Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.634/2002 /mks
Urteil vom 17. März 2003
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Ersatzrichterin Geigy-Werthemann,
Gerichtsschreiber Störi.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer,
gegen
A. Pfeiffer, Einzelrichterin in Strafsachen, Bezirksgericht Zürich, Wengistrasse 28, 8004 Zürich,
Beschwerdegegnerin,
Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, Postfach, 8023 Zürich.
Gegenstand
Art. 30 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Strafverfahren; Ausstand),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 23. Oktober 2002.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 9. August 2001 bestrafte der Polizeirichter der Stadt Zürich Rechtsanwalt Dr. X.________ mit einer Busse von Fr. 100.--, zuzüglich Verfahrenskosten, wegen Missachtung des Vorschriftssignals "Wenden verboten", begangen als Lenker seines Personenwagens am 7. Februar 2001 um 18 Uhr an der Limmatstrasse in Zürich. X.________ erhob dagegen Einsprache und verlangte gerichtliche Beurteilung. Eingangs der Hauptverhandlung vom 11. Juni 2002 erklärte die Einzelrichterin A. Pfeiffer, sie hätten die Akten studiert und seien eher überrascht, dass der Einsprecher die Einsprache nicht zurückgezogen habe. Nach durchgeführter Verhandlung, aber vor der Urteilseröffnung, stellte X.________ einen Befangenheitsantrag mit dem Begehren, der Fall sei einem andern Einzelrichter zuzuteilen. Die Einzelrichterin nahm den Antrag entgegen. Sie erkannte den Einsprecher der Übertretung von Verkehrsvorschriften im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 SVG und Art. 27 Abs. 1 SSV schuldig, bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 100.-- und auferlegte ihm die Verfahrenskosten.
B.
Gegen dieses Urteil erhob X.________ kantonale Nichtigkeitsbeschwerde. Am 3. Juli 2002 leitete die Einzelrichterin den Befangenheitsantrag von X.________ an die Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich weiter. Mit Beschluss vom 11. September 2002 trat diese auf das Ablehnungsbegehren nicht ein mit der Begründung, wenn ein kantonales Rechtsmittel erhoben worden sei, habe die Rechtsmittelinstanz über das Ablehnungsbegehren zu befinden. Mit Beschluss vom 23. Oktober 2002 wies die III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich das Ablehnungsbegehren sowie die Nichtigkeitsbeschwerde von X.________ ab.
C.
X.________ hat am 2. Dezember 2002 staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht mit den Anträgen, der Beschluss der III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich wie auch der Entscheid der Einzelrichterin am Bezirksgericht Zürich vom 11. Juni 2002 seien aufzuheben. Er beruft sich auf Art. 30 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK und macht geltend, der erstinstanzliche Entscheid sei unter Verletzung seines Anspruchs auf einen unbefangenen Richter zustande gekommen. Mit ihrer vor der mündlichen Hauptverhandlung vom 11. Juni 2002 gemachten Äusserung habe die Einzelrichterin, ohne die Argumente der Verteidigung zu kennen, zum Ausdruck gebracht, dass sie die Einsprache für aussichtslos halte, was sie als befangen erscheinen lasse.
D.
Die III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich hat auf eine Stellungnahme verzichtet. Die Einzelrichterin hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit einer staatsrechtlichen Beschwerde von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 127 I 92 E. 1 S. 93; 125 I 253 E. 1 a S. 254).
1.1 Die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde richtet sich sowohl gegen den Beschluss der III. Strafkammer des Obergerichts als auch gegen den Entscheid der Einzelrichterin vom 11. Juni 2002. Mit staatsrechtlicher Beschwerde kann in der Regel nur der letztinstanzliche kantonale Hoheitsakt angefochten werden (Art. 86 Abs. 1 und Art. 87 OG ). Der Entscheid einer unteren Instanz kann nur mitangefochten werden, soweit die letzte kantonale Rechtsmittelinstanz nicht alle Fragen, die Gegenstand der staatsrechtlichen Beschwerde bilden, mit gleicher Überprüfungsbefugnis wie das Bundesgericht beurteilen konnte (BGE 126 II 377 E. 8b).
1.2 Der Beschwerdeführer beruft sich ausschliesslich auf Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Ob der durch diese Bestimmungen gewährleistete Anspruch auf einen unbefangenen und unparteiischen Richter verletzt ist, prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 117 Ia 157 E. 1 a S. 159; 115 Ia 34 E. 2a S. 36, mit Hinweis). Gemäss § 101 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes des Kantons Zürich (GVG) entscheidet über ein streitiges Ausstandsbegehren die Aufsichtsbehörde. Aufsichtsbehörde über die Bezirksgerichte und deren Mitglieder ist gemäss § 106 GVG das Obergericht. Die III. Strafkammer des Obergerichts hat den Befangenheitsantrag des Beschwerdeführers gegen die Einzelrichterin zwar im Rechtsmittelverfahren behandelt. Es hat dies aber vorab und mit freier Kognition getan. Damit konnte die III. Strafkammer des Obergerichts die Frage der Befangenheit der Einzelrichterin mit gleicher Überprüfungsbefugnis beurteilen wie das Bundesgericht. Soweit sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde auch gegen den Entscheid der Einzelrichterin richtet, ist somit nicht darauf einzutreten.
2.
Nach der materiell unverändert von Art. 58 aBV in Art. 30 Abs. 1 BV überführten, gleichermassen in Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltenen Garantie des verfassungsmässigen Richters hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Nach Doktrin und Praxis reicht die Garantie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht über die Anforderungen an den verfassungsmässigen Richter nach Art. 58 aBV beziehungsweise Art. 30 Abs. 1 BV hinaus. Diesbezüglich decken sich Gehalt und Grundanliegen der Bundesverfassung und der Konvention: Es soll kein Richter Recht sprechen, der nicht hinreichende Gewähr für Unparteilichkeit, Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit bietet. Liegen bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit begründen, so ist die Garantie verletzt (BGE 127 I 196 E. 2b S. 198, mit Hinweisen). Mit der Garantie des verfassungsmässigen Richters soll vermieden werden, dass ausserhalb des Falles liegende Umstände das Urteil zugunsten oder zuungunsten einer Partei beeinflussen können. Sie gebietet den Ausstand nicht nur, wenn eine tatsächliche Befangenheit des Richters erwiesen ist, denn eine innere Neigung ist kaum beweisbar. Es genügt, dass die Umstände den Anschein der Voreingenommenheit bieten und eine parteiische Tätigkeit befürchten lassen (BGE 125 I 119 E. 3a S. 122). Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller oder organisatorischer Art begründet sein (BGE 124 I 121 E. 3a S. 123, mit Hinweisen). Bei der Gewichtung solcher Umstände kann jedoch nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abgestellt werden; das Misstrauen in den Richter muss vielmehr in objektiver Weise als begründet erscheinen (BGE 120 Ia 184 E. 2b; 119 Ia 221 E. 3 S. 226, mit Hinweisen).
3.
Der Beschwerdeführer stützt seinen Befangenheitsantrag nicht auf äussere Gegebenheiten, sondern auf das anlässlich der Hauptverhandlung vom 11. Juni 2002 von der Einzelrichterin einleitend zum Ausdruck gebrachte Erstaunen, dass der Beschwerdeführer seine Einsprache gegen die Bussenverfügung vom 9. August 2001 nicht zurückgezogen hatte. Es stellt sich somit die Frage, ob die Einzelrichterin mit ihrer Bemerkung objektiv den Anschein vermittelt hat, dass sie nicht bereit sei, den entlastenden Tatsachen gleichermassen nachzugehen wie den belastenden, sondern sich zu früh auf einen Schuldspruch festgelegt hatte.
4.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Partei vor allem dann berechtigt, den Anschein der Befangenheit zu rügen, wenn der Richter durch Äusserungen vor oder während des Prozesses den Schluss zulässt, dass er sich schon eine Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet hat (BGE 125 I 119 E. 3a S. 122, mit Hinweis). Der Beschwerdeführer beruft sich in diesem Zusammenhang auf ein nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 10. Januar 2002 (1 P.506/2001), in welchem das Bundesgericht die auf Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK gestützte staatsrechtliche Beschwerde gutgeheissen hat. Der zuständige Bezirksrichter hatte einem Fahrzeuglenker, dem vorgeworfen wurde, bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h mit einer Geschwindigkeit von 154 km/h gefahren zu sein, eine Vorladung zugestellt, welche den Vermerk enthielt, die vorgesehene Busse betrage Fr. 1'600. zuzüglich Fr. 150.-- Kosten, wobei der Verzeigte bei Bezahlung der Busse und der Kosten vor der Verhandlung vom Erscheinen dispensiert sei. Aus diesem Angebot, die Sache durch die Überweisung eines vorgeschlagenen Bussenbetrags und der Kosten gewissermassen aussergerichtlich zu erledigen, konnte der Verzeigte nach der Ansicht des Bundesgerichts befürchten, dass die Sache in Wirklichkeit bereits entschieden sei.
5.
5.1 Der vorliegende Fall ist damit nicht vergleichbar. Mit ihrer einleitenden Bemerkung, sie seien "eher erstaunt", dass er seine Einsprache nicht zurückgezogen habe, hat die Einzelrichterin keine Aussage über den voraussichtlichen Ausgang des Verfahrens gemacht. Die Bemerkung kann ohne weiteres dahin verstanden werden, dass die Einzelrichterin ihrem Interesse Ausdruck geben wollte zu erfahren, was der Einsprecher zu seiner Verteidigung vorbringen würde. Es mag zwar zutreffen, dass die Einzelrichterin aufgrund des vor der Verhandlung durchgeführten Aktenstudiums den Eindruck gewonnen hatte, die Erfolgsaussichten der Einsprache seien voraussichtlich nicht besonders gut. Damit befand sich die Einzelrichterin aber in einer Situation, die derjenigen eines Referenten vergleichbar ist, wobei der Referent seine der Verhandlung vorausgehende Beurteilung zudem in einem schriftlichen Referat festgelegt hat. Trotzdem wird das sogenannte Referentensystem unter dem Gesichtspunkt von Art. 58 aBV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK als zulässig betrachtet (vgl. Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5. Aufl. Basel/ Genf/München 2002, Rz 5 zu § 30). Dem Referenten beziehungsweise dem Einzelrichter kann es nicht verwehrt sein, sich aufgrund der Akten bereits eine (vorläufige) Meinung zu bilden, solange er nur innerlich frei ist, aufgrund der in der Verhandlung vorgetragenen Argumente und der aufgenommenen Beweise zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Auch der Instruktionsrichter, der nach einer ersten Überprüfung eines Falles ein Kostenerlassgesuch wegen Aussichtslosigkeit des betreffenden Rechtsbehelfs abweist, gilt in der Regel nicht als befangen. Die Garantie auf einen unbefangenen Richter ist nur dann als verletzt anzusehen, wenn der Richter durch eine Äusserung oder durch ein Verhalten den Anschein erweckt, er habe sich bereits so festgelegt, dass hieran weder die Argumente der Verteidigung noch das Beweisergebnis etwas zu ändern vermöchten. Das Bundesgericht hat daher in einem Fall die Garantie auf einen unbefangenen Richter als verletzt angesehen, in dem der zuständige Gerichtspräsident die Vornahme eines Augenscheins von vorneherein mit der Begründung abgelehnt hatte, seiner Ansicht nach würde eine massive Geschwindigkeitsüberschreitung niemals den bedingten Strafvollzug rechtfertigen. Die Freiheit, im Verlauf des Verfahrens zu einer anderen als der gefassten Meinung zu gelangen, erscheint ferner dann in besonderem Masse als eingeschränkt, wenn Äusserungen über den mutmasslichen Ausgang eines Prozesses gegenüber Dritten, insbesondere gegenüber der Presse, gemacht werden, da in diesem Fall ein "Umschwenken" besonders schwierig ist (vgl. die Beispiele in BGE 115 Ia 180 E. 3b/bb).
5.2 Im vorliegenden Fall erscheint die Äusserung der Einzelrichterin bei objektiver Betrachtung nicht als derart, dass sie geeignet gewesen wäre, beim Beschwerdeführer den Eindruck zu erwecken, sie habe sich bereits auf einen Schuldspruch festgelegt. Dem Umstand, dass die Einzelrichterin bei ihrer Bemerkung die "wir" Form verwendete, ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers keine massgebliche Bedeutung zuzumessen. Jedenfalls kann daraus nicht geschlossen werden, dass der Äusserung eine Besprechung des Falles zwischen der Einzelrichterin und dem Gerichtsschreiber vorausgegangen ist, mit dem Ergebnis, dass die Einsprache als von vorneherein aussichtslos eingestuft und entsprechend abgesprochen wurde.
6.
Im Interesse einer beförderlichen Rechtspflege ist im Zusammenhang mit Ausstandsbegehren gegen Justizbeamte eine Befangenheit nicht leichthin anzunehmen (BGE 127 I 196 E. 2d S. 199; 114 Ia 153 E. 3 S. 156). Wohl wäre, wie das Bundesgericht im zuletzt zitierten Entscheid festgehalten hat, angesichts der Bedeutung des Anspruchs auf einen unparteiischen und unabhängigen Richter eine allzu restriktive Auslegung und Anwendung der entsprechenden Garantien nicht zu vertreten. Im vorliegenden Fall erscheint durch die vom Beschwerdeführer beanstandete Äusserung der Einzelrichterin Art. 30 Abs. 1 BV jedoch nicht als verletzt. Die Ablehnung des Ausstandsbegehrens durch die kantonalen Instanzen beruht hier nicht auf einer allzu restriktiven Auslegung von Art. 30 Abs. 1 BV.
7.
Zusammenfassend erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde als unbegründet. Sie ist daher abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Bei diesem Ausgang hat der Beschwerdeführer die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2`000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 17. März 2003
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: