BGer H 155/2003
 
BGer H 155/2003 vom 25.08.2003
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
H 155/03
Urteil vom 25. August 2003
I. Kammer
Besetzung
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Meyer, Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiber Nussbaumer
Parteien
Ausgleichskasse des Kantons Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug, Beschwerdeführerin,
gegen
S.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Bühler, Zollikerstrasse 141, 8008 Zürich
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug
(Entscheid vom 27. März 2003)
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 16. Januar 2002 verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Zug S.________ als ehemaligen einzigen Verwaltungsrat der am 6. Oktober 2000 in Konkurs gefallenen Firma X.________AG mit Sitz in Y.________ zur Leistung von Schadenersatz in Höhe von Fr. 16'170.10 für entgangene paritätische Sozialversicherungsbeiträge. Mit Schreiben vom 1. Februar 2002 zeigte der Rechtsvertreter von S.________ der Ausgleichskasse die Vertretung an und ersuchte um Zustellung der Akten. Überdies teilte er mit, er sei der Ansicht, die Schadenersatzverfügung sei zu Unrecht ergangen, da der Hauptverantwortliche in dieser Angelegenheit nicht sein Klient, sondern eine Drittperson sei, und da die einjährige Verwirkungsfrist längst abgelaufen sei. Am 5. Februar 2002 stellte die Ausgleichskasse dem Rechtsvertreter die gewünschten Akten zu. Mit Eingabe vom 12. Februar 2002 liess S.________ die Aufhebung der Schadenersatzverfügung beantragen. Am 18. Februar 2002 reichte sein Rechtsvertreter weitere Unterlagen ein.
B.
Am 8. März 2002 reichte die Ausgleichskasse Klage mit dem Antrag ein, S.________ sei zu Schadenersatz in verfügtem Umfang zu verpflichten. Mit Entscheid vom 27. März 2003 trat das Verwaltungsgericht des Kantons Zug auf die Klage nicht ein.
C.
Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde unter Erneuerung des vorinstanzlich gestellten Antrages. Eventuell sei die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides zur materiellen Behandlung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
S.________ und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (vgl. BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis).
2.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
3.
3.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im AHV-Recht, insbesondere auch hinsichtlich der Arbeitgeberhaftung nach Art. 52 AHVG geändert sowie Art. 81 und 82 AHVV aufgehoben worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1, 126 V 166 Erw. 4b), kommen im vorliegenden Fall jedoch die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen zur Anwendung. Dies trifft umso mehr zu, als es zu beurteilen gilt, ob die Schadenersatzklage vom 8. März 2002 rechtzeitig erfolgt ist.
3.2 Das Verfahren zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gemäss Art. 52 AHVG ist in Art. 81 AHVV (in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung) geregelt. Nach diesem Artikel wird der Ersatz eines vom Arbeitgeber verschuldeten Schadens von der Ausgleichskasse mit eingeschriebenem Brief verfügt, wobei auf die Einspruchsmöglichkeit ausdrücklich aufmerksam zu machen ist (Abs. 1). Gegen die Schadenersatzverfügung kann der Arbeitgeber innert 30 Tagen seit ihrer Zustellung bei der Ausgleichskasse Einspruch erheben (Abs. 2). Besteht die Ausgleichskasse auf der Schadenersatzforderung, so hat sie bei Verwirkungsfolge innert 30 Tagen seit Kenntnis des Einspruches bei der Rekursbehörde des Kantons, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat, schriftlich Klage zu erheben. Die Kantone regeln das Verfahren im Rahmen der Bestimmungen, die sie gemäss Art. 85 AHVG zu erlassen haben (Abs. 3).
4.
Streitig und zu prüfen ist, wann die Beschwerde führende Ausgleichskasse "Kenntnis des Einspruches" im Sinne von Art. 81 Abs. 3 AHVV hatte und zu welchem Zeitpunkt die 30-tägige Frist zur Einreichung der Schadenersatzklage zu laufen begann.
4.1 Bei den Fristen des Art. 81 AHVV handelt es sich um gesetzliche Fristen, die grundsätzlich nicht erstreckbar sind. Bei der Fristberechnung ist der Fristenstillstand nach Art. 22a VwVG zu berücksichtigen (BGE 122 V 65). Läuft die Frist zur Einreichung der Schadenersatzklage nach erfolgtem Einspruch unbenützt ab, sind die Ansprüche der Ausgleichskasse verwirkt (BGE 128 V 90 Erw. 2b mit Hinweisen). Die Ausgleichskasse hat demnach gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV binnen der 30-tägigen Frist darüber zu befinden, ob sie dem Einspruch Folge gibt oder ob sie schriftlich Klage erheben will. Entschliesst sie sich für Letzteres, hat sie eine den Anforderungen von Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG entsprechende Klage auszuarbeiten.
4.2 An Form und Inhalt des Einspruchs stellt Art. 81 Abs. 2 AHVV keine Anforderungen. Ein Einspruch ist auch ohne jegliche Begründung gültig, er muss einzig den klaren Willen, Einspruch zu erheben, enthalten (BGE 128 V 91 Erw. 3b/aa, 117 V 134 Erw. 5; ZAK 1991 S. 364; Marlis Knus, Die Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers in der AHV, Diss. Zürich 1989 S. 80). Wendungen wie "ich erhebe Einspruch", "ich lehne die Schadenersatzforderung ab" genügen. Der Einspruch ist mithin mit dem Rechtsvorschlag in der Betreibung vergleichbar (Thomas Nussbaumer, Die Ausgleichskasse als Partei im Schadenersatzprozess nach Artikel 52 AHVG, in ZAK 1991 S. 435). Er stellt keine Einsprache im Rechtssinne dar (Jean-Maurice Frésard, La responsabilité de l'employeur pour le non-paiement de cotisations d'assurances sociales selon l'art. 52 LAVS, in: SVZ 55/1987 S. 15 N 18).
4.3
4.3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, nach der Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts seien die Anforderungen an einen Einspruch gemäss Art. 81 Abs. 2 AHVV nicht hoch. Der Einspruch könne nicht von der Einhaltung einer Form abhängig gemacht werden und er sei sogar in mündlicher Form zulässig. Dem Einspruch müsse lediglich der klare Wille entnommen werden können, dass der Verfügungsadressat Einspruch erheben wolle. Das Schreiben des Rechtsvertreters vom 1. Februar 2002 genüge den Anforderungen an einen Einspruch im genannten Sinne. Ihm sei klar zu entnehmen, dass sich der Absender gegen die gegen ihn erlassene Schadenersatzverfügung zur Wehr setzen wolle. Dass im erwähnten Schreiben weitere Eingaben angekündigt worden seien, und hernach am 12. Februar 2002 in der Tat eine weitere Rechtsschrift mit Antrag und Begründung eingereicht worden sei, führe nicht dazu, dass das erste Schreiben unbeachtlich hätte bleiben können. Die Ausgleichskasse sei im Umgang mit Einsprüchen geübt und kenne die höchstrichterliche Praxis. Erhalte sie binnen der Einspruchsfrist mehrere Schreiben, die definitionsgemäss als Einsprüche zu qualifizieren seien, sei sie gehalten, sich hinsichtlich der Fristberechnung am ersten dieser Schreiben zu orientieren. Da die Eingabe vom 1. Februar 2002 als Einspruch zu werten sei, müsse die Klage vom 8. März 2002 als verspätet gelten und der Anspruch auf Schadenersatz nach Art. 52 AHVG sei verwirkt.
4.3.2 Demgegenüber macht die Ausgleichskasse geltend, aus dem Schreiben vom 1. Februar 2002 gehe bei objektiver Betrachtung klar hervor, dass damit noch kein Einspruch habe erhoben werden wollen. Entsprechend werde darin um "umgehende Zustellung der Akten" gebeten und es werde darin ausgeführt, dass "eine Frist in dieser Angelegenheit läuft". Demnach habe es sich erst bei der Eingabe vom 12. Februar 2002 um den massgeblichen Einspruch gehandelt und die Frist habe erst dann zu laufen begonnen. Mit dem Einwand, dies sei bereits am 1. Februar 2002 der Fall gewesen, verhalte sich der Beschwerdegegner widersprüchlich und verstosse damit gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.
4.4
4.4.1 Zwar erfüllt die Eingabe des Beschwerdegegners vom 1. Februar 2002 für sich allein betrachtet die genannten Anforderungen an einen Einspruch. Indessen darf in Anbetracht des Umstandes, dass die Ausgleichskasse innert der nicht erstreckbaren Frist des Art. 81 AHVV eine gültige Klage einzureichen hat, erwartet werden, dass diese Frist erst dann zu laufen beginnt, wenn die Ausgleichskasse klare Kenntnis vom Einspruch des Arbeitgebers oder dessen Organ hat. Dies gilt umso eher, als ihre Ansprüche nach Ablauf der Frist verwirken. Wann die Ausgleichskasse ausreichende Kenntnis hat, ist nach objektiven Gesichtspunkten unter Zuhilfenahme der üblichen Auslegungskriterien und des Grundsatzes von Treu und Glauben zu entscheiden.
4.4.2 Im vorliegenden Fall wurde der Ausgleichskasse mit Eingabe vom 1. Februar 2002 das Vertretungsverhältnis zwischen dem Beschwerdegegner und seinem Anwalt mitgeteilt, es wurde um Akteneinsicht ersucht und überdies der Meinung Ausdruck verliehen, die Schadenersatzverfügung sei zu Unrecht ergangen. Wörtlich wird in diesem Schreiben ausgeführt:
"Ich ersuche Sie höflich um umgehende Zustellung der Akten, da mir eine Frist in dieser Angelegenheit läuft, ...".
Die letztgenannte Wendung konnte von der Ausgleichskasse nur in dem Sinne verstanden werden, dass mit der Eingabe vom 1. Februar 2002 selber noch kein Einspruch im Sinne von Art. 81 Abs. 2 AHVV erhoben werden wollte. Hätte der Rechtsvertreter des Beschwerdegegners seine Eingabe als Einspruch verstanden, wäre ihm selbstredend keine Frist mehr gelaufen. Gerade dies hat er aber in seinem Schreiben erwähnt. Die Ausgleichskasse durfte von dieser Einschätzung ausgehen. Dies auch deshalb, weil der Vertreter Akteneinsicht verlangte und ausdrücklich festhielt, seine Ausführungen erfolgten vor dem Aktenstudium. Für die Ausgleichskasse bestanden daher Anhaltspunkte, der Vertreter des Beschwerdegegners werde sich nach dem Studium der Akten entscheiden, ob er Einspruch erheben wolle oder darauf verzichte. Von einem Rechtsvertreter kann ohnehin erwartet werden, dass er sich erst nach dem Aktenstudium für oder wider eine Rechtsvorkehr entscheidet, soweit ihn nicht eine Frist zu sofortigem Handeln zwingt. Mit einer weiteren, viel umfassenderen und mit einem klaren Antrag und einer ausführlichen Begründung enthaltenen Eingabe vom 12. Februar 2002 wandte sich denn auch der Vertreter des Beschwerdegegners - noch innerhalb der massgeblichen 30−tägigen Frist von Art. 81 Abs. 2 AHVV - an die Ausgleichskasse. Erst zu diesem Zeitpunkt hatte diese daher ausreichend Kenntnis vom klaren Willen des Beschwerdegegners, die Schadenersatzverfügung nicht akzeptieren zu wollen.
4.5 Nach dem Gesagten begann somit die Frist von 30 Tagen gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV erst seit Kenntnis der Eingabe vom 12. Februar 2002 zu laufen. Damit hat die Ausgleichskasse ihre Schadenersatzklage vom 8. März 2002 rechtzeitig eingereicht. Die Sache geht daher an das kantonale Gericht zurück, damit es, soweit es die Schadenersatzforderung für entgangene bundesrechtliche Beiträge betrifft, auf die Klage eintrete und materiell darüber entscheide.
5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdegegner kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario in Verbindung mit Art. 156 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, wird der vorinstanzliche Entscheid vom 27. März 2003 aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug zurückgewiesen, damit es auf die Schadenersatzklage, soweit es um entgangene bundesrechtliche Beiträge geht, eintrete und darüber entscheide.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 1400.- wird der Ausgleichskasse des Kantons Zug zurückerstattet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 25. August 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: