BGer I 2/2006
 
BGer I 2/2006 vom 23.05.2006
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
I 2/06
Urteil vom 23. Mai 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Schön; Gerichtsschreiber Traub
Parteien
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
P.________, 1963, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Eric Schuler, Frankenstrasse 3, 6003 Luzern
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
(Entscheid vom 23. November 2005)
Sachverhalt:
A.
Die 1963 geborene P.________ war seit Juli 1992 als Pflegemitarbeiterin im Betagtenzentrum D.________ erwerbstätig. Am 29. August 2003 meldete sie sich mit Hinweis auf Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Luzern nahm medizinische und erwerbliche Abklärungen vor und kam zum Schluss, es bestehe ein nicht rentenbegründender Invaliditätsgrad von 27 Prozent (mit Einspracheentscheid vom 10. Januar 2005 bestätigte Verfügung vom 15. November 2004).
B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hob den Einspracheentscheid auf Beschwerde hin auf und wies die Sache an die IV-Stelle zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung zurück (Entscheid vom 23. November 2005).
C.
Die IV-Stelle Luzern führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei in Bestätigung des Einspracheentscheids festzustellen, dass kein Anspruch auf eine Invalidenrente bestehe.
P.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf Vernehmlassung.
D.
Die beschwerdeführende IV-Stelle äussert sich nach Abschluss des Schriftenwechsels zur Vernehmlassung der Versicherten und zur bei dieser Gelegenheit in das Verfahren eingebrachten medizinischen Dokumentation der gesundheitlichen Entwicklung nach Erlass des Einspracheentscheids. Diese zusätzliche Stellungnahme wurde der Beschwerdegegnerin zur Kenntnis zugestellt.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig ist zunächst die Frage, ob die Verwaltung über ausreichend aussagekräftige medizinische Grundlagen verfügte, um in der Sache zu entscheiden.
1.1 Die Beschwerdegegnerin leidet an Lumbalgien und Nackenschmerzen. Der Allgemeinmediziner Dr. S.________ attestierte ihr eine Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent ab dem 1. Juli 2003 und eine solche von 100 Prozent ab dem 22. September 2003 (Bericht vom 8. Oktober 2003). Der Neurologe Dr. C.________ fand bei einer Untersuchung vom 20. Oktober 2003 keinen Nachweis für eine neurologische Affektion, diagnostizierte ein "Schulter-/Armsyndrom links unklarer Ätiologie" und regte die Einholung eines rheumatologischen Konsiliums sowie eines polydisziplinären Gutachtens an (Berichte vom 27. Oktober 2003 und 4. Januar 2004). Der Neurochirurg Dr. H.________ beschrieb am 3. Februar 2004 eine Schmerzexazerbation im Rahmen eines chronifizierten Lumbovertebralsyndroms, verursacht im Einzelnen durch eine Diskusprotrusion (L 4/5) und einen kleineren Bandscheibenvorfall (L5/S1) sowie durch Spondylarthrosen (L3/4, L4/5 und L5/S1). Am 10. Februar 2004 meldete Dr. S.________ der Invalidenversicherung, seine Patientin habe ab dem 3. November 2003 einen Arbeitsversuch mit halbem Pensum unternommen, sei aber seit dem 27. Januar 2004 wiederum zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Es erfolge eine intensive Physiotherapie. Dr. H.________ berichtete am 15. Juni 2004 von einer leichtgradigen Schmerzreduktion. Die Wiederaufnahme der bisherigen pflegerischen Tätigkeit mit ihrer starken körperlichen Beanspruchung falle ausser Betracht; eine leichte, leidensangepasste Tätigkeit sei hingegen grundsätzlich zumutbar. Die Ausübung einer angepassten Tätigkeit setze einen stufenweisen Arbeitsaufbau voraus. Langfristig sei von einer vollumfänglichen Arbeitsfähigkeit auszugehen. Gerade weil es immer wieder zu intermittierenden Schmerzschüben kommen werde, sei es wichtig, die Patientin wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren.
1.2 Das kantonale Gericht verpflichtet die Verwaltung zur Einholung eines rheumatologischen Gutachtens. Es begründet die Rückweisung damit, den medizinischen Akten lasse sich nicht entnehmen, dass der Beschwerdegegnerin eine angepasste Tätigkeit vollumfänglich zumutbar sei. Die Entscheidungsgrundlagen sind indes nicht lückenhaft. Die vorzitierten Ausführungen des Neurochirurgen Dr. H.________ vom 15. Juni 2004, wonach eine leichte, leidensangepasste Tätigkeit nach einem "stufenweisen Arbeitsaufbau" zumutbar sei, sind ausreichend klar, um Bestand und Umfang der Arbeitsfähigkeit beurteilen zu können. Daran ändert der Umstand nichts, dass der Neurologe Dr. C.________ ergänzende Erhebungen in rheumatologischer Hinsicht und eine interdisziplinäre Begutachtung für erforderlich hielt. Denn diese Anregung erfolgte im Kontext der eigenen Untersuchung, die sich auf den Bereich von Halswirbelsäule, Schulter und Arm beschränkte. Dass die Verwaltung dieser Problematik nicht weiter nachging, erscheint vertretbar, nachdem das Schulter-/Armsyndrom in der ausführlichen Wiedergabe der Beschwerden durch Dr. H.________ (Bericht vom 15. Juni 2004) gar nicht mehr erwähnt wird. Es darf deshalb angenommen werden, dass die Einschränkungen im Bereich der Halswirbelsäule gegenüber den beeinträchtigenden Auswirkungen des chronifizierten Lumbovertebralsyndroms in den Hintergrund getreten sind und jedenfalls keinen eigenständigen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit mehr zeitigten.
Im Weiteren steht die Beurteilung des Dr. H.________ in keinem Widerspruch zur Einschätzung des behandelnden Arztes Dr. S.________. Im Formularbericht vom 10. Februar 2004 verweist Dr. Saner auf den Versuch der Beschwerdegegnerin, ab November 2003 halbtags zu arbeiten. Wenn er in diesem Kontext von einer ab Ende Januar 2004 bestehenden vollumfänglichen Arbeitsunfähigkeit spricht, so kann damit nur eine Einschränkung im bisher ausgeübten Beruf - und nicht in einer leidensangepassten Tätigkeit - gemeint sein. Auch widerspricht dessen Einschätzung vom 22. Dezember 2004, es bestehe selbst in einer behinderungsangepassten Tätigkeit vollständige Arbeitsunfähigkeit, insofern der Beurteilung des Dr. H.________ nicht, als gemäss letzterem die Umsetzung der medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit einen "stufenweisen Arbeitsaufbau" bedingt, bis "langfristig" von einer vollumfänglichen Arbeitsfähigkeit auszugehen sein werde. Diesem Wortlaut kann bei isolierter Betrachtung zwar nicht entnommen werden, ob damit einzig eine schrittweise Anhebung des Arbeitspensums gemeint ist oder ob (auch) eine weiterreichende Wiederangewöhnung an die Erwerbstätigkeit erforderlich sein soll. Zeigt sich indes nach Lage der Akten, dass die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit augenscheinlich von bestimmten weiteren Massnahmen abhängig ist (Erw. 2 hienach), so ist auch die jüngste Beurteilung des Dr. S.________ (vollständige Arbeitsunfähigkeit) mit derjenigen von Dr. H.________, welche solche Eingliederungsschritte vorwegnimmt, vereinbar. Was schliesslich die Bedeutung und allfällige Abklärungsbedürftigkeit der im Zeugnis des Dr. S.________ vom 22. Dezember 2004 neu erwähnten psychischen Komponente angeht, so werden darüber bei der Vorbereitung und Durchführung der - wie noch zu zeigen sein wird - ohne weiteres erforderlichen bzw. näher zu prüfenden Eingliederungsmassnahmen weitere Erkenntnisse zu gewinnen sein.
1.3 Nach Stand der Dinge im Zeitpunkt des Einspracheentscheids (Januar 2005) waren weitere medizinische Abklärungen entbehrlich, da eine hinreichend klare Aktenlage herrschte. Der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid hält in diesem Punkt nicht stand. Der Umstand, dass sich der gesundheitliche Zustand nach dem hier massgebenden Zeitraum derart entwickelte, dass ein operativer Eingriff nötig wurde, dass also die Eingliederungsfähigkeit vorläufig noch nicht gegeben war (vgl. dazu Erw. 3 hienach), ändert nichts an diesem Ergebnis; es ist dadurch kein grundsätzlich anderer Gesundheitszustand ausgewiesen, aufgrund dessen die Frage der aus medizinischer Sicht bestehenden beruflichen Perspektiven nachträglich abweichend bewertet werden müsste.
2.
2.1 Zum Anfechtungsgegenstand gehören nicht nur diejenigen Rechtsverhältnisse, über welche die Verwaltung tatsächlich eine Anordnung getroffen hat. Vielmehr bilden auch jene Rechtsverhältnisse Teil des Verfahrensgegenstandes, hinsichtlich deren es die Verwaltung zu Unrecht - in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes sowie des Prinzips der Rechtsanwendung von Amtes wegen - unterlassen hat zu befinden, obwohl dazu nach der Aktenlage oder den Parteivorbringen hinreichender Anlass bestanden hätte (vgl. Urteil B. vom 18. August 2003, I 848/02, Erw. 3.2 mit Hinweisen).
2.2 Dem kantonalen Gericht ist darin beizupflichten, dass der Anspruch auf berufliche Massnahmen geprüft werden muss. Die Beurteilungen des Dr. H.________ und des Hausarztes Dr. S.________ lassen - jedenfalls im Gesamtzusammenhang - erkennen, dass die grundsätzlich zumutbaren leichteren Tätigkeiten der Versicherten nicht voraussetzungslos offenstehen und dass ein "stufenweiser Arbeitsaufbau" vor einer "langfristig" zu erreichenden hundertprozentigen Arbeitsfähigkeit nicht allein im Sinne eines schrittweisen Ausbaus des zeitlichen Pensums verstanden werden darf. Der eingetretene Gesundheitsschaden (Lumbovertebralsyndrom mit Diskusprotrusion und Bandscheibenvorfall) ist seiner Natur nach - namentlich bei einer versicherten Person, die bisher körperlich belastende Tätigkeiten verrichtet hat - geeignet, das Vertrauen in die eigene physische Belastbarkeit erheblich zu beeinträchtigen. Das Verlaufsprotokoll der IV-Stelle dokumentiert denn auch, dass die Beschwerdegegnerin offenkundig nicht in der Lage ist, das ihr gegebene Leistungsvermögen richtig zu erfassen. Bei dem als dominant erlebten Gesundheitsschaden bedarf es der Eingliederungsmassnahmen, etwa in Form eines Arbeitstrainings, damit die trotz der gesundheitlichen Einschränkungen prinzipiell verfügbaren Betätigungsmöglichkeiten auch mit zumutbarer Willensanstrengung umsetzbar werden. Die Verwaltung wollte zunächst entsprechende Schritte unternehmen, wie sich aus dem Verlaufsprotokoll der IV-Stelle ergibt. Der IV-interne Regionale Ärztliche Dienst hielt mit Eintrag vom 1. Juli 2004 fest, es könne die Arbeitsvermittlung "eingeschaltet werden mit Arbeitsaufbau und dem Ziel einer angepassten körperlich-leichten Tätigkeit zu 100 %". Die Notwendigkeit eines eigentlichen Arbeitstrainings bestätigte sich, indem die mit der Arbeitsvermittlung betraute Stelle am 21. September 2004 ihrerseits zum Schluss kam, die Versicherte fühle sich aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht in der Lage zu arbeiten. Unter diesen Umständen genügte es nicht, der Beschwerdegegnerin Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche anzubieten (Mitteilungen vom 19. November 2003 und 8. Juli 2004) und die Arbeitsvermittlung im Einverständnis mit der Versicherten ohne weitere Abklärungen abzuschliessen (Verfügung vom 7. Oktober 2004). Die Sache ist an die Verwaltung zurückzuweisen, damit sie das im Sinne des Gesagten Notwendige veranlasse.
2.3 Wie schon die Vorinstanz angemerkt hat, kommt neben dem Arbeitstraining (bzw. an dessen Stelle) allenfalls auch eine Umschulung in Betracht. Diesbezüglich wird vorausgesetzt, dass die versicherte Person objektiv und subjektiv eingliederungsfähig ist; massgebend sind die medizinischen und erwerblichen Rahmenbedingungen (Gesundheitszustand, Leistungsvermögen, Bildungsfähigkeit, Motivation usw.; AHI 1997 S. 172 Erw. 3a; ZAK 1963 S. 37 Erw. 2; Urteil B. vom 19. März 2002, I 529/01). Weiter muss die Umschulung eingliederungswirksam sein (vgl. BGE 122 V 214 Erw. 2c in Verbindung mit 79 f. Erw. 3b/bb und cc, 108 V 213 Erw. 1d, 107 V 88 Erw. 2). Eingliederungswirksamkeit ist nicht erst dann gegeben, wenn die Vorkehr den für den Rentenanspruch massgebenden Invaliditätsgrad bzw. das Ausmass des Rentenanspruchs beeinflusst (BGE 108 V 213 Erw. 1d). Die IV-Stelle wird diese Anspruchsvoraussetzungen noch zu klären haben.
2.4 Die Entwicklung des Gesundheitszustandes nach Erlass des Einspracheentscheids macht die nachträgliche Prüfung und gegebenenfalls Anordnung der bereits im Jahr 2004 angezeigten beruflichen Massnahmen nicht hinfällig. Die ab Februar 2005 ausgewiesene Arbeitsunfähigkeit (vgl. den Bericht des Dr. H.________ vom 2. März 2005) ist im Zusammenhang mit der Rekonvaleszenz und Rehabilitation nach einem operativen Eingriff zu sehen (vgl. Erw. 3 hienach) und lässt keine Schlüsse zu im Hinblick auf das voraussichtlich bleibende, aber durch entsprechende Massnahmen zu realisierende Leistungspotential der Beschwerdegegnerin.
3.
Solange eine versicherte Person nicht eingliederungsfähig ist, kann eine - befristete - Invalidenrente in Betracht gezogen werden, obgleich für einen späteren Zeitpunkt Eingliederungsmassnahmen zu prüfen sein werden (BGE 121 V 193 Erw. 4c; Urteil K. vom 8. Juli 2005, I 177/05, Erw. 4).
Dem weiteren Verlauf der gesundheitlichen Entwicklung nach zu schliessen und entgegen dem ursprünglichen Anschein war die Beschwerdegegnerin zur Zeit des strittigen Einspracheentscheids noch nicht definitiv eingliederungsfähig; unmittelbar danach erwies sich ein operativer Eingriff als erforderlich, um den belastungsabhängig auftretenden Episoden von akuten Lumbalgien zu begegnen. Dr. C.________ stellte mit Bericht vom 16. Januar 2005 "angesichts der massiven Schmerzen und der Therapieresistenz auf konservative Massnahmen" entsprechende Indikation, welche von Dr. H.________ bestätigt wurde (Schreiben vom 20. Februar 2005). Letztgenannter Arzt nahm am 24. Februar 2005 eine mikrochirurgische Fenestration und eine Sequester- und Diskektomie L5/S1 rechts vor (Bericht vom 2. März 2005). Nachdem die radikulären Schmerzen vorerst zurückgegangen waren, stellte sich wegen einer erneuten Schmerzexazerbation schon bald die Frage eines Zweiteingriffs an gleicher Stelle ("flachbogige Rezidiv-Diskushernie mit nach kaudal sequstriertem Sequester im Segment L5/S1 rechts. Die Wurzel S1 wird tangiert"; Berichte des Dr. H.________ vom 12. April, 4. Mai und 30. Mai 2005). Erst mit Bericht vom 27. Oktober 2005 attestierte Dr. H.________ eine Verbesserung insbesondere der radikulären Restbeschwerden. Es bestehe indes weiterhin vollständige Arbeitsunfähigkeit.
Lässt die spätere Entwicklung nur den Rückschluss zu, dass die Beschwerdegegnerin bereits im Zeitpunkt des Einspracheentscheids aus gesundheitlichen Gründen noch nicht eingliederungsfähig war, muss im Rahmen der erneuten Anhandnahme des Dossiers durch die IV-Stelle auch die Frage einer (befristeten) Invalidenrente geprüft werden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die Beschwerdeführerin hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 23. Mai 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: