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Original
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 106/03
Urteil vom 13. April 2004
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Jancar
Parteien
Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000 Aarau, Beschwerdeführerin,
gegen
G.________, 1951, Beschwerdegegner
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
(Entscheid vom 1. April 2003)
Sachverhalt:
A.
Der 1951 geborene G.________ arbeitete seit 1979 als Polier im Baugeschäft B.________. Per Ende November 2000 kündigte die Firma das Arbeitsverhältnis. Am 4. Dezember 2000 meldete sich der Versicherte bei der Arbeitslosenversicherung zum Taggeldbezug ab 1. November 2000 an. Die erste Rahmenfrist für den Leistungsbezug lief vom 6. November 2000 bis 5. November 2002. In dieser Zeit war der Versicherte häufig krankheitsbedingt arbeitsunfähig, arbeitete aber auch an mehreren Stellen im Zwischenverdienst. Am 6. August 2002 meldete er sich bei der Arbeitslosenversicherung erneut zur Arbeitsvermittlung und zum Taggeldbezug an. Mit Verfügung vom 3. Dezember 2002 verneinte die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab Beginn der am 6. November 2002 zu eröffnenden zweiten Rahmenfrist für den Leistungsbezug. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Versicherte sei vom 6. November 2000 bis 5. November 2002 nicht während mindestens zwölf Monaten einer beitragspflichtigen Beschäftigung nachgegangen oder krankheitsbedingt von der Erfüllung der Beitragszeit befreit gewesen. Seine Beitragszeit habe 8,641 Monate, die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit 9,427 Monate betragen.
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügung vom 3. Dezember 2002 auf und wies die Sache zur Berechnung und Auszahlung der Taggeldansprüche des Versicherten an die Arbeitslosenkasse zurück.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Arbeitslosenkasse die Aufhebung des kantonalen Entscheides und die Bestätigung der Verfügung vom 3. Dezember 2002.
Der Versicherte schliesst sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) deren Gutheissung beantragt.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und die Grundsätze über die für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung vorausgesetzte Mindestbeitragsdauer (Art. 8 Abs. 1 lit. e in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 AVIG in der hier anwendbaren, bis 30. Juni 2003 gültig gewesenen Fassung), die dafür vorgesehenen Rahmenfristen (Art. 9 Abs. 1-3 AVIG) sowie die krankheitsbedingte Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit (Art. 14 Abs. 1 lit. b AVIG) richtig wiedergegeben. Ebenfalls zutreffend ist, dass eine Kumulation von Beitragszeiten mit Befreiungszeiten nicht zulässig ist (BGE 121 V 342 unten f.; ARV 1995 Nr. 29 S. 167 Erw. 3b/aa).
Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 3. Dezember 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
2.
Streitig und zu prüfen ist allein, ob der Beschwerdegegner, für den ab 6. November 2002 neu eine zweite Rahmenfrist für den Leistungsbezug (Art. 9 Abs. 2 AVIG) eröffnet wurde, in der vom 6. November 2000 bis 5. November 2002 dauernden Rahmenfrist für den Nachweis der Mindestbeitragszeit (Art. 9 Abs. 3 AVIG) die in diesem Fall erforderlichen 12 Monate (Art. 13 Abs. 1 zweiter Satz AVIG) erfüllt oder nach Art. 14 Abs. 1 lit. b AVIG wegen krankheitsbedingter Arbeitsverhinderung vom Nachweis der Mindestbeitragszeit befreit ist. Während die Arbeitslosenkasse den Taggeldanspruch ab 6. November 2002 abgelehnt hat, weil der Beschwerdegegner sich einerseits über eine Beitragszeit von lediglich 8,641 Monaten und andererseits über eine Arbeitsunfähigkeit von nur 9,427 Monaten auszuweisen vermöge, hat das kantonale Gericht diese Zeitspannen zusammengerechnet und sich dabei von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung entfernt, wonach Beitragszeiten (und gleichgestellte Zeiten) nach Art. 13 AVIG nicht mit Befreiungstatbeständen nach Art. 14 AVIG kombiniert werden können (BGE 121 V 342 unten f.).
3.
3.1 Die Erwägungen des kantonalen Gerichts haben einiges für sich: Es ist in der Tat nicht leicht zu begreifen, dass die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, wer in der Rahmenfrist 12,1 Monate lang krank war und 11,9 Monate (oder weniger) arbeitete, nicht aber, wer (höchstens) 11,9 Monate lang arbeitete und ausserdem nicht länger als 12 Monate krank war. Es handle sich, so das kantonale Gericht, "nicht einfach um die unvermeidbare und in Grenzfällen harte Folge von Fristfestlegungen (...), sondern um eine eigentliche Wertungsinkongruenz, die als willkürlich erscheinen" müsse.
3.2 Der Gesetzgeber geht deswegen von einem überjährigen Befreiungstatbestand nach Art. 14 AVIG - im Extremfall: von 12 Monaten und 1 Tag - aus, weil der Versicherte bei kürzerer (12monatiger oder unterjähriger) Dauer des Befreiungstatbestandes die Möglichkeit hat, sich durch bezahlte unselbstständige Erwerbstätigkeit das Mindestbeitragsjahr nach Art. 13 Abs. 1 AVIG zu sichern. Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts hat diese Überlegung nach wie vor Gültigkeit, weil bei unterjährigen Befreiungstatbeständen auch unter der Herrschaft des seit 1. Januar 1998 geltenden zweiten Satzes von Art. 13 Abs. 1 AVIG in der zweijährigen Rahmenfrist Raum für den geforderten Beitragsnachweis verbleibt. Wie das seco in seiner Vernehmlassung zutreffend bemerkt, hat der Gesetzgeber anlässlich der Neufassung von Art. 13 Abs. 1 AVIG auf den 1. Juli 2003 am bisherigen Konzept (Trennung von Art. 13 und Art. 14 AVIG) festgehalten, und dies obgleich er die 12monatige Mindestbeitragszeit nun zum allgemeinen (nicht erst bei einer zweiten Rahmenfrist) zu beachtenden Anspruchserfordernis gemacht hat. Wenn aber der Gesetzgeber im Rahmen einer Revision, in Kenntnis einer zur alten Regelung ergangenen Rechtsprechung, an einer bestimmten Konzeption festhält - hier der Subsidiarität der Befreiungstatbestandsregelung nach Art. 14 AVIG im Vergleich zur Mindestbeitragszeit nach Art. 13 AVIG -, geht es nicht an, unter dem alten Recht (hier die bis 30. Juni 2003 gültig gewesenen Normen) eine neue Praxis zu begründen, welche der bestätigten legislatorischen Regelungsabsicht zuwiderliefe (vgl. BGE 126 V 466 f. Erw. 3a-c zum erneuten Bestehen der Karenzzeit als Voraussetzung für den Anspruch auf Ergänzungsleistungen). Die Verfügung der Arbeitslosenkasse vom 3. Dezember 2002 ist nach dem Gesagten rechtens.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 1. April 2003 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 13. April 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: