BGer C 194/2003
 
BGer C 194/2003 vom 14.04.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 194/03
Urteil vom 14. April 2005
II. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber Signorell
Parteien
Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern, Hallwilerweg 5, 6003 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
E.________, 1958, Beschwerdegegner
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
(Entscheid vom 14. Juli 2003)
Sachverhalt:
A.
Mit Statuten vom 9. November 2001 wurde die Firma Y.________ AG (nachfolgend: Firma) mit einem Kapital von Fr. 100 000.- gegründet. Der Sitz der Gesellschaft befand sich in X.________. Dem Verwaltungsrat gehörten der Präsident und fünf Mitglieder an, die alle kollektivunterschriftsberechtigt waren. E.________ gehörte der Geschäftsleitung an, fungierte als Sekretär des Verwaltungsrates und war im Besitze einer Aktie. Seit dem 1. Oktober 2001 war er angestellt. Die Firma kündigte den Geschäftsführungsvertrag am 30. August 2002 auf den 28. Februar 2003. Am 21. Februar 2003 stellte E.________ Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab 3. März 2003. Mit Verfügung vom 17. März 2003 verneinte die Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern (nachfolgend: Kasse) die Anspruchsberechtigung. Zwar sei der Arbeitsvertrag gekündigt worden, doch bestehe die Gesellschaft weiter und E.________ sei weiterhin im Handelsregister eingetragen. Er verfüge damit weiterhin über die unternehmerische Dispositionsfreiheit. Ein solches Vorgehen laufe auf eine Umgehung der Bestimmungen über die Kurzarbeitsentschädigung hinaus. Am 19. März 2003 trat E.________ aus dem Verwaltungsrat zurück. Mit Einspracheentscheid vom 28. April 2003 hielt die Kasse in ihrer Verfügung fest.
B.
Mit Entscheid vom 14. Juli 2003 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern eine dagegen erhobene Beschwerde gut, mit welcher E.________ die Zusprechung von Arbeitslosenentschädigung vom 1. bis zum 18. März 2003 beantragt hatte, und wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen über den Anspruch neu verfüge.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Kasse die Aufhebung des kantonalen Entscheides.
Während E.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Staatssekretariat für Wirtschaft auf eine Vernehmlassung.
Am 29. September 2003 und 14. Juni 2004 äussern sich die Parteien erneut und halten an ihren abweichenden Standpunkten fest.
D.
Das Eidgenössisches Versicherungsgericht zog Zwischenberichte der Firma N.________ AG in Deutschland zum 31. März und 30. September 2002, den Geschäftsbericht 2002 und Infos zur Hauptversammlung vom 20. Mai 2003 bei. Die Kasse erhielt Gelegenheit, sich zu diesen Sachverhaltsergänzungen zu äussern. Mit Schreiben vom 6. April 2005 verzichtete sie auf eine Stellungnahme.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Ausschluss von Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung (Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG) sowie die Rechtsprechung zur analogen Anwendung dieser Vorschrift auf die Arbeitslosenentschädigung (BGE 123 V 234) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Hinsichtlich des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung findet sich in Art. 8 ff. AVIG keine der Regelung bei Kurzarbeit entsprechende Norm. Mit Bezug auf den Anspruch der in Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG genannten arbeitgeberähnlichen Personen auf Arbeitslosenentschädigung ist nach der Rechtsprechung indessen eine Überprüfung unter dem Gesichtspunkt der rechtsmissbräuchlichen Gesetzesumgehung möglich, wobei verschiedene Fallkonstellationen zu unterscheiden sind. Wird ein Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers mit arbeitgeberähnlicher Stellung gekündigt, kann nicht von einer Gesetzesumgehung gesprochen werden, wenn der Betrieb geschlossen wird, das Ausscheiden des betreffenden Arbeitnehmers mithin definitiv ist. Entsprechendes gilt für den Fall, dass das Unternehmen zwar weiter besteht, der Arbeitnehmer aber mit der Kündigung endgültig auch jene Eigenschaft verliert, deretwegen er bei Kurzarbeit aufgrund von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung ausgenommen wäre. Eine grundsätzlich andere Situation liegt jedoch dann vor, wenn der Arbeitnehmer nach der Entlassung seine arbeitgeberähnliche Stellung im Betrieb beibehält und dadurch die Entscheidungen des Arbeitgebers weiterhin bestimmen oder massgeblich beeinflussen kann (BGE 123 V 237 f. Erw. 7b/bb).
2.
2.1 Die Vorinstanz hat festgehalten, dass die Firma im Alleineigentum der N.________ AG, einer Gesellschaft nach deutschem Recht mit Sitz in Deutschland, stand und auf Ende 2002 ihre Geschäftstätigkeit einstellte; auf den gleichen Zeitpunkt war auch der Mietvertrag über die Geschäftsräumlichkeiten aufgelöst worden. Aus diesen Umständen zog das kantonale Gericht den Schluss, dem Versicherten sei eine Reaktivierung der Firma praktisch unmöglich gewesen. Dazu komme, dass er nur über eine Kollektivunterschrift zu zweien verfügt, lediglich eine Pflichtaktie besessen und somit nicht die Möglichkeit gehabt habe, sich wieder einzustellen. Ohne die finanziellen Mittel und die Unterstützung der anderen Verwaltungsräte habe er keine unternehmerische Dispositionsfähigkeit besessen. Der Verbleib im Verwaltungsrat sei nur aus rechtlichen Gründen (Art. 708 Abs. 1 OR) erfolgt. Eine Umgehung der Vorschriften über die Kurzarbeitsentschädigung liege nicht vor.
2.2 Die Beschwerde führende Kasse wendet ein, dass das Arbeitsverhältnis zwar am 28. Februar 2003 geendet habe, E.________ jedoch noch bis zum 19. März 2003 dem Verwaltungsrat der Arbeitgeberin angehört habe und dessen Sekretär gewesen sei. Amte ein Arbeitnehmer als Verwaltungsrat, so sei eine massgebliche Entscheidungsbefugnis von Gesetzes wegen (Art. 716 ff. OR) gegeben. Entscheidend sei, dass die Firma über das Datum der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus weiter bestanden habe. Die arbeitgeberähnliche Stellung habe bis zum Rücktritt aus dem Verwaltungsrat am 18. März 2003 weiterbestanden. Dass die N.________ AG alleinige Eigentümerin der Firma und der Versicherte nur einer von fünf Verwaltungsräten gewesen sei, sei ebenso ohne Bedeutung, wie der Umstand, dass er lediglich kollektivzeichnungsberechtigt gewesen sei und bloss eine Pflichtaktie besessen habe. Der Beschwerdegegner habe jene Eigenschaften, deretwegen er bei der Kurzarbeit vom Anspruch ausgeschlossen gewesen wäre, auch nach der Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht verloren. Gemäss Rz B33 des vom Staatssekretariat für Wirtschaft herausgegebenen Kreisschreibens über die Arbeitslosenentschädigung (KS-ALE), in der seit Januar 2003 geltenden Fassung, sei der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung bei Mitgliedern des Verwaltungsrates ohne weitere Prüfung abzulehnen.
2.3 Wie die Kasse an sich zutreffend ausführt, wäre der Beschwerdegegner als Verwaltungsrat der Firma von Gesetzes wegen vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung zwingend ausgeschlossen gewesen (vgl. BGE 122 V 273 oben mit Hinweisen). Gemäss Rz B33 KS-ALE, worauf sich die Verwaltung beruft, gilt dieser Ausschlussgrund (arbeitsloser Angestellter mit Organstellung) "ohne weitere Prüfung" auch für die Arbeitslosenentschädigung. Diese Auffassung trifft grundsätzlich zu, steht aber unter dem Vorbehalt der in Erw. 1 erwähnten Rechtsprechung (in diesem Sinne Urteil B. vom 6. Oktober 2000 [C 16/00] Erw. 2b). Indessen verfügte der Beschwerdegegner trotz beibehaltener Stellung als Verwaltungsrat nicht über die Macht, nach Beendigung der Anstellung die Firma wieder zu reaktivieren und sich dannzumal erneut anzustellen. Die unternehmerische Dispositionsfreiheit stand der N.________ AG und nicht dem Beschwerdegegner zu, wie sich aus dem Nachfolgenden ergibt.
2.4 In einem Zwischenbericht zum 31. März 2002 zuhanden der Aktionäre wies die N.________ AG darauf hin, dass die strategische Neuausrichtung in den vergangenen Monaten erfolgreich vorangetrieben und mit der Gründung der Y.________ AG in Deutschland und in X.________ wesentliche Akzente für die zukünftige Entwicklung gesetzt worden seien. Doch bereits im Zwischenbericht zum 30. September 2002 wurde festgehalten, dass die Firma in X.________ wieder geschlossen werden musste. Deren Erträge hätten den Schliessungsaufwand mehr als kompensiert. Im Geschäftsbericht 2002 teilte die Gesellschaft den Aktionären mit, dass die Y.________ AG in X.________ Anfang 2002 zwei Beratungsmandate für vermögende Privatkunden und die Geschäftsbeziehung zu einer grossen Schweizer Pensionskasse habe aufnehmen können. Weitere Akquisitionserfolge hätten sich dann aber keine mehr eingestellt, weshalb im Herbst 2002 die Schliessung der Tochter in X.________ beschlossen worden sei. Der institutionelle Anleger wickle all seine Deutschlandgeschäfte weiterhin über die Firma ab, nachdem diese die dafür nötigen technischen Voraussetzungen geschaffen habe. In den Infos zur Hauptversammlung vom 20. Juni 2003 werden die diesbezüglichen Bemühungen wie folgt zusammengefasst: "Im 2001 hat die N.________ AG den Ausbau der Vermögensverwaltung durch die Gründung von drei Tochtergesellschaft in Deutschland, Luxemburg und der Schweiz forciert. ... Gemeinsam mit Schweizer Managern wurde im Dezember 2001 die Y.________ AG in X.________ gegründet. Ziel war die umfassende Beratung in- und ausländischer Privatkunden in allen Vermögensfragen bis hin zur Ansiedlung in der Schweiz. Aufgrund der derzeitigen Lage an den Kapitalmärkten ist es nicht gelungen, ausreichende Mandate für eine eigenständige Vermögensverwaltung in der Schweiz zu akquirieren und damit den Break-Even im ersten Jahr aus eigener Kraft zu schaffen. Das von Anfang an ertragreiche institutionelle Geschäft wird von der N.________ AG aus Deutschland weitergeführt, da es gelang, die Kundenbeziehung organisatorisch und abrechnungstechnisch auf die Muttergesellschaft zu übertragen".
Aus diesen Berichten, hinsichtlich deren der Beschwerdeführerin das rechtliche Gehör gewährt wurde, ergibt sich zwanglos, dass einerseits alle massgeblichen Firmenentscheide bei der Muttergesellschaft in Deutschland getroffen wurden und dass andererseits mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht ein bloss vorübergehendes Ausscheiden aus den Diensten der Firma verbunden war. Die Vorinstanz hat somit Bundesrecht nicht verletzt, wenn sie eine Umgehung der Vorschriften über die Kurzarbeitsentschädigung (und selbst das Risiko einer solchen) verneint hat.
3.
Ob der Beschwerdegegner die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 8 ff. AVIG erfüllt, hat die Arbeitslosenkasse bisher nicht geprüft. Es ist daher rechtens, dass die Vorinstanz die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen hat, zur Prüfung der Taggeldberechtigung ab 3. März 2003.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Dienststelle für Wirtschaft und Arbeit (wira), Luzern, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 14. April 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: