BGer I 80/2005
 
BGer I 80/2005 vom 13.06.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 80/05
Urteil vom 13. Juni 2005
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke
Parteien
A.________, 1969, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey, Stadtturmstrasse 10, 5400 Baden,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
(Entscheid vom 8. Dezember 2004)
Sachverhalt:
A.
Der 1969 geborene A.________ arbeitete seit 1993 bei der Firma X.________ AG als Chauffeur. Seit dem 4. Dezember 1999 ist er krankgeschrieben und geht seither keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Am 10. Oktober 2000 meldete er sich unter Hinweis auf ein Rückenleiden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug; dabei beanspruchte er Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit sowie Arbeitsvermittlung. Nach Beizug der Akten der Zürich Versicherungen (Krankentaggeld-Versicherung) mit diversen Arztberichten sowie einem Gutachten des Dr. med. S.________, Spezialarzt FMH für Innere Medizin, speziell Rheumatologie, vom 5. April 2001, der Einholung verschiedener Arztberichte sowie der Durchführung einer Begutachtung beim Ärztlichen Begutachtungs-institut, ABI, Basel, (Expertise vom 2. Mai 2002), eines Arbeitstrainings bei der Solothurnischen Eingliederungsstätte für Behinderte, VEBO, Oensingen, vom 8. Oktober 2002 bis 10. Januar 2003 (Bericht vom 13. Januar 2003) und weiteren Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau (nachfolgend: IV-Stelle) mit Verfügung vom 8. Juli 2003 einen Rentenanspruch gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 33 %. Daran hielt sie nach Einholung weiterer medizinischer Berichte (Berichte der Rheumaklinik Y.________ vom 4. November 2003 und 25. Februar 2004, der Neurologischen Klinik Y.________ vom 9. Dezember 2003, des Dr. med. H.________, Arzt für Allgemeine Medizin, vom 11. Februar und 12. März 2004 sowie der Klinik Z.________, Fachklinik für Rehabilitation, Rheumatologie, Osteoporose, vom 28. Mai und 17. Juni 2004) mit Einspracheentscheid vom 27. Juli 2004 fest.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 8. Dezember 2004 ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihm eine Rente zuzusprechen; eventualiter sei für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ein unabhängiges versicherungsexternes (rheumatologisches und neurologisches) Gutachten zu erstellen. Zudem sei ihm die unentgeltliche Verbeiständung zu gewähren.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichts-beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Invalidität (Art. 8 ATSG, Art. 4 IVG), der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit (Art. 6 und 7 ATSG), über den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen sowie Art. 28 Abs. 1 IVG in der ab 2004 gültigen Fassung), zur Ermittlung des Invaliditätsgrades erwerbstätiger Versicherter nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG, seit 1. Januar 2004 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie zur Bedeutung invaliditätsfremder Faktoren beim Einkommensvergleich (RKUV 1993 Nr. U 168 S. 104 Erw. 5b, ZAK 1989 S. 458 oben, AHI 1999 S. 240 unten sowie Urteil S. vom 29. August 2002, I 97/00, Erw. 1.4 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Hinweise zur Aufgabe des Arztes und der Ärztin bei der Invaliditätsbemessung und zur praxisgemässen Bedeutung ärztlicher Auskünfte im Rahmen der Invaliditätsschätzung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen; vgl. auch AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc).
Richtig ist auch, dass sich der Beschwerdeführer bereits im Jahre 2000 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet hat und damit teilweise ein Sachverhalt zu beurteilen ist, der sich vor dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003 sowie der Änderungen des IVG vom 21. März 2003 und der IVV vom 21. Mai 2003 (4. IV-Revision) am 1. Januar 2004 verwirklicht hat, weshalb entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln für die Zeit bis 31. Dezember 2002 und bis 31. Dezember 2003 auf die damals geltenden Bestimmungen, ab diesen Zeitpunkten auf die Normen des ATSG und der 4. IV-Revision und deren Ausführungsverordnungen abzustellen ist (BGE 130 V 445 ff.), wobei die von der Rechtsprechung zu den Begriffen der Arbeitsunfähigkeit, der Erwerbsunfähigkeit und der Invalidität sowie zur Bestimmung des Invaliditätsgrades herausgebildeten Grundsätze unter der Herrschaft des ATSG prinzipiell weiterhin Geltung haben (BGE 130 V 343). Darauf wird verwiesen.
2.
2.1 Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch.
Die Vorinstanz hat in umfassender Wiedergabe und einlässlicher Würdigung der umfangreichen medizinischen Unterlagen sorgfältig begründet, weshalb für die Beurteilung der verwertbaren Restarbeitsfähigkeit auf die umfassende, den Anforderungen an eine beweiskräftige medizinische Stellungnahme (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 Erw. 1c) genügende Expertise des ABI vom 2. Mai 2002 und nicht auf den davon abweichenden Bericht der VEBO vom 13. Januar 2003 abgestellt werden kann. Namentlich hat das kantonale Gericht dazu richtig dargetan, dass sich auch die später erstellten Berichte der Klinik Z.________ vom 28. Mai und 17. Juni 2004 der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit durch das ABI anschliessen und zutreffend gefolgert, dass dem Versicherten trotz der diagnostizierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (chronisches lumbovertebrales Schmerzsyndrom mit chronischer, wahrscheinlich tief lumbal lokalisierter Wurzelreizung ohne sichere Ausfälle links mit flacher links-mediolateraler Diskushernie L4/5; radiomorphologisch beginnender Coxarthrose beidseits bei Status nach Epiphysiolysis capitis femoris beidseits; beginnende Gonarthrose links mit umschriebenem Knorpeldefekt medial am Femurcondylus sowie chronische Handgelenksschmerzen rechts seit Distorsion 1992) eine Arbeitsfähigkeit von 80 % in einer leichten, wechselbelastenden Tätigkeit (ohne Heben, Stossen und Ziehen von Lasten von mehr als 5 kg bis ausnahmsweise 10 kg, ohne repetitiv gebückten Tätigkeitsanteil, ohne Überkopfarbeit oder Tätigkeit in kniender und gebückter Stellung, nicht ausschliesslich sitzend oder stehend) und damit die Erzielung eines rentenausschliessenden Einkommens zumutbar ist.
2.2 Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, vermag nicht zu einem anderen Ergebnis zu führen:
2.2.1 Zunächst spricht gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens des ABI nicht, dass im Juli 2003 neu ein cervico-spondylogenes Syndrom auftrat. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist damit keine relevante Verschlechterung des Gesundheitszustandes ausgewiesen, wirkt sich dieser Befund doch nicht zusätzlich limitierend auf die Arbeitsfähigkeit aus, wie in den Berichten der Klinik Z.________ vom 28. Mai und 17. Juni 2004 festgestellt wurde. Dass diese Schlussfolgerung der Klinik Z.________ nicht genügend begründet sei, kann nicht gesagt werden, erfolgte sie doch im Rahmen einer eingehenden Untersuchung der Halswirbelsäule und in Kenntnis der bereits von der Neurologischen Klinik Y.________ am 9. Dezember 2003 gestellten Diagnose des seit etwa einem Jahr bestehenden Syndroms.
Für eine nochmalige Begutachtung durch das ABI besteht deshalb entgegen der Auffassung des Versicherten kein Anlass. Auch eine neurologische Abklärung erübrigt sich, nachdem eine solche entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers schon durchgeführt wurde und zwar in einem Zeitpunkt, als er bereits am fraglichen cervico-spondylogenen Syndrom litt (vgl. den Bericht der Neurologischen Klinik Y.________ vom 9. Dezember 2003 über die Untersuchung vom 4. Dezember 2003).
2.2.2 Sodann ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz den Bericht der VEBO unter den gegebenen Umständen wie zuvor die IV-Stelle als nicht massgebend erachtet hat. Zum Einwand des Versicherten, wonach man sich bei Nichtberücksichtigung der Beurteilung der VEBO "die ganze Übung hätte sparen können", ist festzuhalten, dass nach Durchführung eines Arbeitstrainings die dort gewonnenen Ergebnisse im Rahmen der Beweiswürdigung nicht unter allen Umständen höher zu gewichten sind als die zuvor erhobenen medizinischen Einschätzungen. Während die - arbeitsmedizinische - Aufgabe der Ärzte und Ärztinnen darin besteht, sich dazu zu äussern, inwiefern die versicherte Person in ihren körperlichen oder geistigen Funktionen leidensbedingt eingeschränkt ist - im Vordergrund stehen dabei vor allem jene Funktionen, welche für die nach der Lebenserfahrung im Vordergrund stehenden Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person wesentlich sind (so etwa, ob diese sitzend oder stehend, im Freien oder in geheizten Räumen arbeiten kann oder muss, ob sie Lasten heben und tragen kann) - haben sich die Fachleute einer beruflichen Abklärung darüber auszusprechen, welche konkreten beruflichen Tätigkeiten auf Grund der ärztlichen Angaben und unter Berücksichtigung der übrigen Fähigkeiten der versicherten Person in Frage kommen, wobei unter Umständen entsprechende Rückfragen beim Arzt oder der Ärztin erforderlich sind (BGE 107 V 20 Erw. 2b; Urteil Z. vom 26. Oktober 2004, I 457/04).
Die VEBO folgerte in ihrem Bericht, mit der jetztigen Leistungsfähigkeit von maximal 35 % bezogen auf ein Ganztagespensum und den schmerzbedingten Pausen während des Tages sei eine Vermittlung des Versicherten in der offenen Wirtschaft unwahrscheinlich. Auf Grund der tiefen Leistungsfähigkeit hätten sie keine berufsspezifischen Bereiche überprüfen und keine externen Arbeitseinsätze vornehmen können. Diese Einschätzung beruhte aber offensichtlich auf der unrichtigen Annahme, es werde bald eine Rückenoperation durchgeführt, wurde im Bericht doch angegeben, gemäss Aussage des Versicherten sei eine operative Behandlung der Wirbelsäule anstehend, welche anschliessend an die Abklärung erfolge, weshalb eine weitere Überprüfung der Berufsmöglichkeiten erst nach einer medizinischen Besserstellung als sinnvoll erachtet wurde. Die Abklärung der VEBO war deshalb unvollständig und es ist nicht auszuschliessen, dass sie bei ihren Feststellungen im Sinne einer vorläufigen Einschätzung davon ausging, es sei noch keine abschliessende Beurteilung vorzunehmen, da eine Besserung möglich sei. Unter diesen Umständen kann darauf nicht abgestellt werden und die Vorinstanz hat zu Recht die ärztlichen Einschätzungen als massgebend erachtet.
2.2.3 Am vorinstanzlichen Ergebnis ändert auch nichts, dass der Versicherte regelmässig Schmerzspritzen erhält, wie er in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorbringt, implizieren doch Schmerzen unklarer Genese nicht ohne weiteres eine relevante Arbeitsunfähigkeit, sondern ist auf Grund der medizinischen Feststellungen die Frage zu beurteilen, welche Arbeitsleistungen der versicherten Person trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigungen, bei Aufbietung allen guten Willens (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen) und in Nachachtung des im Sozialversicherungsrecht allgemein geltenden Grundsatzes der Schadenminderungspflicht (BGE 123 V 233 Erw. 3c, 117 V 278 Erw. 2b, 400, je mit Hinweisen) noch zugemutet werden können (Urteile B. vom 16. Juni 2004, I 824/02, und B. vom 3. Juli 2002, I 537/01).
In diesem Zusammenhang ist mit Blick auf das Vorbringen in der Ver-waltungsgerichtsbeschwerde, wonach attestierte Arbeitsunfähigkeiten von 100 % wegen des cervico-spondylogenen Syndroms zeigten, dass er kein Simulant sei, festzuhalten, dass kein Widerspruch zwischen einer Arbeitsfähigkeit und der Tatsache besteht, dass der Versicherte weder als Aggravant noch Rentenneurotiker zu beurteilen ist, da auch ein nicht vorgetäuschtes subjektives Krankheitsempfinden an der schlüssigen Beurteilung der somatisch bedingten Arbeitsfähigkeit nichts zu ändern vermag (Urteil M. vom 5. August 2004, I 443/03).
2.2.4 Schliesslich lässt sich auch der Einkommensvergleich, der zu einem Invaliditätsgrad von 33 % führte, nicht beanstanden. Soweit der Beschwerdeführer einen höheren leidensbedingten Abzug beim Invalideneinkommen verlangt, ist festzuhalten, dass selbst unter Berücksichtigung eines Abzuges von 20 % kein rentenbegründender Invaliditätsgrad resultieren würde und sich ein Maximalabzug von 25 % bei diesem im Zeitpunkt des Einspracheentscheides 35-jährigen Versicherten und der nach wie vor bestehenden Leistungsfähigkeit im Rahmen eines 80%-Pensums nicht rechtfertigt.
3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung kann dem unterliegenden Beschwerdeführer gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen (BGE 125 V 202 Erw. 4a) erfüllt sind. Der Versicherte wird jedoch auf Art. 152 Abs. 3 OG hingewiesen, wonach er dem Gericht Ersatz zu leisten haben wird, wenn er dereinst dazu im Stande sein sollte.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Dominik Frey, Baden, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 13. Juni 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: