Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
U 313/02
Urteil vom 4. September 2003
I. Kammer
Besetzung
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin Keel Baumann
Parteien
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
N.________, 1949, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Galligani, Ruederstrasse 8, 5040 Schöftland
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
(Entscheid vom 11. September 2002)
Sachverhalt:
A.
Der 1949 geborene N.________ war im Jahre 1969 als Bauarbeiter bei der Firma S.________ in X.________ tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) versichert, als er ein Knietrauma links erlitt. Am 2. April 1969 erfolgte im Spital B.________ eine laterale Arthrotomie und eine subtotale laterale Meniskektomie bei lateraler Korbhenkelläsion.
Ab 15. Mai 1982 war N.________ bei K.________, Sanitäre Anlagen, als Sanitärmonteur angestellt und damit wiederum bei der SUVA gegen Unfälle und Berufskrankheiten versichert. Am 27. Januar 1983 zog er sich bei einem Treppensturz ein Kontusions-/Distorsionstrauma des linken Knies zu. Wegen persistierender Schmerzen wurde er im April 1983 an die Chirurgische Klinik des Spitals T.________ überwiesen, wo mittels Arthrographie und Arthroskopie eine traumatisierte Gonarthrose links bei Status nach Meniskektomie links lateral sowie ein bohnenförmiges Ossikel im lateralen Gelenksspalt ventral diagnostiziert wurden. Es wurde vorgeschlagen, den Gelenkskörper mittels einer kleinen Arthrotomie zu entfernen, sobald dies beruflich möglich sein sollte. Die Ärzte hielten fest, dass N.________ an den Folgen einer vorbestehenden, erheblichen femorotibialen Arthrose lateral bei Zustand nach Meniskektomie vor 10 Jahren sowie an den Folgen einer beginnenden patello-femoralen Arthrose leide.
Im Rahmen eines Rückfalles diagnostizierte Dr. med. G.________, Orthopädische Chirurgie FMH, eine Valgusgonarthrose mit freiem Gelenkskörper bei Status nach Meniskektomie links lateral und eine Femoropatellararthrose. Am 6. Dezember 1985 wurden im Spitals P.________ eine Arthrotomie im Bereich des linken Kniegelenks lateral mit Lateral release und Pridie-Bohrungen vorgenommen und es wurde der freie Gelenkkörper entfernt.
Im November 1999 meldete die L.________ AG, bei welcher N.________ seit 8. August 1997 angestellt war, einen weiteren Rückfall. Am 22. Oktober 1999 wurde der Versicherte im Spitals A.________ operiert (Kniearthroskopie links, Knorpeldébridement medial, Pridiebohrungen medial, Shaving Meniskus bilateral links). In Bezug auf die postoperativ beklagten Belastungsschmerzen hielt Oberarzt Dr. med. Y.________ in seinem Bericht vom 6. Januar 2000 fest, operativ könne dem Patienten lediglich noch die totalprothetische Versorgung angeboten werden, welche N.________ indessen aufgrund seines Alters noch möglichst lange hinauszögern wolle.
Gestützt auf den von ihm im Rahmen der Abschlussuntersuchung vom 6. Februar 2001 erhobenen Befund einer deutlichen Belastungsintoleranz des linken Beines, verursacht durch eine erhebliche, lateral betonte Pangonarthrose mit gelegentlicher Indikation für eine Knietotalprothese schätzte Kreisarzt Dr. med. W.________ den Integritätsschaden auf brutto 20 % (SUVA-Integritätsentschädigungstabelle 5.2: Knietotalprothese mit gutem Erfolg) und auf netto neurechtlich 11 %. Dementsprechend sprach die SUVA dem Versicherten mit Verfügung vom 8. März 2001 eine Integritätsentschädigung in Höhe von Fr. 7'656.- gestützt auf eine Integritätseinbusse von 11 % zu. Die hiegegen gerichtete Einsprache wies sie ab, soweit sie darauf eintrat (Entscheid vom 20. Dezember 2001).
B.
Die von N.________ hiegegen mit dem Antrag auf Aufhebung des Einspracheentscheides und Zusprechung einer Integritätsentschädigung gestützt auf eine Integritätseinbusse von mindestens 35 % erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 11. September 2002 in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die SUVA zurückwies, damit sie im Sinne der Erwägungen über die Integritätsentschädigung neu verfüge. Im Weitern sprach sie dem Versicherten eine Parteientschädigung von Fr. 1'425.50 (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu, womit das von ihm gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung gegenstandslos wurde.
C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei insoweit aufzuheben, als darin der Integritätsschaden auf brutto 35 % festgesetzt und sie zur Leistung einer Parteientschädigung von Fr. 1'425.50 verpflichtet worden sei. Das von ihr gleichzeitig gestellte Gesuch um Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels zog sie mit Schreiben vom 7. Januar 2003 zurück.
N.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf Integritätsentschädigung (Art. 24 UVG; Art. 36 Abs. 1 UVV), zur Abstufung nach der Schwere des Integritätsschadens (Art. 25 Abs. 1 UVG und Anhang 3 zur UVV, gestützt auf Art. 36 Abs. 2 UVV), zur Bedeutung der von der medizinischen Abteilung der SUVA erarbeiteten weiteren Bemessungsgrundlagen in tabellarischer Form (sog. Feinraster; vgl. dazu BGE 124 V 32 Erw. 1c) sowie zu den Voraussetzungen für eine Revision der Integritätsentschädigung (RKUV 1991 Nr. U 132 S. 308 Erw. 4b) zutreffend dargelegt. Ebenso zutreffend sind die Hinweise auf das zeitlich anwendbare Recht und die Übergangsregelung (Art. 118 Abs. 1 und Abs. 2 lit. c UVG) sowie die hiezu ergangene Rechtsprechung (RKUV 1993 Nr. U 157 S. 24 Erw. 3 mit Hinweisen). Darauf kann verwiesen werden.
Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier: 20. Dezember 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
2.
Streitig und zu prüfen ist die Bemessung des Integritätsschadens im Falle einer Kniegelenkstotalprothese. Während diese gemäss angefochtenem Entscheid auf der Grundlage des unkorrigierten, nicht behandelten somatischen Gesundheitszustandes vorzunehmen ist, vertritt die SUVA den Standpunkt, der Integritätsschaden müsse deutlich niedriger ausfallen, wenn - wie im vorliegenden Fall - mit der Endoprothese die mechanische Fortbewegungsmöglichkeit wiederhergestellt werden könne.
3.
In einem in RKUV 2001 Nr. U 445 S. 555 publizierten Urteil hat das Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, dass die Bemessung des Integritätsschadens bei Funktionsausfall oder Gebrauchsunfähigkeit eines Organs auch bei der Versorgung mit Endoprothesen - wie bei der Versorgung mit Hilfsmitteln (Ziff. 1 Abs. 4 des Anhangs 3 zur UVV; vgl. dazu BGE 115 V 149 Erw. 3a) - nach dem unkorrigierten Zustand zu erfolgen hat. Es begründete dies damit, dass die Integritätsentschädigung den körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als solchen ausgleiche und nicht dessen Auswirkungen auf die Lebensfunktionen und die allgemeine Lebensgestaltung. Aus diesem Grunde sei auch bei Funktionsausfall oder Gebrauchsunfähigkeit eines Organs nicht zu unterscheiden zwischen der Korrektur mit Hilfsmitteln oder dem Ausgleich mit implantierten Prothesen. Es sei unerheblich, dass der Integritätsschaden durch eine implantierte Prothese unter Umständen so weit ausgeglichen werden könne, dass praktisch keine Beeinträchtigung in der entsprechenden Lebensfunktion mehr bestehe.
4.
4.1 In Anwendung dieser von der Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis, dass beim Versicherten ein allfälliger Ausgleich mittels einer Knietotalprothese nicht berücksichtigt werden dürfe, weshalb die Integritätseinbusse durch die schwere Pangonarthrose, deren Vorliegen unbestritten sei, auf (brutto) 30-40 % zu veranschlagen sei. Angesichts der dokumentierten Einschränkungen erscheine ein Mittelwert von (brutto) 35 % als gerechtfertigt, was auch dem Begehren des Versicherten entspreche. Zur Schätzung des neurechtlichen (Netto)Integritätsschadens und zu neuer Verfügung sei die Sache an die SUVA zurückzuweisen.
4.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kritisiert die SUVA, die dem vorinstanzlichen Entscheid zugrunde liegende Rechtsprechung stehe in Widerspruch mit dem Zweckgedanken und dem Charakter der Integritätsentschädigung - einen Ausgleich zu bieten für körperliche Schmerzen, Leid, verminderte Lebensfreude, Beeinträchtigung des Lebensgenusses und ähnliche Ursachen seelischen Unbehagens. Deren Anwendung im vorliegenden Fall werde dem Gleichbehandlungsgebot insofern nicht gerecht, als offensichtlich sei, dass der Versicherte, welcher mit der Einpflanzung einer Knietotalprothese die mechanische Fortbewegungsmöglichkeit zu einem nennenswerten Prozentsatz zurückerhalte und eine deutliche Verminderung der Beschwerden erfahre, gegenüber einem Versicherten, der sich wegen Operationskontraindikationen (kardialer oder pulmonaler Art) einem Endoprothesen-Eingriff nicht unterziehen könne, in seinem Lebensgenuss sowie in seinem seelischen Befinden ungleich weniger schwer beeinträchtigt werde. Könne - wie vorliegend - mit einer Endoprothese die mechanische Fortbewegungsmöglichkeit der linken unteren Extremität wiederhergestellt werden, so dass die Gebrauchsfähigkeit des linken Beins dem Beschwerdegegner zu einem nennenswerten Prozentsatz wiederverschafft werden könne, müsse der Integritätsschaden deutlich niedriger ausfallen, als wenn er sein Bein wegen der hohen Schmerzbelastung überhaupt nicht mehr einsetzen, nicht mehr grosse Wegstrecken zurücklegen oder sich nur noch im Rollstuhl oder mittels Stöcken fortbewegen könnte. Da Endoprothesen gemäss ausdrücklichem Willen des Verordnungsgebers keine Hilfsmittel darstellten, gehe es nicht an, den Gesetzeswortlaut ohne tieferen sachlichen Grund ausdehnend zu interpretieren und mit Bezug auf die Bemessung der Integritätsentschädigung Endoprothesen wie Hilfsmittel zu behandeln.
4.3 Eine Änderung der Rechtsprechung lässt sich gegenüber dem Postulat der Rechtssicherheit grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (BGE 125 V 206 Erw. 2, 124 V 124 Erw. 6a, 387 Erw. 4c, je mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt:
Entgegen der Auffassung der SUVA widerspricht das Abstellen auf den unkorrigierten Zustand keineswegs dem Charakter der Integritätsentschädigung, sondern trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass die Integritätsentschädigung - worauf das Eidgenössische Versicherungsgericht bereits im erwähnten Grundsatzfall hingewiesen hat - den körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als solchen ausgleicht und nicht dessen Auswirkungen auf die Lebensfunktionen und die allgemeine Lebensgestaltung (vgl. auch BGE 115 V 149 Erw. 3a). Ebenso wenig kann der SUVA sodann beigepflichtet werden, soweit sie eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebotes erblickt, ändert doch die Implantation einer Prothese, welche die verlorene Gesundheit stets nur behelfsmässig wiederherstellen kann, nichts am Gesundheitsschaden als solchem und müsste andernfalls auch bei den Hilfsmitteln auf dieselbe Weise argumentiert werden. Nicht gefolgt werden kann der SUVA schliesslich auch, soweit sie triftige Gründe verneint, Endoprothesen mit Bezug auf die Bemessung der Integritätsentschädigung wie Hilfsmittel zu behandeln. Denn für die Festsetzung der Integritätsentschädigung kann nicht entscheidend sein, ob vom medizinischen Standpunkt her eine Endoprothese (welche ins Körperinnere verbracht wird) oder ein Hilfsmittel (welches ohne strukturelle Änderung abgelegt und wieder verwendet werden kann) in Frage kommt, weil es sich - anders als die SUVA anzunehmen scheint - nicht in jedem Fall so verhält, dass eine endoprothetische Versorgung den Gesundheitsschaden besser auszugleichen vermag als die Abgabe eines Hilfsmittels.
4.4 Zu Recht nicht beanstandet wird schliesslich, dass die Vorinstanz die Sache zur intertemporalrechtlichen Festsetzung der Integritätsentschädigung unter Berücksichtigung des auf die Zeit vor Inkrafttreten des UVG am 1. Januar 1984 entfallenden Anteils des Integritätsschadens (vgl. Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG; RKUV 1993 Nr. U 157 S. 24 Erw. 3), d.h. zur Ermittlung des sog. Nettoschadens, an die SUVA zurückgewiesen hat.
4.5 Bei diesem Verfahrensausgang ist rechtens, dass die Vorinstanz dem Beschwerdegegner für den kantonalen Prozess eine Parteientschädigung zugesprochen hat.
5.
Da es um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren kostenlos (Art. 134 OG).
Dem anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner ist eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG), welche allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen hat, dass der Vertretungsaufwand im Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren vergleichsweise gering war (Aktenstudium und Mitteilung des Verzichts auf die Einreichung einer begründeten Vernehmlassung).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die SUVA hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 200.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 4. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: