BGer I 653/2002
 
BGer I 653/2002 vom 10.04.2003
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 653/02
Urteil vom 10. April 2003
IV. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Hadorn
Parteien
A.________, 1991, Beschwerdeführer,
handelnd durch seinen Vater B.________, und dieser vertreten durch Rechtsanwalt Ralph Wiedler Friedmann, Beethovenstrasse 41, 8039 Zürich,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin,
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 16. August 2002)
Sachverhalt:
Mit Verfügung vom 9. August 2001 lehnte die IV-Stelle Zürich ein Gesuch um medizinische Eingliederungsmassnahmen zur Behandlung des Psycho-Organischen Syndroms (POS) von A.________ (geb. 19. Dezember 1991) ab.
Die von A.________ und von der Wincare Versicherungen, Krankenkasse von A.________, dagegen erhobenen Beschwerden wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nach Vereinigung beider Verfahren mit Entscheid vom 16. August 2002 ab.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, die IV-Stelle sei zur Zusprechung medizinischer Massnahmen zu verpflichten.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während die als Mitinteressierte beigeladene Wincare auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch Minderjähriger auf medizinische Massnahmen zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 12 und 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 1 Abs. 1 GgV), namentlich bei einem angeborenen POS (Ziff. 404 GgV Anhang) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 9. August 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung des POS. Dieser hängt davon ab, ob Diagnosestellung und Behandlungsbeginn vor dem vollendeten 9. Altersjahr des Versicherten, somit vor dem 19. Dezember 2000, erfolgt sind.
2.1 Gemäss Bericht vom 14. Dezember 2000 hat Frau Dr. phil. W.________, Fachpsychologin für Neuropsychologie FSP, den Versicherten am 21. November 2000 neuropsychologisch untersucht. Die Besprechung der Testergebnisse mit den Eltern sei am 1. Dezember 2000 und diejenige mit der Schule am 11. Dezember 2000 erfolgt. Frau Dr. W.________ diagnostizierte das POS somit vor dem 9. Altersjahr. Dr. med. F.________, Spezialarzt für Kinder und Jugendliche, untersuchte den Versicherten gemäss Bericht vom 3. Januar 2001 am 22. Dezember 2000, also erst nach dem kritischen Datum, und bestätigte die Diagnose von Frau Dr. W.________. Während die IV-Stelle die Meinung vertrat, nur ein Arzt oder eine Ärztin könne die Diagnose rechtsgültig stellen, liess die Vorinstanz diese Frage offen, da jedenfalls die Behandlung nicht rechtzeitig begonnen habe.
2.2 Frau S.________, Psychotherapeutin SPV, dipl. Kinder-/Jugendpsychotherapeutin SGST, führt im Bericht vom 8. Oktober 2001 aus, sie behandle den Versicherten seit dem 26. Oktober 1998. Bei Therapiebeginn hätten ein emotionaler Reiferückstand, eine neurotische Störung mit narzisstischer Problematik sowie Hinweise auf Abwehr einer kindlichen Depression vorgelegen. Mit zunehmendem Vertrauensaufbau seien Hinweise auf Teilleistungsstörungen im psychomotorischen und neuropsychologischen Bereich beobachtbar geworden, und damit sei die Hypothese POS mit sekundären, massiven neurotischen Überlagerungen gereift.
2.3 Aus dem Bericht der Therapeutin ergibt sich, dass sich die Behandlung am Anfang nicht auf ein POS gerichtet hat. Die "Hypothese" eines solchen Leidens hat sich erst im Laufe der Zeit aufgedrängt. Dass wirklich ein POS vorlag, stand aber erst mit gestellter Diagnose fest. Danach wurde die Behandlung denn auch eigens auf das POS ausgerichtet: Gemäss Bericht von Frau Dr. W.________ vom 14. Dezember 2000 sei eine individuell angepasste Sonderschulung wichtig. Zusätzlich müssten die Wahrnehmungsstörungen angegangen werden. Dabei sei es sinnvoll, die Wahrnehmungstherapie in die bereits laufende Psychotherapie zu integrieren. Laut Bericht von Dr. F.________ vom 3. Januar 2001 ist sodann eine Behandlung mit Ritalin hinzugekommen.
2.4 Nach dem Gesagten ergibt sich, dass wohl vor dem kritischen 9. Geburtstag bereits Behandlungen stattgefunden haben, die auch bei einem POS ins Auge gefasst werden können. Indessen mussten diese Therapien nach Feststellung der Diagnose ergänzt werden. Dass die entsprechenden Umstellungen und Ergänzungen noch vor dem 19. Dezember 2000 begonnen hätten, wird nicht geltend gemacht. Deshalb ist die Leistungsvoraussetzung des rechtzeitigen Behandlungsbeginns nicht erfüllt. Was hiegegen vorgebracht wird, hat zwar einiges für sich, doch hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in den jüngsten zum POS ergangenen Urteilen wiederholt betont, dass es aus Gründen der Rechtssicherheit nicht angeht, die Begriffe der rechtzeitigen Diagnose und des rechtzeitigen Behandlungsbeginns aufzuweichen (AHI 2002 S. 61 Erw. 1b; Urteil A. vom 13. Januar 2003, I 362/02, mit Hinweisen). Damit kann offen bleiben, ob die rechtzeitig gestellte Diagnose von Frau Dr. W.________ massgebend ist, oder ob es eine solche eines Arztes oder einer Ärztin braucht. Denn so oder anders hat die Behandlung nicht rechtzeitig begonnen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Wincare Versicherungen, Winterthur, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 10. April 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der IV. Kammer Der Gerichtsschreiber: