.3.2 Da vorliegend die Kausalität der geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen bereits im Einzelfall (mehr als 50 %) verneint werden muss, kann auf die nähere Prüfung der allgemeinen Kausalität (mehr als 75 %) verzichtet werden. Die versicherte Person muss zudem während einer gewissen Dauer einem für ihren Beruf typischen oder damit verbundenen Risiko ausgesetzt gewesen sein. Ein einmaliges Ereignis, durch welches die Gesundheitsschädigung ausgelöst wird, genügt nicht (BGE 126 V 186 Erw. 2b, 116 V 144 Erw. 5d). Wird eine gesundheitliche Schädigung im Rahmen der beruflichen Arbeit durch ein einmaliges Geschehen ausgelöst, ist die berufliche Tätigkeit nur Anlass und nicht Ursache des Leidens. Somit ergibt sich auf Grund der vorliegenden Umstände auch unter dem Titel der Berufskrankheit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVG keine Leistungspflicht der Unfallversicherung.
5.
Die nach Ablauf der Beschwerdefrist und ohne zweiten Schriftenwechsel - welchen anzuordnen keine Veranlassung besteht (Art. 110 Abs. 4 OG; BGE 119 V 323 Erw. 1 mit Hinweisen, Urteil G. vom 13. August 2003, I 204/02) - aufgelegten neuen Beweismittel vermögen am Umstand des fehlenden Nachweises eines qualifizierten Kausalzusammenhanges zwischen den elektromagnetischen Strahlungen und dem Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin nichts zu ändern, weshalb offen bleiben kann, ob sie in prozessual zulässiger Weise eingereicht wurden (BGE 127 V 357 Erw. 4).
6.
Weil es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben.
Ein Anspruch der weder anwaltlich noch sonst wie qualifiziert vertretenen Beschwerdeführerin auf eine letztinstanzlich sinngemäss beantragte Umtriebsentschädigung (Entschädigung für die "enorm grosse Recherchierarbeit") entfällt bereits mangels Obsiegens (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG; vgl. auch BGE 110 V 82).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 9. August 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: