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Original
 
[AZA 7]
I 115/00 Gi
IV. Kammer
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger;
Gerichtsschreiberin Keel
Urteil vom 7. März 2001
in Sachen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
B.________, 1970, Beschwerdegegner,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
A.- Der 1970 geborene B.________ erlitt im Kleinkindalter einen Unfall, in dessen Folge ihm der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Die Invalidenversicherung erbrachte Leistungen und kam insbesondere für die erforderliche Unterschenkelprothese auf.
Auf ein im Januar 1999 eingereichtes Gesuch hin sprach die IV-Stelle Luzern dem Versicherten eine neue Prothese als Hilfsmittel zu. Mit Verfügung vom 5. Mai 1999 verneinte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente und lehnte das Begehren um Kostengutsprache für physiotherapeutische Massnahmen ab.
B.- Die von B.________ mit dem Antrag auf Übernahme der Kosten für Physiotherapie erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 5. Januar 2000 in dem Sinne gut, als es die Verwaltungsverfügung, soweit sie die Physiotherapie betrifft, aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die IV-Stelle die Aufhebung des kantonalen Entscheides beantragen.
Während B.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung deren Gutheissung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- a) Im angefochtenen Entscheid werden die massgebenden Bestimmungen über den vorliegend allein streitigen Anspruch auf medizinische Massnahmen physiotherapeutischer Art (Art. 12 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 2 Abs. 1 IVV) zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden.
b) Art. 12 IVG bezweckt namentlich, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 81 Erw. 1, 102 V 41 f.).
Das Gesetz umschreibt die Vorkehren medizinischer Art, welche von der Invalidenversicherung nicht zu übernehmen sind, mit dem Rechtsbegriff "Behandlung des Leidens an sich". Wo und solange labiles pathologisches Geschehen besteht und mit medizinischen Vorkehren angegangen wird, seien sie kausal oder symptomatisch, auf das Grundleiden oder dessen Folgeerscheinungen gerichtet, stellen solche Heilmassnahmen, sozialversicherungsrechtlich betrachtet, Behandlung des Leidens an sich dar. Dem labilen pathologischen Geschehen hat die Rechtsprechung seit jeher im Prinzip alle nicht stabilisierten Gesundheitsschäden gleichgestellt, die Krankheitswert haben. Demnach gehören jene Vorkehren, welche auf die Heilung oder Linderung pathologischen oder sonst wie Krankheitswert aufweisenden Geschehens labiler Art gerichtet sind, nicht ins Gebiet der Invalidenversicherung.
Erst wenn die Phase des (primären oder sekundären) labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen und ein stabiler bzw. relativ stabilisierter Zustand eingetreten ist, kann sich - bei volljährigen Versicherten - überhaupt die Frage stellen, ob eine Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Die Invalidenversicherung übernimmt in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren, sofern sie die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen. Dagegen hat die Invalidenversicherung eine Vorkehr, die der Behandlung des Leidens an sich zuzuzählen ist, auch dann nicht zu übernehmen, wenn ein wesentlicher Eingliederungserfolg vorausgesehen werden kann. Der Eingliederungserfolg, für sich allein betrachtet, ist im Rahmen des Art. 12 IVG kein taugliches Abgrenzungskriterium, zumal praktisch jede ärztliche Vorkehr, die medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen Leben eine entsprechende Verbesserung bewirkt (BGE 120 V 279 Erw. 3a, 115 V 194 Erw. 3, 112 V 349 Erw. 2, 105 V 19 und 149, 104 V 82, 102 V 42; vgl. auch AHI 1999 S. 126 Erw. 2b).
c) Nach der Rechtsprechung richten sich stabilisierende Vorkehren stets gegen labiles pathologisches Geschehen.
Deshalb muss eine kontinuierliche Therapie, die notwendig ist, um das Fortschreiten eines Leidens zu verhindern, als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden. Keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen ist daher ein Zustand, der sich nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht halten lässt, gleichgültig welcher Art die Behandlung sei (BGE 98 V 209). Ein solcher Zustand ist, solange er im Gleichgewicht bewahrt werden kann, wohl stationär, aber nicht im Sinne der Rechtsprechung stabil. Die medizinischen Vorkehren, die zur Aufrechterhaltung des stationären Zustandes erforderlich sind, können daher von der Invalidenversicherung nicht übernommen werden (AHI 1999 S. 127 Erw. 2d mit Hinweisen).
2.- a) In seiner Verordnung zur Physiotherapie vom 5. Juni 1998 stellte Dr. med. K.________, FMH für allgemeine Medizin, die Diagnose "chronisches lumbovertebrales Syndrom, leichte skoliotische Fehlhaltung, leichter Beckenschiefstand (Unterschenkelprothesenträger links) und Trainingsschwäche" und gab an, dass als physiotherapeutische Massnahmen "vor allem aufbauende, kräftigende Gymnastik, Haltungsinstruktion, Rückenhygiene" angezeigt seien.
b) Gestützt hierauf gelangte die IV-Stelle zum Ergebnis, dass die anbegehrte Physiotherapie die Behandlung des Leidens an sich bezwecke, weshalb sie nicht als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne des Art. 12 IVG in Betracht falle. Demgegenüber vertrat die Vorinstanz die Auffassung, die entscheidende Frage, ob die Physiotherapie notwendig sei, um den an sich stabilen Defektzustand der Beinamputation an die neue Prothese zu gewöhnen, oder ob diese allein als Massnahme gegen das Rückenleiden gedacht sei, lasse sich aufgrund der Akten nicht beantworten. Aus diesem Grunde wies sie die Sache an die IV-Stelle zurück, damit sie bei Dr. med. K.________ einen Arztbericht einhole, der über den Sinn und Zweck der angeordneten Physiotherapie im konkreten Fall Auskunft gebe, allenfalls weitere Abklärungen treffe, und hernach über den Leistungsanspruch neu verfüge.
c) Die Beschwerde führende IV-Stelle macht zu Recht geltend, dass sich weitere medizinische Abklärungen erübrigen, weil Dr. med. K.________ in der Verordnung zur Physiotherapie vom 5. Juni 1998 klar zum Ausdruck brachte, dass die Physiotherapie auf das Rückenleiden gerichtet ist, indem er in der Diagnose ausschliesslich die sich hierauf beziehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nannte (chronisches Lumbovertebralsyndrom, leichte skoliotische Fehlhaltung, leichter Beckenschiefstand und Trainingsschwäche) und überhaupt keine Hinweise machte, dass die Massnahme erforderlich sei im Zusammenhang mit der Anpassung an die neue Prothese. Bestätigt wird diese Auffassung schliesslich auch durch die Rechnungen der S.________, Masseur/ Arztgehilfin, vom 9. November 1998 und 4. Januar 1999, in welchen eine Ganzkörper- und Sport-Massage, speziell des Rückens, zur Stabilisierung der Rückenbeschwerden nach Teilamputation des Beines aufgeführt ist.
Unter diesen Umständen steht fest, dass es bei der Therapie primär darum geht, den durch dauernde Fehlhaltung der Wirbelsäule entstandenen Schmerzen durch physiotherapeutische Behandlung vorzubeugen bzw. Linderung zu verschaffen und auf diese Weise den Zustand einigermassen im Gleichgewicht zu halten (vgl. Erw. 1c hievor). Wie das Bundesamt für Sozialversicherung und die IV-Stelle zutreffend darlegen, liegt damit labiles pathologisches Geschehen vor und ist die anbegehrte Therapie invalidenversicherungsrechtlich als Behandlung des Leidens an sich zu bewerten.
Dass die vorgenommene Behandlung sich günstig auf die Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit auswirkt bzw. für die Erhaltung derselben wesentlich ist, wie der Beschwerdegegner sinngemäss einwendet, gibt ebenfalls zu keiner andern Beurteilung Anlass. Denn ein - in der Regel mit jeder Therapie verbundener - Eingliederungserfolg allein ist nicht entscheidend dafür, ob eine medizinische Vorkehr als Eingliederungsmassnahme im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG anerkannt werden kann (dazu Erw. 1b hievor). Damit muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Invalidenversicherung die anbegehrte, an sich zweckmässige und sinnvolle Physiotherapie nicht zu übernehmen hat, indem die Massnahme allenfalls in den Bereich der Krankenversicherung gehört.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
Luzern vom 5. Januar 2000 aufgehoben.
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.
Luzern, 7. März 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer:
Die Gerichtsschreiberin: