BGer I 406/2004
 
BGer I 406/2004 vom 02.02.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 406/04
Urteil vom 2. Februar 2005
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber Traub
Parteien
M.________, 1975, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Luzern
(Entscheid vom 4. Juni 2004)
Sachverhalt:
A.
M.________, geb. 1975, absolvierte eine Lehre als Bijouterieverkäuferin, war für kurze Zeit in diesem Beruf und von Juli 1996 bis April 1998 bei der Firma H.________ AG als Mitarbeiterin in der Verpackungsabteilung tätig. Seit 1997 besteht ein Schmerzzustand im Bereich von Halswirbelsäule und Hinterkopf sowie der rechten Schulter und des rechten Arms (zervikospondylogenes Syndrom). Am 21. April 1998 meldete sich M.________ zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Luzern tätigte Abklärungen in erwerblicher und medizinischer Hinsicht, holte insbesondere eine interdisziplinäre Expertise bei der Medizinischen Begutachtungsstelle X.________ vom 16. Februar 2001 ein und sprach der Versicherten eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 50 % zu (Verfügung vom 5. März 2003, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 1. August 2003).
B.
Die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern in der Sache ab (Entscheid vom 4. Juni 2004).
C.
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr, eventuell nach weiterer Abklärung durch ein polydisziplinäres Gutachten, unter Aufhebung von Einsprache- und kantonalem Gerichtsentscheid, mit Wirkung ab dem 1. November 1998 eine ganze Invalidenrente auszurichten. Ausserdem ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Bei der Prüfung des Anspruchs auf eine Invalidenrente, der allenfalls schon vor dem Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 entstanden ist, wird das anwendbare Recht nach den allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln ermittelt. Danach sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit bis zum 31. Dezember 2002 aufgrund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 445).
Die am 1. Januar 2004 - und somit nach dem Erlass des Einspracheentscheides vom 1. August 2003 - in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 (4. IVG-Revision) und der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 finden keine Anwendung (vgl. BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
1.2 Das ATSG brachte hinsichtlich der Invaliditätsbemessung keine substantiellen Änderungen gegenüber der bis zum 31. Dezember 2002 gültigen Rechtslage (BGE 130 V 343), so dass auch die zur altrechtlichen Regelung ergangene Judikatur weiterhin massgebend ist. Daher schadet es im Ergebnis nicht, dass das kantonale Gericht die Anspruchsprüfung formal allein aufgrund der ab dem 1. Januar 2003 geltenden Bestimmungen vorgenommen hat. Auf die zutreffende Darstellung der Normen und Grundsätze durch die Vorinstanz kann sinngemäss verwiesen werden. Dies betrifft namentlich den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG [sowohl in der bis Ende 2002 als auch in der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung]; Art. 8 Abs. 1 ATSG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 [in der bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung]), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG [in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung]; Art. 16 ATSG), die Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 115 V 134 Erw. 2 mit Hinweisen; AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) sowie die beweisrechtliche Würdigung von medizinischen Berichten (BGE 125 V 352 Erw. 3a).
2.
Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch der Beschwerdeführerin, die nach Beurteilung der Sachverständigen der Begutachtungsstelle X.________ an einer Persönlichkeitsstörung (emotionale Instabilität vom Borderlinetypus; ICD-10: F60.31) sowie an einem weichteilrheumatischen Schmerzsyndrom der rechten Körperhälfte "mit Betonung paracervical rechts, rechter Schultergürtel und rechter Arm" leidet. Mit Bezug auf körperlich belastende Arbeiten sei sie - wegen den Veränderungen des Bewegungsapparats - vollständig und hinsichtlich einer leichteren Tätigkeit, so als Verkäuferin, aufgrund des psychiatrischen Befundes zu 50 % arbeitsunfähig.
Dem Gutachten ist nach den in ständiger Rechtsprechung angewandten Kriterien voller Beweiswert zuzuerkennen (vgl. BGE 125 V 352 Erw. 3a). Grundsätzlich kann diesbezüglich auf die zutreffenden Erwägungen des kantonalen Gerichts verwiesen werden. Auf die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geübte Kritik ist im Folgenden einzugehen, soweit entscheidwesentliche Punkte betroffen sind, die nicht bereits im vorinstanzlichen Entscheid abschliessend behandelt worden sind.
2.1 Die Versicherte moniert zunächst, der Stellenwert der rheumatologischen Erkrankung sei bei der Bemessung der Gesamtarbeitsfähigkeit vernachlässigt worden. Wie erwähnt sind die Gutachter der Begutachtungsstelle X.________ zur Auffassung gelangt, mit Bezug auf dem körperlichen Leiden angepasste Tätigkeiten ergebe sich nur aus psychiatrischer Warte eine massgebende Einschränkung (von 50 %). Der Umstand, dass andere ärztliche Stellungnahmen eine somatisch begründete Beeinträchtigung postulieren, bedeutet nicht ohne weiteres, dass diese Berichte dem Gutachten widersprechen. Entweder gehen die betreffenden Mediziner von einer körperlich belastenden und somit unbestrittenermassen nicht zumutbaren Tätigkeit aus - wie der Neurologe Dr. G.________, der von einem von der früheren schweren Tätigkeit herrührenden Überlastungssyndrom spricht (Bericht vom 23. Januar 1998) - oder aber sie behandeln Befunde mit organischen und psychogenen Anteilen als Einheit. So gibt die Rheumatologin Dr. W.________ an, bei fortdauernder Therapieresistenz sei differentialdiagnostisch an ein psychosomatisch überlagertes Schmerzsyndrom bzw. an eine pathologische Schmerzverarbeitung zu denken (Berichte vom 12. Dezember 1997 und 15. Juni 1998); auch im rheumatologischen Konsilium zum Gutachten der Begutachtungsstelle X.________ ist die Rede von einer psychischen Problematik. Solche Feststellungen bedeuten nicht von vornherein, dass der jeweilige Mediziner somatischer Fachrichtung seine fachliche Kompetenz überschritten hätte und der Beweiswert des fraglichen Dokuments deswegen a priori vermindert wäre. Da rheumatologische Schmerzzustände oftmals kaum von symptomgleichen psychosomatischen Beschwerdebildern abzugrenzen sind, kommt dem Rheumatologen auch in Bezug auf Letztere durchaus eine beschränkte Beurteilungskompetenz zu (Urteil G. vom 28. Dezember 2004, I 704/03, Erw. 4.1.1). Die zitierten Ärzte haben die Grenzen ihrer Beurteilungszuständigkeit mithin nicht überschritten. Soweit schliesslich im Bericht der Schmerzklinik S.________ vom 6. Dezember 1999 von einer deutlich tieferen Arbeitsfähigkeit im Rahmen von zwei bis drei Stunden täglich ausgegangen wird, so handelt es sich dabei um eine auf Angaben der Versicherten selber beruhende Momentaufnahme; es wird daselbst aus objektivierter Sicht eine Steigerung des Arbeitspensums auf 50 % ausdrücklich für zumutbar gehalten.
2.2 Das kantonale Gericht hat anhand der Akten bereits hinreichend dargelegt, dass die - im medizinischen Dossier verschiedentlich erwogene, im Gutachten der Begutachtungsstelle X.________ jedoch fehlende - Diagnose des Fibromyalgiesyndroms - verstanden als rheumatologische Erkrankung (sogenanntes primäres Fibromyalgiesyndrom; vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage, Berlin 2002, S. 521) - vorliegend nicht erstellt ist. In seiner sekundären Form, das heisst als (psychogenes) Schmerzsyndrom, geht dieser Befund derweil in der Diagnose des weichteilrheumatischen Schmerzsyndroms auf, welches, wiewohl formal der Rheumatologie zuzuordnen, nach gutachtlicher Beurteilung tatsächlich einen überwiegend psychogenen Hintergrund hat (vgl. dazu auch Klaus Foerster, Begutachtung bei sozial- und versicherungsmedizinischen Fragen, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage 2004, S. 651 f.) und in der Schätzung der Arbeitsunfähigkeit enthalten ist. Eine zusätzliche Arbeitsunfähigkeit ist aus der diskutierten Fibromyalgie somit nicht ableitbar. Gleiches gilt hinsichtlich einer allfälligen somatoformen Schmerzstörung.
2.3 Im Weitern macht die Versicherte geltend, die der Bemessung der Arbeitsfähigkeit zugrunde gelegte Tätigkeit der (Bijouterie-)Verkäuferin sei mit gewissen psychiatrischen Schlussfolgerungen der Expertise - so hinsichtlich des Grades sozialer Anpassungsfähigkeit - nicht vereinbar. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass dieselben Gutachter, die auch einen persönlichen Eindruck von der Beschwerdeführerin gewonnen haben, ihr diese Arbeit durchaus zutrauen. Letztlich kann die Frage offen bleiben, da die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht nur für den genannten Tätigkeitsbereich, sondern genauso hinsichtlich jedes andern leidensangepassten Berufs gültig ist.
In diesem Zusammenhang bleibt darauf hinzuweisen, dass die - wohl auf eine Umschulung bezogene - gutachtliche Feststellung, berufliche Massnahmen seien nicht indiziert (vgl. aber auch die anderslautenden Stellungnahmen der Frau Dr. W.________ vom 3. November 1998 und der Neurologin Dr. L.________, Schmerzklinik S.________, vom 1. Dezember 1999), den allfälligen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Eingliederungsvorkehren (zum Beispiel Arbeitsvermittlung [Art. 18 IVG; vgl. BGE 116 V 81 Erw. 6a; AHI 2000 S. 70 Erw. 1a]) gerade mit Blick auf ihr jugendliches Alter selbstverständlich nicht zu beeinträchtigen vermag.
2.4 Schliesslich wirft die Beschwerdeführerin die Frage des sogenannten leidensbedingten Abzugs auf. Mit diesem Instrument werden praxisgemäss auch weitere lohndämpfende persönliche und berufliche Umstände des konkreten Einzelfalls berücksichtigt (BGE 126 V 75). Vorliegend besteht indes kein Grund zur Annahme, dass die Beschwerdeführerin, über die zur Abwendung einer psychischen Überbeanspruchung notwendige Reduktion des Pensums auf 50 % hinaus, auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt lohnmässige Nachteile hinzunehmen hat. Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung erweist sich demnach auch insofern als rechtmässig.
3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Häfliger, Luzern, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 2. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: